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Die Seuche

Eine ungestirnte Nacht.

Zwei vermummte Gestalten durcheilten den äußersten Westen der Stadt, schon jenseits des dritten Walls, und drückten sich eng an die letzte Felswand vor Beginn der Ebene.

Reglos verharrten sie so, an das Gestein geschmiegt, während ihre Herzschläge bang die verrinnende Zeit maßen. Endlich unterbrach etwas das unheimlich lauernde Schweigen, ein Schlürfen, ein schwaches Knistern traf das Ohr, ein rötlicher Schein durchglühte die Finsternis.

»Sie nahen …«

Die beiden verhüllten Gestalten traten noch tiefer in den bergenden Schatten der Felsen. Ein langer Zug bewegte sich langsam von der Stadt her der Ebene zu. Von den Fackeln tropften Feuerfunken auf den hellen Sand, Rauchschwaden wanden sich um die gespensterhaft Dahinschreitenden. Kein Laut, kaum ein Zucken in den vom Fackelschein flüchtig erhellten angstvollen Gesichtern.

Auf den Tragbahren eine dunkle, mit Tüchern bedeckte Masse; immer wieder, immer mehr, in endloser Folge. Der Zug wand sich um die Felsen, steuerte den Pyramiden zu und verschwand zur Linken des Gartens der Toten.

Die beiden vermummten Gestalten folgten dicht hinter dem letzten Paar.

»Es ist Tatsache …«, seufzte es beklommen aus dem Munde der einen.

»Nur zu wahr, dieses große Sterben, von dem der fremden Gäste wegen niemand etwas wissen darf …«

Der Zug mit seiner schrecklichen Last versank in den Gängen der Totenstadt, tief unten im Fels. Nach allen Richtungen hin zweigten Nebenstollen ab, und in allen Nischen, sorgfältig balsamiert, saßen die Toten aus dem Volke, doch die Leichen, die nun in der Stille der Nacht in Mengen hereingeschleppt wurden, fanden keine Nischen. Seitlich im Felsen gähnte eine tiefe Höhle, von Arototec durch Hellsehen entdeckt und freigelegt, und in diese rollte dumpf, in ihre Sterbetücher und Decken gehüllt, Leiche auf Leiche. Nach dem letzten grausigen Aufschlag schüttete Arototecs Diener aus einem Kruge eine Flüssigkeit nach, die einen scharfen, zum Husten reizenden Nebel verbreitete und alle Leute zu raschem Verlassen der Totenstadt zwang.

Wieder gingen, in düsteres Schweigen versunken, hinter dem angstvoll heimhastenden Volke die einsamen Gestalten.

Sobald der Abstand zwischen ihnen und den Leichenträgern etwas größer geworden war, blieb die eine der vermummten Gestalten stehen und warf das verhüllende Tuch ab. Es war Isolanthis.

»O Rotorù«, rief sie klagend, »warum hat Arototec mir all das verschwiegen?«

»Herrin, gewiß nur aus Sorge um dein Wohl. Ich sah vor kurzem einen Sklaven sterben. Diese Seuche ist furchtbar. Der Körper treibt unheimlich auf und wird in schnellster Zeit schon blau. Bisher haben die Ärzte noch kein Heilmittel gefunden, und jeder, den das Übel befällt, erliegt ihm, doch behauptet Arototec, nun etwas zu kennen, was helfen soll. Vier Tage und vier Nächte soll er ununterbrochen gearbeitet haben, ohne Rast, ohne Schlaf, um solch ein Mittel zu entdecken.«

»Woher weißt du all das?«

»Ich trachtete es zu erfahren – um deinetwillen«, entgegnen er, und Isolanthis fühlte, daß er ihr treu ergeben war. »Arototecs Diener teilte es mir mit. Er muß auch das scharfriechende Gift über die Leichen schütten, ehe die Steinplatte über die Höhle gerollt wird.«

»Wo ist Arototec jetzt?«

»Diese Nacht wollte er schlafen, um mit dem grauenden Tag bereit zu sein, die Arznei zu verwenden.«

»Hast du Angst, Rotorù?«

»Mein Herz ist frei von Furcht, soweit es sich um das eigene Leben handelt …«

»So komm! Ich will Arototec auf seiner Runde zu den Kranken begleiten.«

Ehe der Sklave noch einen Einwand zu äußern gewagt hatte, denn er zitterte um das Leben der Prinzessin, kam ihnen der erste Thronratgeber, von seinem Diener begleitet, entgegen. Isolanthis sprach sehr gefaßt ihren Entschluß aus, doch er wies ihr Anerbieten finster ab.

»Mein Platz ist an deiner Seite«, erwiderte sie unbeirrt, »denn ohne mich kann dieses große Sterben kein Ende finden. Sie fürchten dich. Du wirst zwei oder drei aus Furcht veranlassen können, dein Heilmittel zu nehmen, doch all die andern werden ihre Kranken und Sterbenden verbergen, weil sie«, ein schattenhaftes Lächeln umzuckte ihren Mund, »fest davon überzeugt sind, daß du ihnen den Saft eines Toten oder sonst einen verderblichen Zaubertrank einflößen willst. Wenn sie mich sehen, werden sie Mut fassen und uns beiden gehorchen.«

Der Thronratgeber runzelte finster die Brauen. Die Prinzessin hatte recht. Wenn er die höchste Kaste bewahren wollte, an der ihm allein gelegen war, mußte auch das einfache Volk von der Seuche befreit werden, und dabei konnte ihm in der Tat nur Isolanthis helfen. Mißmutig nickte er.

Schweigend schritten sie durch die noch öden Straßen. Hinter dem Schläfer war das Ahnen eines Dämmerns bemerkbar, und die goldene Kuppel des höchsten Turms schimmerte durch das weichende Dunkel. Da trat ihnen unweit des Hauses der Fremden der König der dunklen Erde entgegen.

»Was streifst du herum, o Pharao, wie ein abfallsuchender Tapir in den einsamen Stunden der Nacht?« erkundigte sich der Thronratgeber finster. War man denn nirgends mehr sicher vor diesem Fremden?

Ramon Phtha wollte nicht eingestehen, daß er am Fuße des riesigen Wasserbeckens gesessen und an die Erbprinzessin gedacht hatte. Sehr stolz entgegnete er:

»Ist es in deinem Lande Sitte, die Gäste deines Königs nachts in einen Kerker zu setzen?«

Isolanthis teilte ihm so kurz als tunlich von der herrschenden Seuche mit, und als er sah, daß sie entschlossen war, die Kranken zu besuchen, eilte er in das Haus der Fremden, kleidete sich ganz einfach wie ein Mann aus niederstem Volke, und begleitete hierauf die Erbprinzessin.

Während sie ihn erwartete, befahl Arokotec, die Stirn runzelnd:

»Verbiete diesem Kinde, sich in Gefahr zu begeben! Welchen Zweck hat es, ihn mitgehen und in alles Einblick gewinnen zu lassen?«

»Den Zweck«, erklärte Isolanthis, »daß er lernen muß, wie unentbehrlich ich meinem Volke bin; und auch, damit er die Pflichten eines Königs erkennt.«

Da der erste Thronratgeber diese Ansicht sehr billigte, machte er keine weiteren Schwierigkeiten, und ehe es tagte, hatten sie schon mehrere Häuser betreten und die Schrecken der Seuche wahrgenommen.

»Arototec flößt den Kranken den heilenden Trank ein, ich versuche, ihnen Trost zuzusprechen, und du, Ramanatu, schenk ihnen von deinem Überfluß, so haben wir alle drei unsere Pflicht getan.«

Isolanthis hatte recht.

Ihre Worte bewogen die Leute, die vor dem Thronratgeber scheu zurückwichen, das Mittel zu nehmen, und die Gaben, die der Pharao in reichstem Maße verteilte, linderten Leid und Kummer da, wo ein Retten nicht mehr möglich gewesen war, denn nicht alle Kranken konnten gerettet werden. Noch einmal mußte der nächtliche Zug in langer Reihe zur Totenstadt, doch dann war die Seuche zurückgedämmt. Die eben erst Befallenen konnten dem Tode entrissen werden, doch war es ein bitterer und aufreibender Kampf, nicht nur gegen Übel und Tod, sondern weit öfter gegen Vorurteil und Unwissen. Oft verkrochen sich die Menschen in die fernsten Räume, mußten von Rotorù gesucht und herbeigeführt, von Isolanthis getröstet und überredet, vom jungen Pharao beschenkt werden, ehe sie ihre Kranken brachten oder die Leichen der Verstorbenen wegschaffen ließen. Immer war es die Erbprinzessin, die selbst die Arznei zusammengoß und sie den Leidenden einflößte, denn Arototecs Erscheinen versetzte sie alle in die lähmendste Furcht.

So gingen die vier von Haus zu Haus im dritten Wall, und überall brachte man die von der Seuche Befallenen aus den fernsten Räumen in den üblichen Empfangsraum unweit der Treppe. Hier wurden sie behandelt, dann ging man weiter, und sooft sie ein Haus verließen, hielt Pharao Ramon Phtha der Prinzessin ein Tuch hin, das mit einer Flüssigkeit Arototecs getränkt war und die Gefahr vermindern sollte, und flüsterte ihr voll Angst zu:

»Isolanthis, reib deine Hände fest in dieses Tuch, das ich wieder befeuchtet habe. So entgehst du vielleicht der Ansteckung …«

Und obschon sie selbst furchtlos zu den Verseuchten ging, taten ihr seine angstvoll bittenden Augen so leid, daß sie ihre Hände rieb und rieb.

Rotorù nickte jedesmal still, aber beifällig, und selbst die Blicke des Thronratgebers billigten die Maßnahme.

Die Gesichter wurden schmäler, die Stimmen müder, die Gebärden verrieten äußerste Erschöpfung, aber sie hielten durch, und eines Tages durften sie sich sagen, daß die furchtbare Gefahr abgewendet war.

Ramon Phtha seufzte erleichtert auf, nicht um seinetwillen, sondern weil er mit Schrecken zugesehen hatte, wie rasch die Kräfte der Prinzessin im Schwinden waren. Sie selbst merkte nichts. Sie tat ihre Pflicht, in die Aura ihrer selbstlosen Liebe eingesponnen.


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