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Zwischen Nacht und Morgen

Die Tage der Menschen glichen Wolken, die der Wind der Zeit unerbittlich vor sich herscheuchte. Sie mochten hell sein wie Mondblumen oder blutfarben wie die Liebestulpen im Haar der Kummerverscheuchenden unten im Haus des Vergessens, oder grau wie Lavaschutt: sie trieben erbarmungslos über einen hin, selbst wenn sie dunkler waren als mondlose Nächte.

Zwischen dem Gestern und dem Heute lag nicht einmal die Kluft des Schlafens, und dennoch war es Isolanthis, als spannten sich tausend Jahre wie ein Brücke von erdrückendem Schatten zwischen Abend und Morgen. In ihr war manches erwacht, vieles versunken, und in die Unrast geweckten Sehnens, geweckter Sinne floß ein merkwürdiges Trauern um Verlorenes. Vertieft durch ein Wissen, das sie das Leben in all seinen Kundgebungen erkennen ließ, und sich trotzdem entwertet und beraubt dünkend, fand sie sich nicht zurecht, kämpfte gegen aufquellende Liebe, gegen Haß über das ihr schuldlos Widerfahrene, gegen die Angst um Ramon Phtha, die Scheu vor Arototec – dem nun die lang erhoffte Handhabe geworden war – gegen Welt und Schicksal und gegen das eigene Ich, das mit seinen Wurzeln aus vertrautem Boden gerissen war.

Nein, sie ertrug es nicht zu leben …

Sturzwogen von Leid, Stürme der Auflehnung, zermürbende Scham, die sie den Wurm beneiden ließ, der – von einer Blume gefallen – über die Fliesen kroch, Grauen vor der Zukunft, die nichts als Kummer bringen konnte, ein dunkles Sehnen, ein jähes Aufzucken des Herzens und hierauf wieder den peitschenden Wellenschlag qualvoller Erwägungen. Wenn sie im kommenden Kampfe erlahmte, stand nichts mehr zwischen dem furchtbaren Schicksal, das heraufdämmerte, und seiner endlichen Erfüllung. Das Wohl eines ganzen Reiches hing von ihr ab. Und wenn sie schwach wurde, mußte Ramanatu …

Nein, sie durfte auch nicht sterben …

Ach, wem es schon vergönnt war über Menschen, Raum und Zeit zu stehen wie Sembasa! Aber hatte er diesen Blick in das Unbegrenzte nicht auch erst mühsam Stufe um Stufe erringen müssen, bei jedem Schritte etwas zerbrechend, das vergänglich war? Stufe auf Stufe langsam erklimmend, seine Kräfte mehrend, seine Wünsche vermindernd. Es gab nur diesen einen Weg zu lichten Höhen. Sie mußte dem Weisen folgen, selbst wenn mit gebrochenem Herzen, mit erstickten Wünschen.

Mußte diesen Weg gehen um derer willen, denen sie Halt und Licht war. Mußte …, mußte … mußte … und vermochte es nicht.

Ihre eigene Seele sprach zu dem in ihr, was noch unfertig war, wie zu einem Kinde, das die Finsternis scheut, aber das Menschlichgebundene in ihr schrie laut und weigerte sich, klammerte sich an ein keimendes Hoffen, wand sich in wilder Verzweiflung und wollte der Zeit Einhalt gebieten, auf daß die Wolke »Tag« nie nahen möge. Mit dem Gesicht nach unten lag die unglückliche Erbprinzessin da, mit zuckenden Gliedern und zerwühltem Haar.

Das Leben war unerträglich schwer.

Draußen berührte die Sonne Schläfer und Schweigsamen, wuchs, glühte auf Tempel und Palast nieder, trieb mit goldenen Segeln dem Hafen der Unterwelt zu, und immer noch rang Isolanthis mit den entfesselten Mächten in ihr den schlimmsten Kampf, den eine Seele kennt.

»Herrin«, rief Roxa leise, als der Mond die Eiben in Silbersäulen verwandelt hatte und sie sich, zum hundertsten Male seit dem bitteren Morgengrauen, lautlos zu Füßen des Lagers niederhockte, »Herrin, das Leben ruft! Wirf dein Leid von dir, auf daß andere dem ihren nicht erliegen!«

»Ich will im Dunkel verweilen, Roxa, immer … immer … bis meines Daseins Herbst zu Winter geworden …«

»Kind«, die alte Sklavin wagte es der Mutterlosen diesen, den wärmsten aller Namen zu geben, »Kind, ich habe wie ein Bergpuma alle Frager von dir abgehalten, doch wenn der König des Lichtes wieder naht, wird das Wehren einer armen Sklavin zwecklos sein. Heute durfte das Entsetzen über das Unerhörte dich lähmen, morgen … morgen …«

»Wie soll ich meine Augen zu denen meines Nächsten erheben, wenn ich einem Tempelkrug gleiche, den ein Ungläubiger berührt und … gebrochen hat?«

Roxa schüttelte sehr entschlossen das Haupt.

»Ein Krug, der im Tempel steht, bleibt immer rein, selbst wenn unheilige Hände sich daran vergreifen, und was aus echtem Gold ist, kann nicht zerbrechen. Dein Reich ist dein Tempel, o Isolanthis!«

Da konnte die Erbprinzessin endlich wieder weinen …

Gegen Mitternacht legte die Sklavin wärmende Hüllen um die Schluchzende. Zu ihrem Ohr sich neigend, allen Lauschern mißtrauend, flüsterte sie zärtlich:

»Er sah dich nur im grünen Schleier … für alle Welt, nur im grünen Schleier … und nun schlafe«, sprach sie lauter, sich auf den Stufen zusammenkauernd, »denn meine Liebe wacht.«


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