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Im Garten der Toten

Noch lief das Band der Tage, die da sonnig waren.

Draußen vor der Stadt, auf der eiförmigen Ebene unweit der Pyramiden, lag der Garten der Toten – der friedvolle Ort, den Isolanthis liebte. Hohe Mauern aus grauem Gestein umfriedeten ihn, und ein hohes dunkles Tor mit breitem Bogen gewährte Einlaß.

Pharao Ramon Phtha begleitete die Erbprinzessin nun zum erstenmal dahin. Er betrachtete sie aufmerksam, denn er ahnte ihren geheimen Kummer. Wiederholt schon war er Augenzeuge eines merkwürdigen Vorfalls im Palast gewesen, wenn er Ataxikitli besucht hatte. In der Vertraulichkeit solch stiller Stunden war der König etwas mehr aus sich herausgegangen, die Züge hatten allmählich etwas von ihrer erschreckenden Starre verloren, und zuzeiten hatte er sich sogar am Gespräch beteiligt, das Isolanthis mit Rücksicht auf ihren Vater in diesem Fall immer auf die Geschichte des Landes lenkte, für die Ataxikitli große Vorliebe zeigte. Nach und nach wuchsen Eifer und Begeisterung, und er begann sich auf uralte Überlieferungen zu berufen, berichtete von Dingen, die er als Kind vernommen hatte und die in keinem Buche, auf keiner Tafel niedergeschrieben waren, glitt so ganz sachte dem Persönlichen seines Lebens näher und schwieg dann plötzlich, wie jemand, der mit verbundenen Augen einen altvertrauten Weg geht und unvermittelt an eine Mauer stößt, von deren Anwesenheit er keine Ahnung gehabt oder deren Bestehen er vollkommen vergessen hatte. Von da aber verdüsterten sich seine Züge, und er versank in dumpfes Hinbrüten, aus dem ihn weder Frage noch Abschiedsgruß rissen.

»Ist dein hoher Vater krank?« hatte er Isolanthis gefragt, doch sie hatte nur traurig das Haupt geschüttelt und geantwortet, daß ein großer Kummer, über den man nie sprechen solle, ihn so verändert habe.

Ramon Phtha vermutete, daß darin nur ein Bruchteil der Wahrheit lag, denn am Tage vor der Versammlung der Thronratgeber zu wichtigen Entschlüssen war der König weniger starr als sonst gewesen und hatte mit seiner Tochter manches besprochen, was das Wohl des Reiches betraf, und das, obschon der Pharao anwesend und im Grunde ein Außenstehender war. Isolanthis reichte beiden Männern Früchte, füllte die Silberschalen mit süßem Palmenwein und lächelte beglückt, als sich die Züge Ataxikitlis aufhellten, er auf Längstvergangenes zu sprechen kam und das Schlaffe seiner Züge einer gewissen Spannung wich. Beinahe freudig erzählte er, wie er in seiner frühesten Jugend oft stundenlang am Strande zu liegen pflegte und wie es ihm in jenen Tagen noch möglich gewesen war, die Wassergeister zu sehen. Wie sie auf den Wellen tanzten, wie sie miteinander kindergleich spielten, sich glitzernde Tropfen als Bälle zuwerfend, auf den Wellen ruhend, von der Brandung getragen.

»Immer hatte ich das Gefühl, daß sie im Zeitlosen lebten, in einem seligen Augenblick ohne Vor- oder Rückschauen«, sagte er. »Ich fühlte selbst in meiner kindlichen Unreife, daß sie ganz anders waren, irgendwie ungebundener, glücklicher und dennoch ärmer als wir Menschen, denn sie sahen nur sich selbst klar, genossen nur das Jetzt, blieben unerschüttert, weil ihnen Schmerz und daher der Gegenbegriff fremd war. Sie waren froh, aber sie wußten es nicht. Wir Menschen wissen …«

Ramon Phtha hatte ihn gefragt, ob es ihm, nie gelungen sei, mit den Wassergeistern zu verkehren, sich ihnen zu nähern.

»Ich weiß nicht, ob sie sich meiner Nähe irgendwie bewußt geworden sind«, hatte der König sinnend erwidert, »doch spüre ich noch heute, welch unheimliche Macht ihr Gesang auf mich ausübte, denn zuzeiten sangen sie. Es klang anders als alle Laute, die wir Menschen kennen, und es riß mich mächtig zu ihnen in die Wellen hinein. Ich fühlte dumpf, daß meine Rettung in der Flucht lag, doch einmal schritt ich wirklich auf das Meer zu und wäre wohl ertrunken, wenn meine Mutter mich nicht gesucht hätte.«

»Da war es vorbei?«

»Ja, da war es auf immer vorbei, denn meine Eltern hatten Angst, und ich mußte künftighin im umfriedeten Garten spielen.«

Erinnerung an Erinnerung reihend, war man der pulsenden Gegenwart langsam näher gekommen, als draußen, im Gange, Schritte ertönten: harte, sehr sichere Schritte. Da war es wie eine Lähmung über Ataxikitli gekommen, die Züge erschlafften, die Hände zitterten, die Blicke wurden starr. Auf der Schwelle stand Arototec, der erste Thronratgeber.

»Ich muß dir die Grundzüge morgiger Beratungen vorlegen …«, hatte er kalt gesagt, und sein Blick hatte deutlich hinzugefügt: »Und du, junger Ausländer, ziehe dich schleunigst zurück!« Ataxikitli jedoch saß wie seine eigene Mumie da und sprach nicht ein einziges Wort.

»Warte mit deinen Berichten, bis ich Pharao Ramon Phtha an die Freitreppe geleitet habe …«

Arototec hatte die Erbprinzessin mit dem Bemerken unterbrochen, daß er ihrer Gegenwart nicht bedürfe, aber etwas in Ausdruck und Haltung von Isolanthis ließ ihn kalt einwilligen.

Nun ahnte Ramon Phtha, daß der Abend nicht kampflos verstrichen war, denn dunkle Ringe lagen unter den Augen, die er liebte, und das schmale Gesicht schien ihm schmaler in der Helle des Tages. Welch furchtbare Waffe besaß Arototec, um Ataxikitli derart machtlos auf dem Throne zu erhalten? Oder war es nur die ungeheure Gedankenkraft des Erfinders, die sich den Willen aller dienstbar machte? Er wollte es nicht glauben. Der Schatten, der auf Ataxikitli lag, war der einer Schuld, und er fiel, o bittere Überzeugung, auch auf den Pfad der Erbprinzessin, den er so gern in das Licht seiner Liebe getaucht hätte.

»Das ist mein Lieblingsort«, unterbrach Isolanthis nun sein Grübeln, »wenn ich nicht Zeit genug finde, um in die Höhle der müden Herzen zu pilgern.«

»So jung und so schön«, murmelte er, »und pilgerst schon dahin, wo die Herzen der Lebensmüden Kraft suchen …«

»Ich fliehe nicht von mir selbst hinweg«, erklärte sie lächelnd, »ich komme nur hierher, um zu mir, zu meinem innersten Ich, zurückzufinden, um neue Kraft zu schöpfen …«

»Sie ist wundervoll«, dachte Ramon Phtha, »alles, was sie zu mir spricht, und alles, was sie mir zeigt, zieht meine Seele empor. Sie ist wie ein wandelndes Licht, sie ist wie ein leuchtender Schein.«

Sie standen vor dem Garten der Toten, und über dem Torbogen las der Pharao unklare Schriftzeichen, wie er sie noch nie gesehen hatte, und darüber das Sinnbild des Kreislaufs alles Seins.

»Das ist ein Spruch in Rmoahal, der toten Sprache von Poseidonis, die heute nur noch heiligen Zwecken dient. Ich will dir den Spruch übersetzen, der da geschrieben steht, denn die tiefste menschliche Weisheit ist hier kurz zusammengefaßt:

»Was dein Herz gewünscht, muß schweigen;
Was dein Geist gewollt, mußt du nun zeigen;
Was deine Seele gesucht, wird dir zu eigen.«

»Wie eine Stimme aus dem Zeitlosen«, flüsterte erschauernd der Pharao.

Andächtig durchschritten sie das Tor. Ein weiches, grünliches Dämmern umfing sie, denn die Kronen der hohen Bäume waren so eng ineinandergewachsen, daß sie eine natürliche Wölbung bildeten, durch die nur hier und da ein feiner Lichtstrahl fiel. Unzählige süßduftende Blumen in zartesten Farben bedeckten den Erdboden. In den Wipfeln der Bäume sangen leise viele Vögel, und man ahnte kaum die Außenwelt an dieser Stätte unbeschreiblicher Ruhe.

»Niemand wird hier beerdigt«, sagte Isolanthis, die Stimme dämpfend, »dieser Garten soll nichts als ein Gedenkort sein, an dem unsere Seele liebevolle Zwiesprache mit den Dahingegangenen hält.«

Ramon Phtha merkte mit Erstaunen, wie sich ein Sehnen nach wunschlosem Frieden in sein Herz stahl. Es war nicht Trauer, denn um ihn und in ihm war noch Licht; dennoch senkte sich ein Schatten auf sein Gemüt, ein Wünschen nach Unerreichbarem kroch ins Herz, und dieses leise Weh ließ ihn aufseufzen.

»Was macht dich seufzen, o Pharao?« fragte sie, und ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund. Seine Jugend hatte etwas Rührendes für sie, als läge ihr eigenes Jungsein schon hundert Jahre zurück.

»Warum muß ich eine Krone tragen und über ein Volk herrschen, wenn für mich ein Leben, ein Menschenherz Inbegriff alles Glückes ist?«

Isolanthis sah nicht auf.

»Weil jede Seele den Weg gehen muß, der sie am schnellsten ans Ziel führt …«

»Ich werde durch alle Leben nur diesen einen Wunsch haben …«, erklärte sehr entschlossen der junge König. »Ich kann mein Herz nur an einen Menschen ganz, nicht an viele Menschen ein wenig binden.«

»Das erste Gesetz ist Losgelöstsein …«, seufzte die Erbprinzessin.

»Auch Liebe löst vom Selbst«, sprach sanft der Pharao. »Warum dürften wir nicht den Weg gehen, der …«

Isolanthis schüttelte sehr entschlossen das Haupt.

»Warum von der Kühle der Berge träumen, wenn der Pfad im heißen Tal liegt und man nie abbiegen darf? Weil wir würdig befunden worden sind, eine Krone zu tragen, müssen wir den Weg der Pflicht gehen. Man nennt dich den Tapferen. Mut liegt nicht nur im Erobern, mehr Mut liegt im Ausharren …«

Sie gingen weiter durch den stillen Garten, und um sie her war ein Blühen ohne Ende und eine leuchtende Schönheit, doch ihre Herzen waren in einen Schleier von Wehmut gehüllt.

Mitten im Garten der Toten lag ein tiefgrüner Weiher, in dem sich zahllose Tempelblüten spiegelten, und über den sich eine blumenumwucherte Brücke spannte. Sie führte zu einem Tempel aus gelbem Stein. Gelbe Stufen bildeten eine kurze Treppe. Auf gelbem, reich mit Blumen geschmücktem Altar standen zwei silberne Schalen.

»Das blaue Licht ist Sinnbild der Seele, das grüne deutet den Geist an. Für den erloschenen Körper hat man nichts mehr als das Zeichen des verschlungenen Bandes um den Altar. Es ist eine Verheißung der Wiedergeburt. Was war, wird wieder werden …«

»Und das Gelb?«

»Ist höchste Weisheit …«

An den Wänden aus mattem Gold erspähte Ramon Phtha im weichen Dämmern seltsame Zeichen und vor allem eine oftmalige Wiederholung der Totenbarke mit einem einzigen Ruderer und einer weißgekleideten Gestalt.«

»Die Farbe der Trauer?« fragte er leise.

»Nicht nur: Weiß ist für uns auch die Farbe des Frühlings, des Sonnenaufganges, des Nahens des Lichtes, daher auch der Wiedergeburt. Durch Nacht und Tod geht es zum Licht der Auferstehung, deshalb sind unsere weißen Flaggen nicht eigentlich ein Zeichen der Trauer, sondern eins der Verheißung. Der Tote ist abgestiegen, um ins neue Licht zu gehen …«

Unten, um den Altar, zogen sich drei Wellenlinien, ein Sinnbild, das so häufig wie der Dreizack war.

»Was deuten sie an?«

»Die göttliche Schöpfungskraft«, erläuterte sie.

»Warum als Wellenlinie, als Wasserzeichen gedacht?« forschte er weiter.

»Weil Wasser alles durchdringt und weil es als Regen vom Himmel fällt, genau wie auch uns die Kraft Gottes von oben herab zuströmt.«

»Wie weise du bist, o Isolanthis!« und Ramon Phtha fühlte, wie sein Herz immer unlöslicher an sie gebunden war, doch sie wehrte nur lächelnd ab.

»Wir wachsen in dieser heiligen Weisheit auf, doch ich wünschte«, fügte sie ernst hinzu, »daß ich dir dieses Wissen mitgeben dürfte …«, sie zögerte, »auf deinen Weg …«

»Auf den Weg in mein Land?«

»Nein – als unverlierbares Gut auf den Weg, den deine Seele gehen muß …«

Sie traten ins Freie.

Grüngoldenes Dämmern, süßer Duft, ein Frieden, der schmerzhaft wurde, und in diese Seligkeit hinein die furchtbare Überzeugung:

»Was dein Herz gewünscht, muß schweigen …«

Er würde sie verlieren, er fühlte es, und ohne sie war sein Leben tot.

»O Isolanthis!« entfuhr es ihm.

Sie lächelte ihm tröstend zu, denn seine Traumflügel waren im Abfallen. Die Lider senkend, damit er ihre Tränen nicht sehen konnte, sagte sie weich:

»Im Weltall geht nichts verloren, nichts auf ewig verloren, o Ramon Phtha …«

Dennoch wollte seine Furcht nicht von ihm weichen.


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