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Im Haus der weißen Blumen

Der letzte Hauch des vergütenden Tages lag auf der Wolke über dem Schweigsamen, ein wunderbares Blaugrün umschloß die Welt; schwarz aus dem Dämmergrau stachen die Eiben.

Isolanthis saß auf den obersten Turmstufen mit dem Blick auf die Berge, die ihre Kindheit bewacht hatten. Die tiefe Einsamkeit ringsumher, der altvertraute Duft der Mondblumen, der unfaßbare Ernst, der vom Schläfer ausging, wiegten ihres Wesens Unrast zur Ruhe.

Das war Heimat, selbst wenn Süßes sich mit viel Bitterem vermählte und die Kühle des mutterlosen Elternhauses nach wie vor das Gedeihen erschwerte; selbst wenn sie – wie im Augenblick – Angesicht zu Angesicht mit ihrer Vergangenheit stehen und sich mit ihr aussöhnen mußte, um frei zu werden, denn leidgefesselte, unversöhnte Herzen fanden nicht den Höhenweg, wandelten einsam und fernab von Wahrheit und Licht. Wer nur an sich selbst dachte, der sah die Welt durch ein Gitter …

So aber war das Sein: Ehe man seine Höhen entdeckte, mußte man seine Tiefen ergründet haben. Es genügte keineswegs nur zu wissen, was man vermochte; man mußte sich auch mit den eigenen Begrenzungen vertraut gemacht haben, um späteres Stolpern zu vermeiden.

Wie verklingende Musik ertönte gedämpft das Rauschen vieler Wasser. Von der Glut aus dem Innern schwach beleuchtet, wirkte die Wolke über dem Schweigsamen gelbrot, hing als Riesenbaldachin über beiden Gipfeln.

Wenn der Schläfer erwacht …

Noch schlief er, und Isolanthis dachte an das Erwachen des eigenen Herzens, das – liebeleer und einsam – in das Leben hineinhungernd auf das weckende Wunder gewartet hatte, das als Trugbild über der Jugend schwebt und erst allmählich vor dem nüchternen Grau der Wirklichkeit zerrinnt.

Damals, vor mehr als sieben Jahren, hatten die Mondblumen so berauschend geduftet wie heute und die warme Luft war um sie wie eine Liebkosung gewesen. Da war einer aus dem Nordland gekommen, wo die Nebel winterlang über das eisige Meer krochen und alles eingesponnen hielten, und hatte sie im Sonnenschein gesucht. Jugend hatte nach Jugend gerufen, und sie hatte seinen Worten gelauscht, in denen das uralte Zauberlied neu erklungen …

Und in ihr selbst war es Frühling geworden.

Sie war einsam gewesen im Haus der weißen Blumen, einsam auf allen Wegen, zu allen Zeiten, und da stand einer, der sie suchte und der von Zweisamkeit sprach. Sie hatte glückbetäubt gedacht, daß es nicht tiefere Seligkeit geben könne, selbst im Garten der Sonne nicht. Ihr Leben, vor dem ihr oft gebangt hatte wie vor heraufziehendem Wirbelsturm, hatte endlich Ruhe und Ergänzung gefunden, wie der Tag die Nacht, wie das Licht den Schatten; so allein wurde der Gegensatz zu einem geschlossenen Ganzen.

So hatte sie wenigstens gedacht, und beim Erinnern an all das rosige Träumen ging ein leichtes Weh um die gebrochenen Traumflügel durch ihr Herz. Rosige Wolken und rosiges Hoffen gingen immer bald vorüber …

Doch damals war es Frühling gewesen und sie jung und sehr einsam. Das Lied, das er sang, war das uralte Lied, das jedes Menschenherz ertönen hört, und ihr Körper war bei den weichen Klängen selbst zur Harfe geworden, aber durch den Jubelklang der Saiten hindurch hatte etwas doch Mangel an tieferer Melodie verspürt. Wenn seine Finger über ihr Haar strichen, hätte sie weinen mögen, weil dieses Etwas in ihr, das sich nicht betäuben ließ, über Leere klagte und alle Freudentöne begleitete, wie eine gesprungene Saite oft eigensinnig mitklingen will.

Seine Augen, von rätselhafter Glut gefärbt, seine Finger von drängenden Wünschen durchpulst, hatten gebeten, gefordert, und seine Lippen hatten süße Botschaft engster Vereinigung geflüstert. Wohl hatte ihr junger Leib ihm zugeatmet im Auftakt der Sinne, doch tief durch sie war kalt und schneidend jener unerklärliche Mißton gefahren, der den Wohlklang zerstörte, denn in ihr kämpften zwei Mächte.

»Morgen?« hatte er geflüstert. »Ich harre deiner … morgen!«

Die Mondblumen hatten geduftet, die fernen Wasser gerauscht, die Wolke über dem Schweigsamen geleuchtet wie ein Vogel mit entspannten Flügeln. Ihre Lippen hatten gezittert, ihre Antwort war in der Nacht verklungen …

Und als wieder ein Tag in die See der Unendlichkeit getropft war, sah sie sich oben auf dem Turm bei Sembasa. Sie bedurfte der Sternenruhe vor dem Abstieg ins Sein.

Fünfzig oder mehr Menschenjahre lagen zwischen ihr und dem Weisen im Turm des Sonnenaufgangs. Sie war einmal, als Kind schon, zu ihm hinaufgestiegen in sein menschengemiedenes stilles Reich und hatte gesagt:

»Zeig mir meinen Stern!«

»Er blinzelt da oben, sehr hoch und sehr weit«, hakte er ihr lächelnd erwidert, »und er hat eine Botschaft für dich. Wenn du reif geworden bist, sie zu hören, wirst du sie vernehmen. Bis dahin sei tapfer, stark und rein. Du stehst im Sternenschutz, fürchte daher weder Feuer noch Wasser, fürchte nichts, o kleine Isolanthis, als das Erlöschen des Lichtes in dir, denn da bist du verloren. Kein Mensch kann es anstecken oder es für dich hüten – nur du allein.«

»Ich werde es nie ausgehen lassen«, hatte sie versprochen. Er hatte es ihr gestattet, durch einen Trichter zum Himmel aufzuschauen, und als sie lange in das vergrößerte Flimmern der Gestirne geblickt, hatte sie sich plötzlich zu ihm gewandt und ganz traurig gesagt:

»O Sembasa, ich möchte viel lieber ein Stern als ein Mensch sein …«

»Warum?«

Seine Güte glich einem Sonnenstrahl an kaltem Tag: erhellend und wärmend, nie sengend.

»Weil da mein Licht durch nichts getrübt werden könnte.«

»Das kannst du auch ungetrübt unter den Menschen erhalten – so du es ernstlich willst.«

»Gleichen viele Menschen nicht …«, ihre Frage hatte zögernd geklungen, als fürchte sie deren Bejahung, »erloschenen Sternen?«

»Manche«, und er hatte traurig genickt. »Du aber«, und seine Hand war ganz sachte über ihr gesenktes Haupt gefahren, »darfst dir dein Licht nie auslöschen lassen, oder richtiger, du darfst es nicht ausblasen, denn von deinem Tun und Denken hängt dein Licht ab.«

In dieser Stunde hatte ihre sonderbare Freundschaft mit dem Weisen im Turm begonnen. Sooft sie später mit dem Leben nicht zurechtkam in kleinen wie in großen Dingen, kletterte sie zu Sembasa hinauf. Nicht immer sprachen sie. Es genügte ihr oft, schon in Sternennähe zu sein. Der Weise blieb in seine Messungen vertieft oder folgte dem Gang der Gestirne, oder saß auch nur reglos in Betrachtung versunken da. Sie störte ihn nicht. Wenn sich ihr unruhiges Ichbewußtsein langsam dem Allbewußtsein angeschlossen hatte, wenn sie sich neuerdings mit der ganzen Erscheinungswelt eins fühlte und sie hinter dem Sichtbaren auch wieder ganz klar das Unsichtbare erkannt hatte, stieg sie gestärkt erdenwärts, denn die Sterne waren ihre Schwestern und die Berge wachende, schützende Brüder, und der Strom, der in ihr pulste, war Weltallsstrom.

»Wirf nie verdunkelnde Schatten, o Isolanthis«, hatte Sembasa ihr einmal gesagt. »Wenn du Licht um dich und in dir willst, darfst du keinerlei Dunkelheit erzeugen.«

An jenem Abend vor dem großen Schritt, dem sie hingebend entgegengeträumt hatte und vor dem sie gleichzeitig zurückschreckte, fühlte sie Sternenheimweh. Im Licht des Ewigen fand man sich am leichtesten im Zeitlichen zurecht.

Jeder Stern schien eine Opferampel. Sich selbst zu verschenken in fragloser Opferfreude war wohl das Herrlichste auf Erden. Durch diese Tat würden sie eins werden, wie Himmel und Erde sich fanden. Je länger sie indessen in das Flimmern schaute, desto stärker erwachte das geheimnisvolle Zweite in ihr, das, was ihres Wesens wahren Kern darstellte, und durch den Leib, der an Berührung gedacht hatte, ging ein Rieseln der Andacht.

Fünfzig oder mehr Jahre trennten sie von dem Greis, der nie alterte und der in Menschenherzen wie in einem offenen Buche las, doch nun fühlte sie eine tiefe unzerstörbare Verbundenheit mit ihm. Sie schaute zu ihm auf, dessen Augen schon Sternen glichen, und er sagte:

» Zwei Wege gibt es für ein Weib, das Stern bleiben will: Die Mutterschaft, weil ihr Licht den Pfad vieler junger Seelen erhellt, oder die Priesterschaft. Es bedarf dazu keines Tempels und keines Klosters, denn umgeben von den Mauern des Wollens ist jedes Herz eine Zelle. Der Leib eines Weibes ist ein Altarkelch. Er dient dem Opfer der Menschwerdung oder er bleibt Tempelschale. Lustzweck ist Entheiligung.«

Stille. Der Schweigsame und der Schläfer als dunkle Massen wie Gedenksteine; zu Häupten Sterne und Sterngewölk; im Osten die Unendlichkeit des Meeres, zu Füßen die Stadt mit den rauschenden Wassern.

»Willst du Mutter werden, Isolanthis?«

Stille, streifender Wind, ein Seufzer …

»Ich glaube … es ist … nicht mein Weg.«

Der Mond segelte herauf.

»Kennst du deinen Weg?«

»Er liegt noch im Nebel des Ahnens. Ich weiß nur, daß meine Seele nicht froh werden kann im engen Gefängnis des Körpers.«

»So verwandle deinen Leib in einen Kristall, auf daß seine Durchsichtigkeit aus dem Kerker eine Ampel schaffe, durch die das Weltallslicht frei auf den Pfad deiner Mitmenschen fällt …«

Sie hatte sich aus der zusammengekauerten Stellung aufgerichtet und verstehend zu ihm aufgeschaut.

»Und wisse, o Isolanthis! Ein Mensch kann einem anderen nur insoweit Licht sein, als der eigene Schein reicht. Je strahlender du deine Seele werden läßt, desto stärker wirst du deiner Umwelt Sein erhellen, und dazu lebst du! Das ist die Botschaft deines Sterns.«

Er hatte ihr gütig zugenickt, und sie war vom Turm niedergestiegen, das Zweite in ihr völlig wach. Unten, wo die Mondblumen dufteten und der Mondschein silberne Weiher bildete, wartete im bergenden lauwarmen Schatten jemand, dessen Arme sich verlangend um sie schlossen.

Doch weil das Zweite wachte, war das Erste tot. An Stelle des berauschenden Sehnens war Unbehagen getreten, und Verschmelzen bedeutete plötzlich nichts als Erstickenmüssen.

Da hatte sie sich stumm frei gemacht und war zurückgegangen in ihre unpulsende Einsamkeit.

Und manchmal war bei allem Sternenheimweh etwas durch sie gefahren wie Furcht vor dem Sein. Es war ihr zuzeiten, als schaue ihre Seele in eine Sturmwolke, und weil sie jung war, weil das Urlied des Begehrens im Leib, der noch Gefängnis war, weitergesummt, hatte sie dem zerronnenen Trugbild nachgeweint, obwohl sie schon damals dumpf begriffen hatte, daß er sie zu Lustzwecken begehrt, nicht als unentbehrliche Ergänzung seines Ichs empfunden hatte.

Später sah sie die Dinge des Lebens in ihrer Nacktheit und wurde ruhig. Männer wählten ein Weib, weil jeder Sterbliche den Wunsch hegte, eine Spur zu hinterlassen, und die einfachste die in einem Kinde war. Sie machten daher aus dem Weibe Mittel einer Zweckerfüllung. Oder sie sahen im Weibe den Gegenstand flüchtigen Genusses, denn das Suchen nach neuen Erfahrungen lag beim Manne auf geschlechtlichem, beim Weibe auf seelischem Gebiet, und aus diesem Grunde fanden sie nur selten innerlich zueinander.

Dieses allmähliche Verstehen hatte ihr gezeigt, daß Vereinigung nie aus der tiefen Seeleneinsamkeit, die auf ihr lastete, zu führen vermochte. Dennoch klagte sie zuzeiten heimlich um Verlorenes, weil das goldene Gewebe, aus tausend Traumfäden entstanden, zerrissen worden war und sie fühlte, daß sie so leuchtende Fäden nie wieder spinnen würde.

Erfahrungen sind zumeist an Orte gebunden, und da ihr alles zum Erinnerungsstein wurde, hatte sie Siotatl begleitet, um an seinem Hofe die reine Weisheit des eigenen Landes zu lehren, um die Überlieferungen auch für ihn niederzuschreiben, um in seinen neuen Hallen die Ausschmückung zu überwachen. Die Jahre waren rasch vorbeigeflutet wie ein Strom, der wenig wechselt. Einmal hatte sie wieder in die Augen des Mannes geblickt, um den ihre liebearme Jugend so starke Traumfäden gesponnen, und hatte geglaubt eine Mumie zu sehen: die Mumie des Gewesenen. Sie hatte in den Jahren zu sich selbst gefunden, Anker geworfen in Kunst und Wissenschaft, er aber hatte das Kennwort zu seinem Innersten verloren und flackerte unstet durch den Trug stofflicher Erfahrungen, wie ein Irrlicht über einen übelriechenden Sumpf hinflackert, anderen zum Schrecken und sich selbst nicht zur Freude …

Heute, gereift durch ihr Wissen und froh in der Ausübung ihrer Kunst, erfüllte sie der Duft der Blumen höchstens mit leichter Wehmut, wie sie ein Erwachsener fühlt, der auf ein zerbrochenes Kinderspielzeug schaut. Was einmal so ungeheuer wertvoll gewesen, war nichts, gar nichts in Wirklichkeit.

Aber auch an einem Nichts hängt zuzeiten ein Menschenherz in seiner Sucht nach Gebundenheit, und daher ließ Isolanthis ihre Vergangenheit an sich vorbeigleiten, um sich die letzte Freiheit zu erringen.

Heimat …

Vom Schläfer und vom Schweigsamen ging der alte Zauber aus, und die Wurzeln ihres Seins bohrten sich nach langer Entfremdung wieder kraftsuchend in die Heimaterde.

In einer solchen duftschwangeren Mondnacht hatte vor mehr als sieben Jahren jemand zu ihr von Liebe gesprochen.

Liebe?

Manche Worte wurden durch zu häufigen Gebrauch und Mißbrauch abgeschliffen wie Münzen, die zu lange im Umlauf gewesen. Ihr genügte es, Licht zu geben und zu finden, frei durch das Land des Erlebens zu gehen, unterwegs jedem helfend, doch weder eingekreist noch einkreisend; in sich selbst verankert, ungebunden.

Es war der Weg der Starken.

Allerdings: Glück lag nur in stiller Mulde.

Tief in ihr war immer noch das Sternenheimweh; wenn sie sich einsam fühlte, sammelte sie, in den Anblick der Gestirne versunken, Kraft. Auch nun sehnte sie sich nach dem Weisen im Turm des Sonnenaufgangs, doch die Pflicht rief sie hinab zu dem Manne, der in sieben Jahren um das Dreifache gealtert war und der ihrer Kraft bedurfte:

Der Kraft ihres Lichts.


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