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Tlactlac

Durch das Geschimmer und Geleuchte des Sonnenniedergangs schritt Isolanthis.

Sie kam aus der Höhle der müden Herzen und trug den grünen Stein. Sembasas Angaben waren sehr genau gewesen, und sie hatte ihn leicht gefunden. Bewundernd betrachtete sie ihn. Selten reifte ein Stück zu solchem Tiefgrün und zu solcher Klarheit. Tausende von Jahren mochte er in jenem dämmernden Spalt geschlummert haben, lernend wie Steine lernen; langsam, im Dunkeln, sich allmählich von trüber Dichte bis zu jener Durchsichtigkeit wandelnd, die Licht durchsickern ließ.

So strebte alles Erschaffene durch die Finsternis und Schwere des Stoffes zurück zu freier Beweglichkeit und zur Helle des Geistigen.

Isolanthis umschloß liebevoll ihren Fund, denn er sollte sie lehren, die Menschen zu kennen. Die Geister der Berge hatten ihn gehütet, die Wärme des Erdinnern hatte ihn durchglüht, die unterirdischen Quellen hatten ihn gewaschen und ihm gurgelnd uralte Überlieferungen zugeraunt, und nun spiegelte sich in ihm das von jedem Menschen, was dessen Grundton war. Überwog das Seelische in ihm, so wurde der Stein zu herrlich blauem Schimmern; war das Geistige ausschlaggebend, so verwandelte sich der Prüfstein zu durchsichtigem Hellgrün, in dem ein goldenes Funkeln war; dunkelrotes Licht verriet wärmende Liebe und hellrotes begehrende Leidenschaft; wärmendes Wissen war hellviolett, finsteres Wissen und Wollen dunkel, und alle bösen Triebe warfen tiefe Schatten auf den Stein, trübten Farbe und Glanz.

»Er wird dir Wegweiser sein entlang dem Pfade der Menschenherzen«, hatte Sembasa gesagt, »und nur, wenn du selbst von begehrlicher Liebe erfüllt sein solltest, würde er seinen Glanz einbüßen, denn deine Ausstrahlungen würden sein Licht überwinden, und er würde dir nicht mehr Führer bleiben.«

Der Tag starb dahin.

Vom Abendlicht umflossen, grüßte aus der Entfernung die Stadt der goldenen Tore – ein Zauberberg von sagenhafter Schönheit und herzbeklemmender Wucht. Ein einziger Bau war schon ein schwindelnder Fels, und hier wuchsen Kuppeln und Türme, Silberbogen von ungeheurem Umfang und metallbekleidete Wälle zu einem Gefüge zusammen, wie niemand es begreifen konnte, der dieses Wunder nicht mit eigenen Augen geschaut. Oft hatte Isolanthis in der Fremde sich bemüht, das Unbeschreibliche in die Enge der Worte zu pressen, und immer vergebens. Die kleinste Verzierung an einem Bau übertraf schon Menschengröße, und dennoch galten die Poseidonier als größter Menschenschlag unter den Völkern der Erde. Die Hallen in diesen Riesenpyramiden glichen an Umfang mächtigen Höhlen im Berginnern, und zum Turm des Sonnenaufgangs führten siebenmal siebzig Stufen …

Als sich das junge Mädchen dem untersten Wall näherte, wo das einfache Volk – dunkelhäutiger als die höchste Kaste, aber auch schmalgesichtig und mit zusammengewachsenen Augenbrauen – wohnte, stürzte sich die mondlose Nacht mit raubtierartiger Schnelle auf die Landschaft. Unwillkürlich schritt Isolanthis rascher aus, denn es war gut, am friedvollen Garten der Toten vorüber zu sein, ehe die Schatten vor dem dritten Wall ihre Mäuler aufsperrten, als wollten sie alles verschlingen, was da nahte.

Schon ragte die unterste Stadtmauer in ihrer Verkleidung aus Orichalcum als bläulicher Berg vor Isolanthis empor, als sie drei Männer entlangkommen sah. Sie waren Kinder einer anderen Rasse und unterhielten sich gedämpft in fremder Mundart. Ihr struppiges Haar fiel in fetten Strähnen auf Schultern, die gewölbt schienen, und etwas Scheues lag über ihrem Wesen. Selbst der Gang hatte nichts von der beschwingten Schönheit, die jedem echten Atlanter – und mochte er fern der Muttererde unter anderen Völkern wohnen – eigen war.

Den Stein in ihrer Linken haltend, musterte Isolanthis die Nahenden. Im matten Schein noch ferner Sonnen erkannte sie dennoch schon, daß die Männer dunkelviolette Schatten und starke Trübungen erzeugten. Ihr Sinnen und Trachten kreiste um Blut. In diesem Augenblick vernahm sie ein leises Winseln.

»Wohin geht ihr?« fragte sie furchtlos in der Mundart der Sumpfbewohner des Westreiches.

»Unser Lager liegt jenseits des zweiten Berges …«, kam es widerwillig.

Da bemerkte Isolanthis, daß der letzte der drei Männer etwas Weißliches auf dem Arm trug, und erkannte am kläglichen Gewinsel und den komischsteifen Ohren den Mondhund.

Sofort trat sie sehr beherzt dichter an die drei Fremden heran.

»Das ist der Hund vom heiligen Berg!« sagte sie streng. »Ahnst du denn nicht, o Mann von geringem Wissen, daß es dir Unglück über Unglück brächte, ein Tier zu entführen, das im höchsten Tempel des Landes zur Welt gekommen?«

»Wir wollen es unserem Gotte opfern, eben weil es ein Wundertier ist«, erwiderte trotzig der älteste der drei Männer.

Sie sah erst dem Träger des Hundes und hierauf seinen beiden Gefährten so zwingend in die Augen, wie sie es von Arototec wilden Tieren gegenüber gelernt hatte, und bemächtigte sich sodann des Hundes, wickelte ihn liebevoll in ihren graublauen Umwurf und ging rasch, doch ohne übergroße Hast, dem Walle zu und durch die Straßen höher und höher.

Erstaunt und erbittert zugleich starrten die drei Fremden hinter ihr her, und der eine machte Miene, ihr nachzulaufen, doch seine Gefährten riefen ihn zurück.

»Laß sie laufen«, riet der älteste mit finsterem Blick, »Hund und alles. Die Leute dieses Landes wissen zu viel. Es war ungut, in ihre Augen zu schauen, die wuchsen und wuchsen, bis man glaubte, in die Mondscheibe zu starren …«

»Klein und zart war sie …«, kam es zögernd von dem, der den Hund getragen hatte, »doch als sie mir das Tier entriß, stand ich machtlos.«

»Ich möchte sie nicht zur Gattin haben …«, brummte der jüngste.

Da lachte der älteste ein rauhes Lachen und erklärte achselzuckend und den Gefährten winkend, den Weg fortzusetzen:

»Drei gegen eine Fledermaus, und sie sah uns an, nahm das Tier und war weg!«

»Laß uns zurück ins Lager eilen, auf daß sich ihre Worte nicht auch noch erfüllen und Unglück auf Unglück über uns hereinbricht, weil wir das Wundertier entführten, um es unserem Gotte zu opfern. Das ist ein unheimliches Land …«

»Und diese Stadt voll des Unheimlichen mit ihren Bauten gleich Bergen und den unverständlichen Zeichen überall. Ich will meinem Gotte drei Buschtauben opfern, sobald ich glücklich wieder am Ufer unseres Orikatls bin.«

Während die drei Fremden den Bergen und ihrem Lager zuhasteten, stieg Isolanthis mit ihrem Schatz vom zweiten Wall durch den Spalt in der Wallmauer hinauf in den ersten Wall und kreuzte den heute dunklen Mondhof vor dem Tempel. Auf der Schwelle des matt erhellten Tempels standen zwei Menschen – Teokol, der Lehrer der angehenden Priester- und Torototec, der Thronratgeber.

Es war die letzte der sieben Nächte, in denen der Mond nichts als geronnenes Blut war, daher wachten die Jünger beim Schein der zahlreichen Opferstäbchen, doch still in Betrachtung versunken, ohne Musik oder Tempelsang.

Isolanthis trat auf die beiden Sprechenden zu und berichtete, wie und wo sie den Hund vom heiligen Berg gefunden hatte.

Teokol liebkoste das zitternde Tierchen, das sich dicht an seine Trägerin schmiegte, Torototec dagegen musterte Isolanthis lange und ernst und sagte endlich mit befriedigtem Nicken:

»So hast du ihn seinen Räubern einfach entrissen? Ob du immer so furchtlos handeln würdest …?«

»Gewiß … wenn ich Unrecht verhüten könnte …« erwiderte sie lächelnd.

Wieder ruhten seine Blicke sonderbar prüfend auf ihrem Gesicht.

Ein würdiger alter Priester erschien auf der Schwelle. Er war es, der die Jünger prüfte, ehe sie die Weihe empfangen konnten. Er las in den Seelen der Menschen, und er schaute in Gewesenes und Zukünftiges. In seinen Augen lag der Friede des Zeitlosen. Still hörte er Teokols Bericht an. Nun streckte dieser die Hand aus, um den Hund vom heiligen Berg an sich zu nehmen, doch Torototec fragte unvermittelt:

»Isolanthis – möchtest du das Tierchen gern behalten?«

Ihre Augen leuchteten auf, und ihre Finger fuhren vorsichtig über die steifen Ohren ihres Schützlings.

»Ich möchte sein keimendes Seelchen großziehen wie eine Pflanze, die einmal reich blühen soll. Ich möchte sie sanft von der Gruppenseele lösen, bis sie erstarkt vor die Menschschranke tritt.«

»Es mag mehr als ein Leben darüber vergehen …«, warf Teokol ein. Ihm lag es daran, den Mondhund im Mondtempel zu behalten.

»So werde ich ihm wieder Führer sein«, erklärte das junge Mädchen. »Und wenn ich nach Jahrtausenden selbst frei geworden bin vom Zwang des Stofflichen, möchte ich einer Seele – außer den vielen anderen auch einer ganz bestimmten – von der Menschschranke aufwärts Helfer sein.«

»So nimm den Hund und geh!« rief Torototec. Eine eigene Befriedigung lag im Ausruf.

»Der Hund wurde im Mondtempel geboren und gehört zum heiligen Berg«, wagte Teokol einzuwenden. Er würde sicherer gesprochen haben, wenn der alte Priester nicht anwesend und seltsam still gewesen wäre …

Nun richtete der Greis ebenfalls das Wort an Isolanthis.

»So wache über dieser winzigen Seele, da dir der Weg der Mutterschaft verwehrt ist …« Er legte eine Hand segnend auf ihr Haupt und eine auf das Köpfchen des Tieres.

»Es segne euch der Ewige, von dem ihr ausgegangen, und er führe euch durch sein Licht wieder zu sich zurück …«

Auch Torototec hob segnend die Rechte, und Isolanthis entfernte sich beglückt. Fester schmiegte sich ihr neuer Gefährte an sie, und ein Ohr senkte sich, als solle damit vollstes Einverständnis ausgedrückt werden.

Oben, auf der Schwelle des Mondtempels, standen noch immer die drei, und Teokol erlaubte sich sehr bescheiden zu äußern, daß ein so wunderbar zur Welt gekommener Hund sonst immer am Orte des Wunders zu verbleiben pflegte.

»Er wird Hüter des Tempels bleiben – immer noch der Hund vom heiligen Berg …«, sagte sinnend der alte Priester, warf einen Blick auf die Sterne und entfernte sich still.

Teokol seufzte.

»Wer weiß, wie bald er zurückkehrt?« bemerkte Torototec, sich zum Gehen wendend. »Wir stehen im Zeichen der Wandlungen. Ob im Mondtempel oder am Herzen eines Weibes mit priesterlicher Seele – immer erfüllt sich sein Schicksal.«

»So mag sie die Hüterin seines werdenden Seelchens sein …«, murmelte Teokol und trat die Wache im Tempel an.

*

Während Isolanthis durch den Spalt in der Mauer hinab in den eigenen Garten kletterte, in den die Kuppel des Hauses der Wissenschaften hereingrüßte und in dem die Tempelblüten atemberaubend dufteten, flüsterte sie dem Mondhund zu:

»Wie soll ich dich nennen, o du fellige Winzigkeit, die du ungeachtet deines heiligen Ursprungs ein komisch Gefüge zu steifer Ohren und zu langer, dünner Beine bist?« Und sie lachte ein weiches, gurrendes Lachen, denn das Tierchen versuchte seine spitze Schnauze an ihrem gesenkten Kinn zu reiben, bewegte das Ding, das Schwanz werden sollte, und stieß ein schwaches Geräusch wie ein Freudeschnalzen aus:

»Tlcc … tlcc …«

Es war ein rührender Laut – ein Laut tiefster Freude.

»Tlactlac sollst du heißen«, sagte sie zärtlich und strich leicht über die feuchte Schnauze hin, »Tlactlac: Born der Freude.«

Sie trug ihn durch das Duften des Gartens, und nur die Sterne flimmerten, doch einmal würden sie beide im Lichte stehen, denn alles, was da war, kehrte ja dahin zurück.

So kam der Hund vom heiligen Berg in das Haus der weißen Blumen.


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