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Die Sklavin erzählt

Roxa hüstelte.

Wecken durfte sie ihre junge Herrin nicht, obwohl der »Begleiter der Morgenröte« gewiß vor mehr als tausend Herzschlägen bleich und müde durch den Fensterspalt geblinzelt hatte und die Welt wieder um einen Tag reicher war.

Noch einmal, sehr vorsichtig, hüstelte die Sklavin, reckte die Glieder, schwächte das Stöhnen der Ungeduld zu bescheidenem Seufzer herab und kraute voll Verzweiflung in dem kurzen krausen Negerhaar. Es eilte nicht, aber ihre Zunge, die einem gefangenen Jaguar glich, tanzte sehnsüchtig hinter dem weißen Gitter der Zähne, des Augenblicks harrend, in dem sie endlich hervorstürzen durfte.

Durch den dichten Schleier der ungewöhnlich langen Wimpern hindurch beobachtete Isolanthis, die seit geraumer Zeit schlaflos gelegen und über ihren Traum nachgesonnen hatte, die komischen Zuckungen im dunklen Gesicht und das wütende Schaben der Finger im Urwald schwarzen Gekräusels. Plötzlich warf sie die leichte Wolldecke zurück und rief, sich aufrichtend, mit Scheinstrenge:

»Roxa – was muß ich denken? Hast du etwa … Läuse?!«

»Und wo, o Herrin, sollen die armen Tierchen leben, wenn nicht auf dem Kopf eines Menschen?« erwiderte die Sklavin, beglückt, ihrer Zunge freien Lauf lassen zu können.

»Die arme Brut hat mein Mitgefühl«, erklärte das junge Mädchen trocken, »dennoch ziehe ich es vor, die Tierchen, die dich so dauern, nicht ausgerechnet auf deinem Kopf zu wissen. Ich werde mir daher erlauben, der Ansiedlung an den Leib zu rücken …«

»Ist längst geschehen … längst!« unterbrach sie Roxa und machte sich eifrigst an den Gewändern der Gebieterin zu schaffen. »Colotli hat mich mit dem bitteren Saft der Herznuß eingerieben, bis ich an Stelle einer einzigen hundert Sonnen leuchten sah, und seither ist mein armer Kopf eine Einöde …«

»Von innen, möglicherweise …«, lachte Isolanthis, froh, die alte treue Dienerin wieder um sich zu haben, »denn Leute, die mit ihrer Zunge ununterbrochenen Lärm im Weltall machen, finden keine Muße, ihn zu füllen; doch was die behaarte Seite deiner Gehirnrinde betrifft, so ist sie wohl …«

»Unbewohnt … verlassen … leer wie eine gesprungene Tonvase, die kein Wasser mehr hält«, beeilte sich die Sklavin zu beteuern, »und sollten meine Finger unbewußt kopfwärts gefahren sein, so geschah es, weil die Gedanken mächtig herausdrängten …«

Das junge Mädchen hemmte den Redestrom, der sich zu ergießen drohte, mit der nüchternen Frage, ob das Wasser im Gartenbecken die Nachtkühle verloren und ob Ataxikitli sein Morgenbad schon genommen habe.

Erst am Rande des Beckens kauernd, kam Roxa endlich auf ihre Rechnung. Der Duft der zarten wächsernen Mondblumen umfing Isolanthis, als sie – selbst solch einer weißen Tempelblüte gleichend – im grünlichen Wasser des Beckens schwamm, in dem sich die höchsten Türme und Kuppeln der Stadt sonnenvergoldet spiegelten. Dreimal machte sie die Runde, dann schüttelte sie ihr tropfenbesätes Haar einem Mantel gleich aus, hob die Arme und verblieb reglos auf erster Stufe stehen, während ihre Lippen eher sangen als sprachen:

»Möge dein Licht, o Ewiger, unseren Pfad erhellen und mögen wir vor deinem Angesicht bestehen – o du Urquell alles Seins!«

Leiser, das Haupt demütig gesenkt, sang mit ihrer rauhen Stimme die Sklavin:

»O du Herz des Himmels, wende dich zu uns und verbreite hier dein Reifen und Grünen.«

Während Isolanthis ein ganz einfaches, weißes Kleid überwarf und das Haar, nachdem sie es eine Weile sorgfältig gebürstet hatte, zu zwei Gewinden drehte, die über den Rücken fast bis zu den Knien niederfielen, klapperte die Zunge der Dienerin ohne Unterlaß.

»O Herrin, Er, der über sieben Himmel herrscht, hat deine Schritte heimgelenkt zu uns. Furchtbares geht hier vor, obschon die Tore schimmern und die Silberbogen gleißen. Selbst auf deines Vaters Antlitz liegt ein Schatten wie eine Sturmwolke an schwülem Tag. Er weiß – –«, sie senkte die Stimme, »Colotli hat – – ihn – – geführt.«

»Es wurde mir Kunde«, erwiderte das junge Mädchen ausweichend, und machte gleichzeitig ein Zeichen, das diesen Gesprächsstollen sperrte.

»Wenn jemand stirbt«, Roxa schlug sofort eine neue Richtung ein, die ebenso fesselnd werden mochte, »hört man nun immer nach einigen Nächten ein merkwürdiges Scharren unten in der Totenstadt, und der alte Hüter des Heims der Mumien behauptet …«, sie rollte die Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar blieb, »daß … Leichen … verschwinden!«

»Wer weiß es, Roxa? Doch laß dich warnen. Erzähle nicht derlei Dinge in der verräterischen Breite der Straßen. Es tut nie gut, wenn man unvorsichtig das sagt, von dem man sagt, daß es ein anderer gesagt habe …«

Was immer an dem Gerede über Arototec wahr sein mochte oder nur der Ausfluß erhitzter und verschreckter Gehirne, eine Tatsache blieb: Der finstere Gelehrte gehörte zu den Menschen, deren Feindschaft gefährlich werden konnte.

»Es stimmt doch«, hauchte furchtsam die Dienerin, »daß schon einbalsamierte Leichen von Leuten aus dem dritten Wall oft verschwinden und in … nein, nein, ich nenne keinen Namen … getragen werden. Aber ich will darüber schweigen, als ob ich selbst schon zur Mumie geworden«, erklärte sie, sich scheu umsehend, als Isolanthis warnend den Finger an die Lippen hob.

»Ich fürchte, Roxa«, sagte die junge Herrin, ihre Gewinde schüttelnd, »daß man bei dir gezwungen sein wird, die Zunge herauszunehmen und in ein Sonderkrüglein zu tun, sonst werden aus der Totenstadt Tag und Nacht sonderbare Geräusche heraufklingen: ein Geklapper …«

»O Herrin«, lachte Roxa, daß die weißen Zähne funkelten, »das sagst du mir, bevor ich überhaupt noch den Mund aufgeklappt habe? Seit sieben Jahren brenne ich darauf, dir alles mitzuteilen, was sich ereignet hat. Dunkle Gerüchte tauchen auf, alte Vorhersagungen werden im dritten Wall gesungen, und über den Kuppeln des Palastes sah man drei schwarze Vögel kreisen; Vögel, die sich sonst nie der Stadt nähern. Das bedeutet Tod. Aber im Grunde wollte ich dir zuerst von meinem Colotli sprechen. Sein Herz ist weich wie Flaum, aber der Palmenwein und das Gerstenbier sind sein Untergang, und dann verweilt er weit öfter im Haus des Genusses als bei seiner alten Mutter oder im Stall bei den Elefanten …«

»Ach, dieses Haus des Vergessens, das die besten Menschen ihre Pflicht vergessen läßt!« klagte das junge Mädchen, mehr an sich selbst als an die Dienerin die Frage stellend, warum Naxitli diese Stätte berüchtigten Unflats nicht auflöse.

»Weil unser Herrscher alt ist«, entgegnete Roxa gedämpft, die braunen Ledersandalen an den Füßen ihrer Herrin verschnürend, »er blickt schon durch das rote Tor des Niedergangs in die stumpfe Schwärze des Totenmeeres.«

Isolanthis rüstete sich zum Gehen. Der Tag mit seinen Pflichten rief. Sie mußte einen Teil ihrer Entwürfe und Skizzen zu Daminophis tragen und deren beste Verwertung besprechen. Es drängte sie, wieder das Haus der Wissenschaften zu durcheilen, wohin Sembasa sie seinerzeit kurz nach dem Fest der blauen Flügel gebracht, und wo sie sich drei Jahre lang ernstesten Beschäftigungen hingegeben hatte, ehe sie nach dem Mondreich fuhr. Auch hoffte sie früher oder später Arototec zu begegnen.

»Du enteilst schon?« klagte Roxa ganz betroffen. »Wenn meine Zunge dereinst ins verklebte Krüglein soll, um endlich zur Ruhe zu kommen, so wird man deine Mumie mit goldenen Schnüren anbinden müssen, denn du gleichst dem Winde, der immer weht und nirgends bleibt.«

»Das Leben ist kurz«, über die Züge des jungen Mädchens flog ein Schatten, »und nicht jedem Menschen ist es gestattet wie Colotli, nur Luft in einem Netz zu fangen, anstatt zu arbeiten. Was sucht er, dem es gut geht, im Haus des Vergessens?«

»Sein Herz ist wie ein Honigtopf … alle Bienen fliegen ihm zu … und da freut auch er sich ihrer. Und er trinkt weder Palmenwein noch Gerstenbier so oft, wie du anzunehmen scheinst, o Gebieterin. Einmal oder zweimal im Wechsel eines Mondes, und da auch nur, um zu vergessen …«

»… wie träge er ist?« unterbrach sie Isolanthis streng.

»Nein, daß er lebt. In seinen Adern fließt das Blut seines Vaters, und die Leute des Mondreiches sind anders wie wir Schwarze. Sie finden ein Haar im Ei, und sie können weinen, weil sie die Mondscheibe im Wasser erblicken und nun fürchten, sie könnte zerrinnen. Er ist Sklave, ein Unfreier, das Ding eines anderen; das bedeutet Abfälle aus fremder Küche zur Nahrung, Arbeit, Schläge – – – und so trinkt er, um sich etwas vorzutäuschen, was nicht ist. Deshalb geht er ins Haus des Vergessens und lebt in einer Welt, die nur Trugwelt ist.«

»Bist du auch unglücklich, weil du Sklavin bist?« fragte Isolanthis betrübt.

»Ich? Ich bin vergnügt, denn mein Herz ist der Sockel deines Herzens, und ich bin das Gras unter deinen Füßen. Zudem gehöre ich nicht zu den Menschen, die düster in ihre Kummerwolke schauen. Ich pack' meine Wolke und dreh' sie um, so daß nur das Lichte an ihr meinem Blick begegnet.«

Eine Weile schwiegen Herrin und Dienerin, hierauf fragte Isolanthis nach einem kurzen Zögern:

»Besucht dein Colotli auch … die Höhle des tiefsten Erlebens …?« Ihr graute vor den Verirrungen, die das Volksdenken und Volksfühlen allmählich verseuchten.

»Nein … Colotli ist ein guter Mensch, selbst wenn er zuzeiten säuft … wer tut es nicht?« erwiderte seine Mutter, nahezu verletzt, »doch kennt er einen, der hoher Kaste angehört und dessen Worte Klang haben, einen Menschen, der sein Leben im Haus der Wissenschaften verbringt und der …«

»Wen meinst du?« Es klang sehr streng.

»Colotli sagte es mir. Es ist der Dichter mit den schwingenden Armen.«

»Tiritec, der Hofdichter?«

»Ja … Tiritec.«

Isolanthis schien es unausdenkbar, daß ein Mensch, der seine Gedanken in Melodie verwandeln konnte, der durch die heiligen Hallen da oben schritt, seine Nächte in düsteren Räumen verbringen sollte, wo Tiere …

»Roxa, es kann nicht sein! Wie dein Colotli liebt er wohl nur, weil er Dichter ist und seine Seele stark schwingt, den Reiz der roten Frauen.«

»Er verachtet ihn nicht«, gestand Roxa ein, »denn er tanzt mit den roten Blumen da unten, aber viel lieber verschwindet er mit anderen in der Höhle des tiefsten Erlebens …«

»… die unser Untergang ist!« seufzte das junge Mädchen. Die Heimkehr war schwer und bitter.

»Du wirst ihn sehen«, rief die Sklavin der Enteilenden nach, »dein Blick ist scharf und dein Herz ist kühl; du wirst in seinen schlaffen Zügen lesen …«

Traurig schritt Isolanthis dem Haus der Wissenschaften zu.

Über dem Schweigsamen glühte die Wolke im Mittagslicht.


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