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Im Haus der Wissenschaften

Einmal im Freien dahinschreitend, gewann die Spannkraft der Jugend wieder die Oberhand, und die Gangart wurde beschwingter. Die geheimnisvollen Zeichen an den Riesengebäuden genießend, ebenso wie die jähen Durchblicke auf Türme, Kuppeln und Mauerwerk, eilte Isolanthis dem Haus der Wissenschaften zu. Auf den unzähligen Silberbogen lag blendend der Mittagsglast.

Drei Türme, einer unter dem anderen, da das Hauptgebäude im zweiten Wall begann und das letzte Gebäude unten, weit drinnen im dritten Wall, endete, drei goldene Kuppeln mit den drei unerläßlichen Zacken darauf und vorn ein riesiger Torbogen in hoher Mauer: das Haus der Künste und Wissenschaften.

Nun flog sie, genau wie damals um die Frühlingsgleiche ihres Seins, durch die endlosen Gänge bis zu einer abzweigenden Treppe und diese hinauf, bis sie tief atemholend vor der Halle erhabenen Wissens stand und vorsichtig den bemalten Binsenvorhang beiseiteschob, um hindurchzugleiten. Es war der Raum, in den der Weise sie zuerst geführt, als er ihr die Tore des Wissens zu öffnen beschlossen hatte.

Langgestreckt, beinahe eiförmig, sehr hoch und licht, der Fußboden mit farbigen Steinen reich ausgelegt, den Wänden entlang die breiten Fächer aus Orichalcum für die Tafeln und Bücher, und davor die riesigen Blöcke, die allgemein Tische ersetzten und um die sich kleinere Steinblöcke als Sitze reihten – alles genau wie vor zehn Jahren. Selbst die Gesichter der meisten Leser waren ihr bekannt, höchstens, daß einige Furchen mehr vom Stift der Zeit eingeritzt worden waren.

In der Mitte des Raumes war das wundervolle Standbild der göttlichen Weisheit, zu dem Isolanthis so oft aufgeschaut hatte. Die Füße der Riesengestalt ruhten auf dem Blau des Himmels, doch trug der Sockel unten eine grüne Umrandung, die Erde andeutend, und an der Vorderseite flogen auf silbernem Grunde sieben Vögel in geschlossenem Kreis, die sieben Schwingungskräfte im Weltall versinnbildlichend. Ein tiefblauer mit Sternen übersäter Mantel umwallte die Figur, auf deren Haupt die Sonne, überragt vom Halbmond, ruhte, und in den wie zum Segen erhobenen Händen hielt die göttliche Weisheit ein goldenes Band, das zur Kette wurde, sich folglich zum Kreis schloß. Die Einheit ist ohne Anfang und ohne Ende … Verklärte Ruhe ging vom hehren Antlitz aus, von dem herab das Haar als glitzernder Strahlenstrom bis auf die Schultern flutete.

Die Tafeln, die von Glaubenssachen handelten, trugen alle drei goldene Zacken obenauf und drei Wellenlinien aus eingelegten Türkisen darunter. Priester saßen an diesen Fächern, über das weiße Tuch den blauen Reifen gezogen, der kronenartig das Haupt umrahmte und über der Stirn einen hohen Dreizack bildete.

Torototec, der früher Priester im Poseidontempel gewesen und der nun Thronratgeber war, erkannte sie und winkte ihr.

»Ich hoffe, o Isolanthis, daß dir deine Kenntnisse der alten Sprachen nicht verlorengegangen sind, während du im Reich der Wilden das Mark von Stachelpflanzen verzehrtest und dir die Wellen eines fremden Meeres die Zehen netzten. Du hast junge Augen. Vermagst du zu entziffern, was hier eingeritzt steht? Die Zeichen verwischten sich im Laufe der Jahrhunderte, und meine Augen, vor kurzem noch adlerscharf, gleichen heute denen einer Eule in der Stunde des Sonnenhöchststandes.«

»Die Zeichen sind schwer erkennbar«, sagte Isolanthis, sich über die verwitterte Steintafel neigend, »doch ist mir die Stelle aus unserem Zeitbuch wohlbekannt. Du weißt ja, daß ich vor meiner Abreise alle Inschriften auf Ledertafeln übertragen habe und daß Daminophis die Verzierungen ausführte.«

»Ich erinnere mich in der Tat. Sembasa half dir beim Entziffern. Lies also, da du mit dem Inhalt vertraut bist!« Ein ganz leichter Unwille färbte den Tonfall. Frauen verkörperten die Erde, waren die Empfangenden und Gebärenden, kurz das Seelische im Sein, Männer dagegen stellten den Himmel dar, waren die Befruchter, das Geistige im All, und es behagte ihm nicht, daß dieses junge Mädchen die alte Weltordnung auf den Kopf stellte. Andrerseits mußte Sembasa einen besonderen Grund zu dieser Verschiebung der Werte gehabt haben, und daher ließ er seine Ansicht nicht laut werden. Isolanthis erriet sie jedoch und lächelte kaum merklich, als sie die nahezu verwischten Worte in Rmoahal zu lesen begann:

»In diesem, dem großen Zeitalter der Verwüstung zerbarst die Erde, um in ihrem Schoß – – – dem zerrissenen, dem verstümmelten … das Kind zu bergen, das sich der Mutter schon lange sehnend genähert hatte …«

»Als der Mond einbrach …«, sagte Torototec sinnend.

»Da schäumten die Wasser, da flohen die Menschen auf die Gipfel der Berge, an das Ende der Welt, ja … an das äußerste Ende der Welt …«

»All das geschah«, erläuterte der Thronratgeber, »als der Frühlingspunkt der Erde nicht länger in der Waage, sondern in der Jungfrau lag. Am Schluß des Zeitalters …«, und er schaute streng prüfend zu Isolanthis auf, »nun welches Sinnbild war da im Entstehen?«

»Das Haupt der Jungfrau auf dem Leib des Löwen …«

»Du hast deine Jugend nicht vergeudet«, spendete er sparsames Lob. »Lies weiter!«

»Es sanken die Wasser allgemach, es bebte die Erde, es flammte der Himmel, die Menschen stiegen von den Höhen nieder, sie tauschten ihre Güter, sie trennten Klares vom Unklaren …«

»Das will sagen: ihre Weltanschauung festigte sich, nahm bestimmte Formen an, entsprang nicht mehr ausschließlich gefühlsmäßigem Handeln, sondern das Tun beruhte von da ab auf Überlegung …«

»Es verebbten die Wasser, es grünten die Hänge, es vermehrten sich Tiere und Vögel, es lagerten Menschen nebeneinander wie im Zeitalter der beiden Schlangen …«

»Verstehst du?«

»Ja, Leute siedelten sich in Gruppen an, feste Wohnsitze entstanden, das Gemeinschaftsleben trat in den Vordergrund wie schon einmal, im goldenen Zweischlangenzeitalter …«

»Was deuteten die beiden Schlangen – unter anderem – an?«

»Die Gegensätze in der Erscheinungswelt: Ich und Du, Schlaf und Wachsein, Licht und Schatten, Ruhe und Bewegung …«

»Gut. Ich glaube, damit endet die Inschrift. Zu schade, daß die Zeichen auf den übrigen Tafeln schon völlig verwischt sind …«

»Sembasa half mir damals, sie dennoch zu entziffern. Jedenfalls schrieb ich viele Bruchstücke ab. Manches trug ich später zu Arototec, der die spärlichen Zeichen ergänzte. In meinem Buche daheim stehen sie, deshalb erinnere ich mich ihrer. Es kostete mich nämlich recht viel Mühe«, sie lächelte unwillkürlich, »die undeutlichen Buchstaben klar und deutlich mit dem Stift einzuritzen, da mir die Handhabung noch nicht sehr geläufig war. Auf Wachs schreibt es sich leichter als auf Leder.«

»Und Arototec dürfte kaum ein geduldiger Lehrmeister gewesen sein«, sagte Torototec belustigt, die Hand auf der Steintafel.

»Ich wollte ihn gerne zufriedenstellen, daher zeichnete ich daheim stundenlang im Sande so lange die schwierigen Zeichen im Rmoahal, bis sie mir endlich gelangen, doch geschah es immerhin zuzeiten«, diesmal lachte sie ein leises, klingendes Lachen, die feierliche Stille des Saales so wenig störend wie der Klang einer Mondharfe, »daß mir ein sehr verschlungener Buchstabe gar nicht gelingen wollte, und da pflegte Arototec allerdings verärgert auszurufen: ›Ein Tapir im Tempel und deine Schrift auf Leder‹ …«

»Da warfst du dich ihm wohl weinend zu Füßen?« forschte Torototec, sie betrachtend.

»Ich?! Keineswegs. Ich nahm ihm die getadelte Probe weg und kam erst wieder, bis ich eine ganz tadellose vorzuweisen hatte. Meist suchte ich Rat bei Sembasa, der nie ungeduldig wurde.«

»Lobte dich Arototec, wenn dir die Arbeit gelang?«

»Nein. Er sagte nur ganz kühl: ›Schreib weiter!‹, doch ich wußte, daß er sich freute, und wenn es Neues zu erlernen gab, war ich die erste, der er es beibrachte.«

Ihr Ton war warm geworden.

»Er hat wenig Freunde in der Stadt der goldenen Tore«, und es war Isolanthis, als prüfe Torototec ihre eigene Anschauung, wohl um zu erfahren, ob man sie schon feindlich beeinflußt hatte. Ruhig entgegnete sie:

»Gegen mich war er immer gut …«

»Bewahre ihm deine Dankbarkeit«, sagte der Thronratgeber um vieles wärmer als zuvor, »denn Menschen gleichen dem Monde: sie haben ihr Licht und ihr Dunkel, und weder das eine noch das andere ist so tief, wie die Mitwelt es zu sehen vermeint …«

Doch als Isolanthis den Finger grüßend an die Stirn legte, rief er sie zurück:

»Wie lauteten jene wenigen Worte auf gebrochener Tafel?«

»Die Lichtträger … stoßen auf … die Söhne der Finsternis.«

»Ja«, seufzte Torototec, »in das Zeitalter der Hand fiel unsere erste Begegnung mit fremden Rassen … nicht zu unserem Vorteil.« Er schob die Tafel in ihr Fach aus Orichalcum zurück und nickte Isolanthis zu, die lautlos den bemalten Binsenvorhang hob und durch einen schmalen Gang in die übrigen Abteilungen schlüpfte. Im ersten Raum saßen, wie sie wußte, die Gelehrten und schrieben an der Geschichte des Landes. Alle Entdeckungen mußten ihnen mitgeteilt, noch unbekannte Tiere und Pflanzen nach Begutachtung und Einreihung im Untersuchungsteil des Hauses hier vorgezeigt werden; jede Erfindung wurde hier beschrieben, alle wichtigen wissenschaftlichen Versuche hier eingetragen, alle bedeutenden Vorkommnisse den Jahresberichten beigefügt. Auch über Winde und Wetter, über ungewohnte Erscheinungen wurde sorgfältig Buch geführt. Die laufende Jahresgeschichte wurde mit messerscharfem Stift in steife, dunkelbraune Ledertafeln geritzt, deren Anfangszeilen im Raume nebenan schön verziert und je nach Inhalt verschiedenfarbig bemalt wurden. Um einen Riesensteinblock sitzend, die weißen Schalen mit reiner Grundfarbe dicht vor sich, waren die Berufsmaler tätig. Einige zeichneten neue Tierarten, andere malten fremde Blumen, die eben aus den Ansiedlungen im Westen oder im Osten geschickt worden waren, mehrere Künstler arbeiteten neue Entwürfe probeweise in Farben aus und begutachteten neue Farbzusammenstellungen.

In einem kleinen Gemach, durch einen Spalt im Mauerwerk erleuchtet, saß ein Mann von mittleren Jahren allein und schrieb. Die Züge verrieten etwas Unruhiges und Schlaffes zu gleicher Zeit, und zwei Querlinien unweit des Mundes störten den Ausdruck von Vertiefung, der Rassekennzeichen der höchsten Kaste war. Bei Isolanthis' Eintritt flammten seine Augen jäh auf und seine Arme bewegten sich wie Vogelschwingen.

»Poseidon segne dich, o Tiritec«, rief das junge Mädchen ihm zu. »Wie viele Helden und Heldentaten hast du besungen, seit ich im Schatten fremder Bäume und unter Menschen fremden Glaubens gewandelt bin?«

»Von den Drachenbekämpfern nach der Erdeisschmelze bis herab zu Arototec, dem Helden der Gegenwart«, erwiderte er trocken. Seine Bitterkeit überraschte Isolanthis.

»Warum sprichst du von Arototec … so?« fragte sie ohne Umschweife.

»Weil er …«, doch sich unterbrechend, fegte er von den beiden Steinsitzen seine Aufzeichnungen sowie die fertigen Arbeiten einfach auf den Fußboden und bedeutete ihr Platz zu nehmen, während er selbst ruhelos auf und ab lief und mit den Armen in alle Himmelsrichtungen ausschlug. Plötzlich neigte er sich tief zu ihrem Ohr herab und flüsterte ihr zu:

»Weil er zum allbeherrschenden Dämon geworden ist …«

»Seine Wünsche gipfeln wohl darin, unser Wissen und unsere Macht fittichgleich über alle Welt zu breiten, wie ein Vogel die Schwingen über sein Nest spannt. Das mag sein. Er war immer ehrgeizig.«

»Fittichgleich? Schützend wie ein brütender Vogel?« spottete Tiritec. »Ein Raubvogel ist er, der mit seinem Schnabel jedem das Genick zu brechen wünscht, der sich seinem maßlosen Ehrgeiz in den Weg stellt …«

»Wie mir mein Vater erzählte, wurde er kürzlich von Naxitli, dem Getreuen, zum Thronratgeber ernannt. Damit hat er sein Ziel wohl erreicht. Als Erfinder klingt sein Name von Land zu Land …«

»Sein Name? Ja.« Ein Zug von Neid verunschönte das Gesicht des Hofpoeten. »Aber wenn du seinen Ehrgeiz nun befriedigt glaubst, so irrst du. Bisher wirkte er im Dunkeln; als Berater der Krone wird er im Licht handeln, ganz besonders in dem Falle …«

Er blickte sich wie in aufquellender Angst um, schlug den Vorhang zurück, spähte hinaus auf den langen schmalen Gang und flüsterte dem jungen Mädchen überstürzt zu: »Warte ab, bis Naxitli die Augen schließt und Etelku König wird. Das ist der Zeitpunkt von Arototecs Macht. Weh uns!« vollendete er mit schauspielerischer Gebärde, wobei ihm der Stirnreifen herabglitt und in einem Haufen aufgetürmter Ledertafeln verschwand.

Während er darin nach dem verlorenen Gegenstand suchte, sagte Isolanthis, mit Mühe ein Lächeln unterdrückend:

»Mein Vater hegt ähnliche Befürchtungen, doch mir wollen sie unbegründet scheinen. Arototec ist zu klug, sein großes Wissen zu mißbrauchen. Er kennt vor allem zu genau die Folgen begrenzter Handlungen im Reich des Unbegrenzten. Wer will Giftsamen mit vollen Händen ausstreuen, der die kummervolle Ernte voraussieht?«

»Er hofft, alle Mächte zu besiegen – die guten und die bösen.«

»So handelt ein Narr, doch so wird nie ein Mann von solchem Wissen handeln«, erwiderte sie sehr bestimmt.

Tiritec blieb dicht vor ihr stehen, den eroberten Goldreifen wieder um die Stirn, doch das Gesicht feindlich verzogen. Seine Arme flogen wie Äste im Sturm, als er sie warnte:

»Sei auf deiner Hut! Er hat im Vorfrühling deines Weibtums großen Einfluß auf dich ausgeübt und heute … heute …« keuchte er, das Tuch ordnend, das seine heftigen Bewegungen seitlich herabgerissen hatten.

Isolanthis lächelte ein ruhiges überlegenes Lächeln, das Dichter und Warnungsworte gleich umfaßte.

»Ich fürchte seinen Einfluß nicht. Viel habe ich von ihm gelernt, und zu großem Dank bin ich ihm verpflichtet; über mein Innerstes hat niemand Gewalt. Ich bewundere ihn. Sein Geist ist eine Fackel, die Schluchten erhellt, vor denen andere Sterbliche zurückschrecken.«

»Schluchten finsterer Begierden, Abgründe zwischen einem Entwicklungsstrom und dem anderen …«

»Er würde gewiß nie«, und ihre Stimme wurde plötzlich sehr kalt, »in die Höhle des tiefsten Erlebens steigen, und glaubst du in der Tat die albernen Zaubergeschichten, die im Volke allgemein im Umlauf sind? Er versucht sich die Strömungen in Luft und Wasser, in Erde und in Licht dienstbar zu machen, er lauscht der Natur wohlgehütete Geheimnisse ab. Was sie nicht gibt, das darf er nicht nehmen. Du weißt es.«

»… er unterwirft alle seinem Willen«, entgegnete Tiritec ausweichend und blindlings im kleinen Gemach auf und ab rasend, »alle!«

»Wer sich ihm fügt«, lächelte das junge Mädchen nur. »Ich kann es mir gut denken, daß er seinen Spaß daran haben mag, auszuforschen, wer ihm zu widerstehen vermag. Wenn du dich ihm unterwirfst …«

»Ich?! Nie. Dennoch fürchte ich ihn. Er hat etwas an sich, das zwingend ist …«

»Er durchschaut die Menschen und, ihre Schwächen sofort erkennend, benützt er diese als Handhabe.«

»Schon …«, sehr zögernd klang es, doch nach einem Augenblick sprang er förmlich auf sie zu und zischte eher als daß er flüsterte:

»Er mißbraucht nicht nur seinen Willen, er mißbraucht auch Menschen, lebende Menschen, zu Versuchszwecken …«

»Bah …«, erklang es höchst ungläubig.

»Ich will dir etwas erzählen«, seine Stimme wurde zum Hauch. »Wie du weißt, sieht man vom ersten Turm des Heims der Wissenschaften auf den Turm von Arototecs Haus. Am Abend steige ich gern auf die Kuppel, weil ich da ungestört meinen Gedanken folgen kann. Da ist der Sternenschein meine Lampe, der streifende Wind mein Gefährte, das Meer mit seinem Wellenschlag meine Harfe, zu der ich singe. Wie Sternenfalter entschweben da meine unsterblichen …«

»Ich vermute kaum, daß du den Turm deines Gegners besingst«, sagte Isolanthis trocken. Tiritec dichtete gut, aber das berechtigte ihn ihrer Ansicht nach zu keinerlei Selbstlob. Gute Dinge fanden immer gute Richter.

»Natürlich nicht«, erwiderte er gekränkt. »Immerhin, da sitze ich in stillen wie in stürmischen Nächten, am liebsten, wenn die Wolken wie verfolgte Llamas über das Schwarzblau des Himmels stieben und das Meer schäumt und zischt und raubtiergleich …«

»Und?«

»Du hast die ungute Art unseres Erfinders«, sagte Tiritec unwirsch. »Wenn ich ihm etwas zu erzählen habe, unterbricht er mich ebenso eisig wie du mit einer Frage, die sich kalt wie ein Frosch anfühlt. Aber um es dir nüchtern mitzuteilen …«

»Ich höre.«

»In solchen sturmvollen Nächten eben erspähte ich nun schon mehr als einmal einen seltsamen Vorgang auf Arototecs Turm. Es war wie ein Schattenspiel. Etwas Dunkles raste von unten die freie Steintreppe hinauf, flog rund und rund um die offene Galerie der Kuppel und bewegte die Arme wie ein Wahnsinniger. Hinter ihm her flog eine zweite Gestalt, bemächtigte sich seiner, rang ihn nieder, und daraufhin vernahm ich einen unmenschlichen Jammerschrei, der das Blut in meinen Adern gerinnen ließ.«

»Und … dann?«

»Nur das laute Zuknallen einer Falltüre oder einer Klappe. Ein Laut, der dem Dröhnen fernen Donners gleicht.«

»Was es gewesen sein mag?« Zum erstenmal war Zaudern in ihrer Stimme. »Vielleicht hatte nur ein Diener …«

»O nein«, unterbrach er sie frohlockend, »kein Diener und kein Sklave! Ahnst du es nicht? Doch wie solltest du auch, nachdem du so lange entfernt geblieben. Wenn ein Verbrecher, der nicht von unserer eigenen Rasse ist, zum Tode verurteilt wird, übergeben die zweiundvierzig Thronratgeber ihn, auf königlichen Befehl hin, Arototec zu wissenschaftlichen Versuchen. Scheint es dir recht, einen Menschen, und wäre er gleich ein elender Verbrecher, langsam und auf denkbarst unheimliche Art zu Tode zu quälen?«

Isolanthis schwieg. In sieben Jahren waren in ihrem lichten Land viele dunkle Schatten aufgestiegen wie Wolken über sonniger Landschaft. Es war ihr unmöglich, heute schon ein Urteil zu fällen. Da war der Dichter, der das Schönste und Größte in Versen festzuhalten bestimmt war, um diesen Schatz den künftigen Geschlechtern zu erhalten, und begab sich doch im Haus des Genusses in die Höhle …

»Bleibe gesund!« sagte sie still, sich erhebend und den Vorhang beiseiteschiebend, denn sie vermochte es nicht, den üblichen Segenswunsch zu sprechen.

»Hüte dich vor dem Herrn der lichtlosen Sterne!« rief er ihr nach, und es war ihr, als läge etwas wie Frohlocken in der Stimme des Dichters.

Sehr nachdenklich durchwanderte sie die weiteren Säle, bis sie im Haus der Künste den sonnigen Daminophis fand und ihm einen Teil der gesammelten Skizzen überreichte.

Auf dem Heimweg dachte sie betrübt:

»Alle sind sie wie ausgewechselt, selbst Daminophis. Und wenn auch manches leeres Furchtgemunkel sein mag, was um Arototec kreist – wo so viel düsterer Rauch ist, muß notgedrungen auch etwas Feuer sein.«


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