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Zweites Buch
Der Stamm


Der Einzug

Wie flugmüde weiße Vögel sank Segel auf Segel. Das mit kostbaren Teppichen behangene Schiff glitt kaum merklich über das abendlich gefärbte Wasser. Hellgrün eher als blau und von seltsamer Leuchtkraft war der Himmel, zu dem schwindelnd hohe Berge emporstrebten. Über den beiden höchsten Gipfeln lag gleich breiter Goldkrone eine schwefelgelbe Wolke, in diesem Augenblick in die Glut sinkender Sonne getaucht.

»Wie schön, wie märchenhaft schön«, seufzte Pharao Ramon Phtha und schaute überwältigt auf die Felsen, die – Riesen aus Urzeittagen gleich – wie unerbittliche Steinwächter rechts und links vom Ankerplatz standen und einen weithin sichtbaren Dreizack aus Gold trugen. Breite Treppen führten den Berg hinauf, ebenfalls von hohen, kunstvoll behauenen, mit geheimnisvollen Zeichen verzierten Felsblöcken begrenzt. Viele braune Barken mit Fischkopf und Fischschwanz, ebenso wie alles den Dreizack von Poseidonis tragend, schaukelten wie ruhende Möwen auf den Wellen, und eine Anzahl prachtvoller Schiffe füllte die große Bucht.

Das Fahrzeug, auf dem der Pharao stand, trieb dem Landungsdamm näher und näher; geschäftige Sklaven warfen große Teppiche auf das Brett, über das der junge König schreiten sollte, doch er selbst sah nichts als das Wunder vor sich. Hundertmal hatte er von der Stadt der goldenen Tore schon Unglaubliches gehört und sich bemüht, die phantastischen Beschreibungen in ein Bild zu verwandeln, doch erst in diesem Augenblick begriff er, warum es ihm nie gelungen war. Um das zu fassen, mußte man so stehen, wie er es nun tat, den hohen Berg vor sich, den Widerschein der scheidenden Sonne auf Kuppeln und Türmen aus Gold, hoch oben Palast und Tempel vom schimmernden Wall wie von einem Riesenring umschlossen, darunter von den aufwärtskriechenden Schatten schon bläulich umsponnen die feingezackten silbernen Bogen vom ersten zum zweiten Wall, und noch tiefer, klarer sichtbar, geradezu erdrückend, die Riesenbauten, verschiedenartig gefärbt, von eigentümlichster Form, oft mit Riesenzeichen verziert, oft sonderbare dolchähnliche Spalten aufweisend, die – wie er später erfuhr – Fensteröffnungen waren, und all diese Wunder von berghohen Wällen umsäumt, von Riesentoren unterbrochen. Alles, was zum obersten Wall gehörte, und alle öffentlichen Bauten trugen die drei goldenen Zacken, und die Riesenpfeiler des Silberrundwegs um den zweiten Wall stellten Fischleiber dar. Ihre Silberschuppen schimmerten weich durch das Frühdämmern. Ein märchenhafter Anblick – tief, unvergeßlich, beinahe erdrückend durch das Überwältigende des Gezeigten, und dennoch …

Vielleicht war nur das der Grund, warum Pharao Ramon Phtha mit dem Beinamen der Tapfere von plötzlicher Trauer oder einem unerklärlichen Angstgefühl gepeinigt wurde.

»Mein Leben steht vor bedeutsamer Wende«, murmelte er. »Eine unendliche Macht geht von dieser wunderbaren Stadt aus. Diese Bogen scheinen mich mit Zauberkraft festhalten zu wollen, diesen Bauten entströmt es wie Warnung, diese goldenen Kuppeln winken und drohen. Wie der Wächter der Unterwelt, schön und furchtbar zugleich, ist dieser Ort, vor dem meine Seele zurückschreckt. Sie trauert um etwas, das sie noch nicht weiß. Leidvolle Schatten senken sich auf mich. Mein Geist bebt zurück …«

Das Brett lag fest, oben, auf dem ersten Treppenabsatz, wartete man.

»Amon Ra«, sprach er, als er den Fuß auf die fremde Erde setzte, um jeden bösen Einfluß dadurch zu brechen, und stieg hierauf langsam die breite Felstreppe empor. In seinem hellroten, reich gestickten Rock, der nicht ganz bis zu den Knien reichte, mit den roten Sandalen, deren Bänder zierlich die Schenkel umwanden, mit dem Dolch im breiten Gürtel, den schlangenartigen Armreifen aus Gold, dem Riesenring am Zeigefinger, und um das Haupt, dessen Haar gleichmäßig geschnitten und stark geölt bis zu den Schultern fiel, die Krone als Goldreifen, der vorn eine merkwürdige Verzierung mit dem Löwenkopf trug, mit der prunkvollen breiten Halskette und seiner starken jugendlichen Anmut glich er einem Märchenprinzen.

Als er den Treppenabsatz erreicht hatte, sagte er kurz:

»Pharao Ramon Phtha.«

Aus dem edelgeformten, bartlosen, rotbraunen Gesicht leuchteten auffallend große, schwarze Augen, in denen unverkennbarer Stolz lag.

Der erste Thronratgeber löste sich aus der Gruppe weißer Gestalten und trat auf den hohen Gast zu. Das Abendlicht warf einen sonderbar roten Schein über das weiße Gewand und die langen blauen Fransen des Gürtels und ließen den Pharao an fließendes Blut denken. Wie alle Thronratgeber trug auch Arototec den langen Stab mit dem goldenen Dreizack in der Hand, doch wurde die Strenge seiner Züge und das Ablehnende seiner Haltung von keinem seiner Gefährten erreicht, obschon eine gewisse kalte Starre alle Gesichter kennzeichnete. Den jungen König der dunklen Erde durchrieselte es kalt, als Arototec die Begrüßungsrede begann. Wie ein unklares Seelenerinnern durchbebte es Ramon Phtha beim Anblick des Poseidoniers, und eine jähe, unbegründete Abneigung schlug in ihm hoch. Er schaute mit einer Art von Grauen, gegen das er mutig ankämpfte, in diese unergründlichen Augen, in denen hoffnungsloses Leid gepaart mit unerbittlicher Grausamkeit schlummerte, die jedoch unwiderstehlich wie ein Magnet anzogen. Wer ihrem Bann verfiel, der kam nimmer los.

»Er hat einen kalten Mund«, dachte Pharao Ramon Phtha, »und sein Herz muß einer Mumie gleichen. Er spricht sogar die Sprache seines eigenen Landes hart …«

Als ihn der erste Thronratgeber den zweiten Felsabschnitt hinaufgeleitete, auf dem in malerischer Tracht die Krieger seiner harrten – alle in kurzen blauen Röcken mit goldgelber Verzierung auf der Brust, im breiten Gürtel den Dolch, in den Händen prachtvoll verzierte Sperre oder Lanzen, um die hohe Stirn ein Band aus Orichalcum, das bläulich schimmerte, die langen Kopftücher von ähnlichem Farbton –, begann das Volk, das dunkel gekleidet war und fast vermummt wirkte, seine lauten und dennoch beherrschten Begrüßungsrufe –

»Ramanatu … Ramanatu …«

»Es gelingt ihnen wohl nicht, meinen Namen richtig auszusprechen«, überlegte der junge Pharao, während er in den Prunkwagen stieg, den zwei weiße Llamas zogen, auch eine Tierart, die er bis dahin nie gesehen hatte. Der Wagen war weißlich und glich im Bau einer langgestreckten Muschel, die vorn stark zurückgerollt schien, und die zwei etwas plumpe, mit Blau und Gold verzierte Räder hatte. Kühn und sicher stand ein schöner Jüngling, kurzrockig, mit hellblauem, goldumsäumtem Kopftuch, das nur bis zu den Schultern fiel, im schaukelnden Gefährt und lächelte ihm freundlich zu.

»Prinz Daminophis«, erklärte Arototec, und seine Stimme klang wie Wasser, das über Geröll fließt.

»Sei willkommen in der Stadt der fließenden Wasser, o Ramanatu«, rief der Jüngling, und Ramon Phtha atmete erleichtert auf. Er hatte schon ernstlich zu fürchten begonnen, daß in diesem Lande alle Menschen wie Gestalten aus Stein umhergingen.

»Ra segne dich!«

Der mit hellblauen Kissen bedeckte Sitz war weich, aber etwas schaukelnd, und der junge König überdies von seiner Würde noch sehr erfüllt, daher saß er steif wie ein Tempelstandbild da, die flachen Hände regungslos auf den Knien haltend, das Haupt stolz zurückgeworfen, die Züge unbewegt, klug sein Staunen verbergend. Über den festen Boden aus graurötlichem, stellenweise fast schwarzem Gestein rollte die Prunkmuschel langsam hügelan, dicht vor ihr in feierlicher Gangart die zweiundvierzig Thronratgeber, immer sieben und sieben in einer Reihe, den goldenen Stab in der Hand, die Züge unbeweglich, hinter dem Wagen fremde, dunkelhäutige Sklaven, in schimmerndes Rot gekleidet, eine Feder im Stirnband, und dahinter wieder eine Abteilung Krieger mit Lanzen und Speeren, denen sich des Pharaos eigenes prunkvolles Gefolge anschloß, durch weitere Krieger vom Schwarm der Neugierigen getrennt. Ein herrlicher Zug im letzten Vergluten des Tages.

Nie hatte er solche Bauten auch nur geträumt. Wie Staub war er dagegen. Die blendenden Sonnen in den hohen, sich nach oben verengenden Torbogen waren riesengroß, und die Zeichen an den bunten Mauern, die sehr häufig ein eigentümliches Blaugrün aufwiesen, wuchsen ins Riesenhafte, ob sie nun in goldenen Umrissen gemalt oder tatsächlich in Farbe gehalten waren. Da sah er ein gesenktes Auge, von einem Strahlenkranz überragt, zu dem zwei Frauengestalten die Hände erhoben und über dem drei Wellenlinien – alles in Gold – liefen.

»Das ist unser Gerichtsgebäude«, erklärte Prinz Daminophis, »das Auge bedeutet Gerechtigkeit, die Wellenlinien die erleuchtende Kraft Gottes, die Frauengestalten die bittende Menschheit.«

Am nächsten Bau, der ebenfalls wie ein Turm in die Höhe ging, sah Ramon Phtha einen ungeheuren Widderkopf von allerlei erstaunlichen Zeichen umgeben, und erinnerte sich, daß die Poseidonier nun im Widderzeitalter waren. Seine eigene Zeitrechnung wich in vielen Dingen von der atlantischen ab, doch auch bei ihm hatte das Jahr dreihundertfünfundsechzig Tage, die auf zwanzig Wochen von je dreizehn Tagen verteilt wurden.

Zuzeiten entstand zwischen den Bauten ein Durchblick, und da blickte er über das Gefunkel goldener Türme und Kuppeln auf dunstumwobene, weiche Hügelketten, oder, wenn der Durchblick die Ebene erkennen ließ, auf die beiden riesigen, von Eiben begrenzten Pyramiden, die Sinnbilder der Wiedergeburt.

Von Wall zu Wall ging die Fahrt, durch Tor auf Tor, dicht unter den Silberbogen hindurch, die aus einer Anzahl feiner Silberzacken zusammengesetzt schienen, so riesenhaft und so zart zugleich, daß dafür jeder Ausdruck des Entzückens zu schwach war.

»Als ob Weltraumgeister diese Stadt gebaut hätten«, dachte der Pharao ganz benommen. Sein eigener Palast daheim galt als Prachtwerk weit und breit, das zu erbauen siebzig Menschenjahre und unzählige Horden von Arbeitern erfordert haben sollte, und dem von einem Seher eine Bestehungsdauer von siebentausend Jahren vorausgesagt worden war, aber gegen diese Wunder blieb sein Palast nur eine Hütte.

Nun rollte die Muschel über den ungeheuren Palasthof und hielt vor der Freitreppe. Daminophis warf die blauen Zügel einem Sklaven zu und geleitete den Pharao bis zum geschmückten Eingang, vor dem der König und die Erbprinzessin, umgeben von den Thronratgebern, seiner harrten.

Als Ramon Phtha die Augen aufschlug, ging es ihm wie ein Stich durchs Herz.

Gleichzeitig begrüßte ihn der Herrscher von ganz Atlantis mit merkwürdig tonloser Stimme und fügte dem Willkommen die Worte hinzu:

»Meine Tochter, die Erbprinzessin Isolanthis.«

Während der Pharao vor ihr ein Knie beugte, dachte er ununterbrochen:

»Sie trug einen anderen Namen … ich kenne sie … ja, ich kenne sie … wie hieß sie nur?« Und wieder, gequält, als er sich erhoben hatte: »Ich kann ihren Namen nicht finden …«

Die Einzelheiten des feierlichen Empfangs und des Begrüßungsmahles glitten schattenhaft an ihm vorüber. Er blickte immer wieder unverwandt auf das zarte Gesicht unter dem mit Türkisen besetzten Stirnreifen, und sagte sich mit einem Staunen, in dem Betrübnis, Mitleid und ein stärkeres Gefühl als diese beiden kämpften:

»Ihre Augen sind ernst, wie leidüberhaucht. Sie ist schön, ach so schön, ganz anders als die Frauen meines eigenen Landes. Sie hat die Seele einer Priesterin …«

Zu später Stunde führte ihn Daminophis hinab durch den geheimen Gang, den nur die Gäste des Königs benutzen durften, in das Haus der Fremden, in dem er nun wohnen sollte. Es war hell erleuchtet, und zehn viereckige Riesenlavasäulen standen davor. Zwei Wächter hüteten die Schwelle, und in der großen Empfangshalle jagten goldene Drachen über mit Türkisen und grünlichen Steinen reich eingelegte Wände. Über eine breite Treppe ging es hinauf in einen weiten, hallenartigen Gang, in dem verschiedenfarbige Lichter brannten.

»Welche Räume bewohnt der königliche Gast?« erkundigte sich Daminophis.

»Er wohnt im roten Licht …«, entgegnete der Diener, sich tief verneigend.

Der größte Künstler von Poseidonis schritt dem Pharao voraus. Nach rechts und links hin zweigten Gemächer ab, und zwar immer in Dreiecksform. Der Eingang lag an der Hauptseite des Dreiecks, in der durch die beiden anliegenden Seiten gebildeten Nische stand ein Becken, in das silberne Fische unaufhörlich frisches Wasser spien. Ein Fisch thronte über dem anderen, dieser schoß den Wasserstrahl aus dem Maul, jener aus dem Schwanz, und darüber hing eine künstliche Sonne, deren Farbe für jeden Raum verschieden war. Prinz Daminophis warf einen roten Vorhang zurück und bedeutete dem König der dunklen Erde, einzutreten. Mehrere Stufen führten zu einem Prunklager, dessen Füße Tierköpfe darstellten, die mit Gold eingelegt waren. Zu Häupten glühte auch hier eine rote Sonne. Überwurf, Teppiche und Wände waren hellrot.

»Die Farbe der Sinnenlust und der Leidenschaft«, rief lächelnd Daminophis, »die Farbe des pulsenden Lebens! Laß sie dir nicht zu sehr zum Vorbild werden, Ramanatu; wer auf Schlamm tritt, der versinkt – – behauptet man.«

»Nach den Gewändern und den Gesichtern zu schließen, scheint Lebenslust nicht der Grundton eurer Stadt zu sein«, entgegnete der Pharao, ebenfalls lächelnd, »daher will ich mich recht hüten …«

»Ein weiser Entschluß, nur schwer zu halten. Übrigens hast du sehr richtig gesehen. Weder Isolanthis noch Arototec – obgleich aus entgegengesetzten Gründen – ermutigen den Hang zum Stofflichen in ihren Mitmenschen. Und nun, o König mit dem Beinamen der Tapfere, laß dir die Träume und die Ruhe leicht werden, bis dich dein Gott zu neuem Tage weckt.«

»Ra beschütze deine Schritte und vergelte deine Mühe …«, doch als der junge Prinz gegangen war, dachte er immer wieder, bis er in einen unruhigen, gespensterdurchhetzten Schlaf verfiel:

»So hieß sie nicht … sie hieß anders … nicht … Isolanthis … in einem … andern Leben, aber ich kenne sie. Ihr Name? Ich weiß ihn nicht mehr. Ich weiß nur … daß ich sie geliebt habe … Ach, könnte ich ihre Lippen küssen … noch einmal küssen …«

Jenseits des roten Vorhangs plätscherte sehr gedämpft das Wasser; sonst Stille.


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