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Das Fest der blauen Flügel

Weit draußen vor der Stadt der fließenden Wasser lag am schon verlaufenden Abhang des Schläfers ein heiliger Hain. Die Baumkronen griffen ineinander, dunkel ragten die Eiben ins dunstige Blaugrün des Himmels und spiegelten sich im klaren Wasser des Sees, dessen Mitte ein winziges Eiland bildete, von dem eine schmale Bogenbrücke zu einem Ufer führte. Der Wächter des Hains war ein alter Weiser, der das Leben an sich vorbeirinnen ließ wie einen Strom, an dem er wenig Anteil hatte. Er pflegte die Blumen, er sprach mit den Vögeln, er belauschte den Herzschlag des Schläfers und kümmerte sich nachts um den Lauf der Gestirne, nur Menschen bedeuteten ihm nichts. Er wußte immer, wie eine Blume blühen werde, er verstand das Treiben der Gefiederten, aber wie ein Mensch morgen denken, handeln oder sein mochte – das wußte Gott allein.

Der Weise hieß Sirito, und seine Welt war der Hain. Einmal jährlich mußte er sich außer mit Pflanzen und Tieren noch mit Menschen beschäftigen, und zwar lag es ihm ob, die Fackeln für das Fest der blauen Flügel zu bereiten. Er nahm dazu eine Holzart, die eine rote Flamme gab, und tauchte die fertige Fackel in wohlriechende Harze, deren Mischung er als Geheimnis hütete, nicht aus Neid, sondern weil es ihn freute, für dieses sinnige Fest sinnigen Duft gefunden zu haben. Seine Fackeln rochen würzig, doch weder herb noch sinnlich.

Während die Zahl der fertigen Fackeln sich mehrte und die Sonne schon dem Haus des Niederganges zueilte, begegnete Isolanthis unweit des Gartens der Toten ihrem Vetter Etelku. Das weiche Gesicht schien ihr entschlossener als sonst, und in seinen Augen war ein fremdes, tiefes Leuchten.

»Laß uns da gehen, wo die Wünsche des Herzens schweigen«, bat er, und vereint wanderten sie im warmen grünen Dämmern verschlungener Baumkronen, über Wege, die an Blütenfülle vorbeiführten.

»Ich will Priester werden«, sagte er unvermittelt.

»Priester?!«

Etwas wie Furcht, wie dunkles Ahnen befiel sie. »Priester? Deiner harret die Krone von ganz Atlantis …«

»Auch auf dem Wege, den ich gewählt habe, darf ich eine Krone tragen, doch vor der Verantwortung der zehnzackigen scheue ich zurück. Gestern …«, sein Atem kam schnell, »war ich im Raum des fernen Schauens. Der älteste und weiseste der Priester verließ seinen Leib, während ich am Ende seines Lagers kniete und in Betrachtung versunken blieb. Teokol bewachte des Schauenden stoffliche Hülle und machte zuzeiten schützende und stärkende Handbewegungen darüber. Der weise alte Priester ging, um meine Seele zu prüfen, um ihren langen Weg zu erkennen und danach zu ermessen, ob ich schon weit genug gewandert bin, um in der Halle der hohen Seelen geweiht zu werden …«

»Weiß er, daß du in Kürze …?«

Etelku lächelte eigentümlich.

»Ich klagte ihm mein Leid, und er tröstete mich, indem er mir mitteilte, daß einer berufeneren Seele als der meinen die schwere Last solcher Verantwortung auferlegt werden würde …«

»Ach – es gibt ja niemanden«, seufzte Isolanthis, und dachte an Daminophis, der zu sehr in der Kunst und im Trugland der Sinne wurzelte, an ihren Vater und dessen düsteres Geheimnis, und an König Naxitli, auf dessen gebeugten Schultern die Zahl der Jahre eine ihn sichtlich brechende Bürde bildeten. »Warum fürchtest du dich vor der Krone, Etelku?« fragte sie streng.

Er neigte sich ihr zu.

»Ich habe meinen Willen verloren, wenn ich unter Menschen wandle, doch wird er frei und wieder ganz mein eigen, sobald ich Palast gegen Tempel tausche. Es ist schwer. Unbeschreibliches in die Enge der Worte zu zwingen. Ich weiß nur: zuzeiten verdrängt jemand meine Seele, und wenn ich zurückkehre, ist es … ist es …, als ob ein Fremder da gewesen …«

»O Etelku!« rief sie entsetzt und gedachte der düsteren Anspielungen ihres Vaters. »Wer sollte über deine Seele Macht haben?«

»Frag nicht! Etwas liegt auf mir und hemmt mein Denken an diesem Punkt. Ich gehe, um Befreiung zu finden. Lange – von Sonnenaufstieg bis zum Mittagsglast – war der greise Priester fern, denn es ist nicht leicht, die verworrenen Fäden einer Seelenlaufbahn zu entwirren; Licht und Schatten greifen ineinander, und oft kommt die Sühne für begangene Schuld erst nach vielen Erdenleben. Als der Weise zurückkehrte, versank er zuerst in Betrachtung, und als der erschöpfte Leib wieder Kraft gewonnen hatte, erklärte er mir meinen Werdegang von der Tierschranke bis zum heutigen Tag. Viel ist noch zu sühnen, mehr jedoch ist abgetragen, und der Blick ist klar. Bald … bald kommt die Weihe!«

»Laß deine lichten Gedanken manchmal segnend auf mir ruhen«, bat Isolanthis. »Mir ist's, als hänge über mir ein finsterer Schatten, der mich von allen Menschen trennt …«

»Über dir, o Isolanthis, werden immer die Sterne leuchten, selbst wenn du einsam gehen mußt, und meine Wünsche sollen Engel sein, die dich schützend begleiten. Der Mächtige und Eine segne dich!«

Er trat in den Tempel der Toten und kniete vor dem Altar. Sehr ernst trat das junge Mädchen den Heimweg an. Wohl wußte sie, daß der greise König allmählich zum Werkzeug eines fremden Willens geworden, daß er keinen Entschluß fassen, nichts verheimlichen durfte, weil das Verborgenste irgendwie durchsickerte, doch war es ihr ein Trost, die Krone auf diesem erfahrenen Haupt zu wissen. Es traf sie als harter Schlag, daß Etelku Priester wurde und die Verantwortung abwies; sie abweisen durfte …

Immerhin: Naxitli konnte noch einige Jahre regieren und …

So sehr in ihre düsteren Gedanken eingesponnen, eilte sie dahin, daß sie zweimal angerufen wurde, ehe der Klang einer fremden Stimme ihre Aufmerksamkeit erweckte.

»Schon wechselt Gold mit Purpur, und ich sehe dich noch im schlichten Alltagsgewand, o Isolanthis«, sagte ein älterer Mann und trat grüßend näher. »Solltest du vergessen haben, daß du heute die Königin des Traumlandes bist?«

Sie fuhr zusammen. In der Tat, inmitten wachsender Sorgen hatte sie das Schwinden der Tage kaum bemerkt. Die Wandlungen, deren Zeuge sie überall war, hatten von ihrem Gedächtnis die Wahl der jungen Mädchen, die auf sie gefallen war, verwischt. Wie konnten eigene Sorgen ihre Pflichten gegen andere so verdunkeln?

»Fürchte nichts!« erwiderte sie trotzdem lächelnd, »aus der grauen Feldmaus wird rasch eine weiße Mondblume werden. Ist Moani schon geschmückt?«

»Sie gleicht einer Libelle über stillem Wasser in klarer Vollmondnacht«, entgegnete er stolz im Torbogen seines bescheidenen Hauses stehend, selbst schon das Festgewand der höchsten Kaste tragend, der er, ungeachtet seines Herabgekommenseins, angehörte, »und ist, obgleich ich es nicht sagen sollte, von rührender Lieblichkeit. Du wirst sie sehen …«, seine Augen leuchteten, »denn sie führt den Festzug an. Mein Herz, das lange hart wie ein Stein und ganz verstockt gewesen, hat nun der Tau ihres Liebreizes wieder weich und allem offen gemacht.«

»Ich freue mich deines Glückes und ob der Wandlung deiner Seele«, erwiderte Isolanthis und winkte abschiednehmend. Dunkle Schuld, von der nur sie allein wußte, lag als Schatten auf dieses Mannes Vergangenheit, und als sie ihn so im Schein hoher Freude stehen sah, durchzuckte sie ein seltsam banges Ahnen … Würde Moani …?

Da watschelte ihr Roxa mit allen Anzeichen von Entrüstung und Sorge entgegen.

»Wo, in Poseidons Namen, verweilst du, o Herrin, wenn das weiße Festgewand schon zittert, dich zu umfangen, und ich schon dreimal den Blumenkranz benetzte, um seine Frische zu wahren?«

»Wie alles, ist auch er zum Welken bestimmt …«, sagte Isolanthis merkwürdig still.

»Wie traurig du bist, o Gebieterin? Ich glaube wahrhaftig, daß du wieder im Garten der Toten warst! Wie vermagst du nur immer bei jenen zu verweilen, die nicht mehr sind, wenn all jene deiner bedürfen, die noch sehr da sind?« rief die Sklavin vorwurfsvoll und humpelte ihr voran den Berg hinan. Es fiel ihr schwer, zu gehen und dabei zu sprechen, daher schwieg sie, doch im Grunde liebte sie Bewegung nur für die Zunge.

Isolanthis aber erwiderte so sanft wie noch nie:

»Du hast recht, o Roxa! Künftighin will ich nur meiner Pflichten gegen die Lebenden gedenken und die Wünsche meines Herzens schweigen lassen.«

Nun war es der Sklavin wieder nicht recht, daß der Ton so ernst und so sehr nach Schwur geklungen hatte.

*

Sonnenuntergang.

Knaben und Mädchen der höchsten Kaste, die ihr sechzehntes Lebensjahr vollendet hatten, zogen hinaus vor die Stadt zum heiligen Hain am Fuße des Schläfers. Sie waren in Blau, Weiß und Gold gekleidet und hatten lichtblaue Flügel, so durchsichtig wie die der Libellen, an den Schultern befestigt. Immer führte ein Knabe ein Mädchen und trug eine Fackel in der Hand.

Die Angehörigen der Kinder, auch der Vater Moanis, waren schon im Hain versammelt, und nur die blütenreiche Insel mit den dunkelaufstrebenden Eiben war noch menschenleer.

Der weise Sirito seufzte, während er die Fackeln verteilte und in Brand steckte. Einmal jährlich feierte man hier, in seinem stillen Hain, das Frühlingsfest des Lebens, den Übergang von Kindheit zu Jugend, und immer sah er in strahlende Augen, deren Glanz die Jahre trübten. Er sah die Menschen blühen, fruchten, welken, er sah sie bis in das Herbsteln des Alters, bis dicht an der Pforte des Abstiegs …

Er ahnte auch ihren Schlaf und ihre Wiederkehr.

Nun bewegte sich der Zug durch den blühenden Hain, und im sinkenden Abend glühten stärker die Fackeln, schimmerten wunderbar zartblau die Flügel, leuchtete der Goldsaum der Gewänder. Feierlich kreuzten die Paare die schmale Brücke und tanzten im Mondschein, sich an den Händen haltend, wie es ganz kleine Kinder tun. Nichts Ausgelassenes, nichts Sinnliches lag über diesem Tanze, der nur Ausdruck stiller, verklärter Freude sein sollte. Die hohen Bäume, schwarzen Säulen gleich, spiegelten sich im Wasser des Sees, auf den nun auch der Mond seine Strahlen warf, und feierlich schwangen die Knaben ihre roten Fackeln. Es folgten hinter ihnen die Mädchen in wiegendem Tanzschritt. Ihre zarten weißen Gewänder waren mit blauen Türkisen besetzt und trugen einen breiten goldenen Saum. Weiße und blaue Blumen waren in das Haar verflochten, und auch über die nackten Arme nieder hing liebliche Blumenlast. Die kindlichen Gestalten, so licht, so weich und so schmiegsam, gab der See als zitterndes Farbengefunkel wieder, und der Fackelschein tauchte die ernsten Bäume in einen Hauch von Rot.

Isolanthis, in blendendes Weiß ohne Schmuck gehüllt, einen Blumenkranz auf dem Haupt und eine Last von Blüten auf dem linken Arm, harrte schweigend und ernst der allmählich Nahenden. Wie hoffnungsfroh und lieblich waren sie alle, wie glänzten die Augen vor seligem Erwarten, wie lächelte der noch keusche Mund im Ahnen heranschwebender Seligkeiten. Wie Saft im Keim regte sich schon das Blut in ihnen.

Mit den blauen Flügeln – das Traumland der Jugend, die Träume der Seele andeutend – spielte vorsichtig der Abendwind. Er sang in den Wellen, er lispelte im Gezweig, er wiegte die Blumen und trug ihren Duft als Weihrauch zu den Tanzenden.

Die roten Fackeln – Sinnbilder des Lebens und der Freude am Sein – schienen heller und heller. Ihr Licht verklärte die Tänzer, wärmte die Gestalten, wie Liebe das Herz erwärmt …

Das Fest des erwachenden Lebens, das Frühlingsfest der Menschen.

Schweigend saßen die Alten im Dunkel des Hains jenseits der Blumeninsel. So hatten auch ihre eigenen Traumflügel einmal geflattert, so hatten sie dem Kommenden froh entgegengetanzt, bis unaufhaltsam die Blüten der Freude welkten und die Stürme der Jahre die Traumflügel brachen. Manches Auge glänzte noch verstehend froh auf, manch ein Lächeln verklärte einen leidumrandeten Mund, doch auf manchem Antlitz lag der düstere Schatten unüberwindlicher Bitterkeit. Die hatte das Leben gebrochen. Die sahen nur noch zitternde Lichter auf den dunklen Wassern.

Was immer auch folgte: Nie hielt das Leben das, was man erhofft hatte.

In der Mitte der Insel, im Tiefschatten der hohen Eiben, saß auf einem Felsen Daminophis und spielte auf selbstgeformter Harfe eigene Melodien. Seine schöne Stimme verschmolz mit dem tiefen Anschlag der Saiten zu einem einzigen lange nachklingenden Ton, halb froh und halb schwermütig.

»Zieht durch des Traumlandes Pforte
furchtlos ins Leben ein!
Es mögen der Liebe Worte
Zu Ernst und Pflicht euch weih'n …«

Von der Weihe der Stunde erfaßt, gehen die Kinder rund um die kleine Insel bis zurück zur Brücke, vor der Isolanthis wartet. Ihr weißes Gewand fließt nieder und wirkt rosig im Fackelschein. Sie ist des Traumlandes Königin und verteilt die Blumen seliger Verheißung. Um ihre bleiche Stirn schmiegt sich der breite Blumenkranz. Knaben und Mädchen verbeugen sich vor ihr und nehmen still die weiße oder blaue Blüte in Empfang. Auf sie alle, besonders auf das dichte, aufgelöste Haar der Königin, fällt das feurige Rot der beiden Fackeln, die zwei Knaben, hinter Isolanthis stehend, hoch halten.

Langsam kehren die Kinder, sich immer noch an den Händen haltend, über die Brücke in die Wirklichkeit, in das Leben zurück. Im Schatten der heiligen Eiben singt ergreifend Daminophis –

»Und brechen die wechselnden Winde
der Jahre die Flügel euch ab,
und welken Blütengewinde,
die heut euch die Königin gab …«

Um die Insel zieht der Zug. Mond- und Fackelschein verschmelzen, der Wind weint und singt, die Blumen duften. Isolanthis lächelt weich, denn sie ist diesen Kindern heute des Traumlands Königin. Weich blicken ihre sonst so ernsten Augen, am weichsten und wärmsten, als Moani die Hand nach der Blume ausstreckt und zu ihr aufschaut, als nahe schon auf weichen Sohlen ein unaussprechliches Glück. Isolanthis nimmt die schönste der weißen Blüten vom Arm und reicht sie dem lieblichen Kinde. Gleichzeitig greift etwas kalt nach ihrem Herzen, denn die Dolden entfallen.

Nun haben sie alle die Brücke gekreuzt, mit verträumtem Lächeln dem Leben entgegenhoffend, dem großen, wunderbar reichen Leben, und Daminophis singt leiser:

»So windet aus Taten der Liebe
den Kranz, den kein Sturm zerbricht,
damit nach des Lebens Getriebe
ihr eingeht ins Traumland … ins Licht …«

Isolanthis kreuzt als letzte die Brücke im vollen Licht des Mondes, der die Bäume in Silbersäulen verwandelt und die Kinder in Elfen, aber ihr Lächeln ist verweht und ihre beseelten Augen haben sich mit Tränen gefüllt. Sie trägt den duftenden Blumenkranz, doch ihr Haupt ist gesenkt, wie unter der Last einer Krone.

Dem Weisen Sirito ist es, als sähe er zehn leuchtende Zacken.

»So windet aus Taten der Liebe
den Kranz, den kein Sturm zerbricht …«

In Zukunft will sie nur an andere denken, nie wieder an sich selbst. Wenn die Blüten des Traumlandes welken, bleibt das Immergrün der Pflicht.

Schweigend, wie sie gekommen, ziehen die Kinder stadtwärts. Die roten Fackeln verglühen, die Flügel zittern im Wind. Still folgen die Alten, die Seele voll Weihe, das Herz voll banger Wünsche für die, die nun der Ernst des Lebens ruft.

Sirito schließt den Zugang zum heiligen Hain.

Hinter dem Zuge, weit hinten, geht noch eine Gestalt.

Isolanthis.

Fern von den andern, einsam – ganz einsam.

Auf ihrem gesenkten Haupt liegt voll das Mondlicht und verwandelt den welkenden Kranz in eine schimmernde Krone.

Sie weiß es nicht …


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