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Verschiedene Pfade

Zu Füßen der Erbprinzessin kniete Colotli – ein Bild tiefster Zerknirschung.

»Du gleichst einem Krug mit schiefem Boden, beim geringsten Anprall fällst du um oder du läufst über. Ist es so schwer, deinen Trieb zu beherrschen und wenigstens in Augenblicken ernster Pflicht das Haus des Genusses zu meiden?«

Isolanthis sprach sehr eindringlich, obwohl sie überzeugt war, daß selbst ein weit willensstärkerer Mensch als der Skorpion der Macht Arototecs erlegen wäre.

»Ach Herrin«, seufzte aus dem Hintergrund Roxa, die Sklavin, »wo Gras ist, da werden die Rinder, und wo es Weiber gibt …«, doch eine strenge Handbewegung der Prinzessin gebot ihr Schweigen.

»Ich folge dem jungen König, um ihn zu bewachen, und fühle wirklich die besten Vorsätze in mir …«

»… und verlierst sowohl ihn wie dich, nur weil alles in dir zu einer Fülle von Palmenwein wird«, unterbrach sie ihn bitter. »Es genügt nicht, daß du mir treulich dienen willst, du mußt vor allem deinen Geist dir dienstbar machen. Du aber gleichst einem Schwamme, den jede Hand ausdrückt.«

»O Herrin, glaube mir, es ist nicht das Gerstenbier oder der Palmenwein, ja nicht einmal die Kummerverscheuchenden, die an allem die Schuld tragen. Wenn ich des Pharaos Schatten bin, um ihn zu warnen und zu schützen, so sind hinter uns andere Schatten …«, seufzte der Skorpion, »und plötzlich fliegen meine Gedanken weg wie Vögel, die verscheucht wurden. Mein Herz ist leer. Dann zwingt mich etwas in mir …«

»Deinen Magen mit Bier zu füllen …«

»Nein, Gebieterin, ich denke überhaupt nichts mehr, ich werde gedacht, etwas denkt in mir, und wenn ich wieder ich bin, sitze ich im Haus des Vergessens und fühle mich wirklich so grauengeschüttelt, daß ich vergessen muß. Und da … trinke ich.«

»So möge der Ewige uns helfen«, seufzte die Erbprinzessin. »Geh!« Sie winkte entlassend, »und hüte Herz und Zunge, soweit es noch in deiner Macht liegt. Du hast dein Haus nicht gefegt und nicht verschlossen, und mußt es nun dulden, daß andere dich zuzeiten daraus verdrängen, um allerlei Unfug darin zu treiben …«

»Du meinst doch nicht, o Herrin«, rief Colotli erschrocken, »daß eine fremde Seele …?«

Sie nickte traurig.

»Wenn dein Geist trunkbetäubt war, standest du offen, und wenn dein Leib kraftberaubt im Haus des Genusses lag, wurde er zum Spielzeug anderer Menschen. So ist das hohe Heim deiner Seele, der Turm deines Geistes mißbraucht worden, weil du dein Eigentum schlecht verwaltet hast. Geh nun, meine Zeit ist kostbar!«

Scheu und stumm schlich der Skorpion aus dem fürstlichen Gemach. Hinter ihm her, wie Wind durch Riedgras, zitterten die Seufzer seiner Mutter.

Isolanthis streichelte Tlactlac. Er kauerte ihr zu Füßen, dicht an ihr Gewand gedrückt und winselte schwach, denn das war alles, was er an Lauten aufbringen konnte.

»Er ist das einzige Wesen, das mir wirklich gehört«, und Isolanthis, die vor fremden Augen nie unbeherrscht war, weinte nun bitterlich in Tlactlacs weiches Fell. Ramon Phtha liebte sie, aber noch war seine Liebe eine hellrote Fackel, ihr und ihm Verderben drohend; ihr Vater liebte sie, doch mit der Angst, mit der sich ein Ertrinkender an seinen Retter klammert; ihr Volk liebte sie, weil sie ihm Schutz und Hort sein durfte; Tiritec besang sie um ihres Goldes willen, das er im Haus des Genusses vergeudete; vielen war sie eine Notwendigkeit, aber ihr Herz mußte ungebunden bleiben. Sembasas Güte und Zuneigung glichen dem Sonnenlicht, das warm umstrahlte und den Pfad erhellte, aber unpersönlich war. Und da ein Menschenherz auch Greifbares fordert, lag ihre Hand nun zärtlich auf dem Tier.

»Der Hund vom heiligen Berg«, sagte Roxa stolz, »der Hüter des Palastes … unser Hund!«

Isolanthis neigte sich lächelnd über das komische Gebilde mit zu langen Beinen und zu spitzen Ohren und flüsterte ihm zu:

»Wachse, du werdendes Seelchen! Einmal, nach Millionen Jahren, auf anderem Stern, werd' ich dein Führer sein.«

Tlactlac wackelte mit dem linken Ohr, was unbedingte Zustimmung bedeutete. Was immer seine Herrin wollte, war recht gewollt. Für ihn war sie alles.

Plötzlich merkte Isolanthis, wie Roxa die Augen zukniff und die schrecklichsten Gesichter schnitt.

»Was treibst du?« fragte sie erstaunt.

»Ich schließe mein Haus«, flüsterte Roxa geheimnisvoll, die Lider ein wenig hebend und sofort fallen lassend, »denn er kommt.«

Sie griff mit gesenktem Haupt und geschlossenen Augen nach dem Vorhang und hob ihn beiseite.

Der erste Thronratgeber kreuzte die Schwelle.

»Isolanthis … ich habe eine große Erfindung gemacht«, und seine Stimme hatte eine zarte Klangfarbe von Freude, so ernst seine Augen auch in die ihren schauten.

Sie trat beglückt auf ihn zu, denn ihre geistige Verwandtschaft war eine starke Bindung zwischen ihnen.

»Wovon handelt sie?«

Arototec zog ein Wachstäfelchen aus dem Gürtel und begann rasch zu zeichnen.

»Eine Hebevorrichtung, wie sie mir schon lange vorgeschwebt hat. Ich beabsichtige damit die ungeheuren Felsen im Meer zu brechen, zu heben, ans Land zu bringen und zu neuen Bauten zu verwenden. Ich habe mich seit langer Zeit bemüht, die Möglichkeiten dieses Plans in Tatsachen zu verwandeln, denn nicht leicht hebt man solche Blöcke, selbst …«, er unterbrach sich, an seine Versuche in der Höhle der dunklen Mächte und in jener der blinden Augen denkend, von denen er vor Isolanthis nicht sprechen wollte. Vor seinem tiefsten Denken, seinen allzu weitreichenden Plänen lag immer der Stein seines Schweigens.

»Selbst mit Hilfe fremder Ströme«, warf Isolanthis erratend ein. »Ich finde sie großartig, nur hier …«, auch sie griff nach einer Wachstafel und begann eifrig zu zeichnen, »würde mir eine Vertiefung wünschenswert erscheinen. Auf diese Weise könntest du bis unter den Felsen greifen, vorausgesetzt, daß er nicht zu tief liegt, und oft einen ganzen Turm heben, der nur aufgestellt und von innen heraus bearbeitet zu werden braucht …«

»Ganz richtig! Und wenn ich hier diesen Fangarmen – als solche müssen diese Bogen gedacht werden – tiefer unten noch zwei weitere angliedere – doch komm! Ich habe in meinem Arbeitsraum einen Musterentwurf aus noch biegsamem Metall gemacht und kann dir daran leichter die Zusammenhänge erklären.« Isolanthis warf rasch das Tuch mit dem breiten Goldstreifen über und begleitete den ersten Thronratgeber zum Geheimgang hinab.

»Wie magst du dich mit so viel Mittelmäßigkeit belasten?« fragte er, als er Tschiritos ansichtig wurde.

»Er ist der Rasse nach Poseidonier und sogar ziemlich hellgesichtig«, entgegnete sie, damit andeutend, daß es sich ungeachtet alles Scheins um eine reifere, das heißt ältere Seele handelte.

»Was hast du heute schon getan?« erkundigte sich Arototec spöttisch, als der Gangwächter den Vorhang hob und sich tief verbeugte.

»Kein Mensch kann mehr als leben«, erwiderte Tschirito sehr gefaßt. »Ich habe dem Koch einen verbrühten Finger verbunden, einem Palastknaben die zerrissene Sandalenschnur neu geknüpft, einem unglücklichen Vater erklärt, daß im Leben alles bezahlt werden muß, das Gute wie das Böse, weil alles Dasein eben nichts als Ausgleich ist; ich habe einen Liebenden getröstet, und ich habe auch einer alten Mutter die Freuden jenseits der Pforte des Todes geschildert, denn durch dieses Tor muß sie in allernächster Zeit, und warum sollte sie's mit Furcht in ihrem Herzen tun? Endlich gab ich einem hungrigen Hund, der sich verlaufen hatte, einen Knochen und ein Stück von meinem Brot. Und du?« fragte er unvermittelt.

Arototec war nahe daran, eine heftige Antwort zu geben, doch als er das belustigte Lächeln um den Mund der Prinzessin sah, beherrschte er sich und ging schweigend weiter.

Als sie den Wagen bestiegen, der am Ausgang auf sie wartete, sagte Isolanthis:

»Es gibt viele Wege zurück aus dem Sonderdasein zur göttlichen Einheit: den der Weisheit, des wärmenden Wissens, des Verzichtes, der schenkenden Liebe … Tschirito ist faul, aber sein Sinn ist arglos und sein Herz voll Güte. Auch er geht lichtwärts.«

»Sie folgen alle dir – Isolanthis«, entgegnete er.

Erstaunt blickte sie ihn an, so selten war Lob aus seinem Munde.


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