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An der Pforte des anderen Seins

Arototec saß finster an seinem Tisch.

Draußen heulte der Sturm, dröhnten die berstenden Felsen, schrien die Menschen in ihrer Todesangst und verkrochen sich in den Gängen ihrer Riesenbauten. Die Mächte, die er beherrschen wollte, wandten sich nun plötzlich gegen ihn, die Ströme, die er sich endlich dienstbar gemacht hatte, griffen ihn nun selbst an, arbeiteten entfesselt, seinem Willen entzogen, am großen Werke der Zerstörung. Die Fäden der Gedanken liefen zu allen Leuten, die vor ihm gezittert hatten, die er beherrscht, die er zu fremder Tat gezwungen, in deren Sein er hindernd eingegriffen hatte, und er merkte mit Entsetzen, wie sich diese Fäden, die noch vor kurzem so glatt zu jedem einzelnen Menschen, der sein Werkzeug gewesen war, hingelaufen, nun sich jäh verwirrten, und wie der Wille, auf den er immer gebaut hatte, ihm nun entglitt. Die Gedanken wollten nicht mehr geordnet bleiben, der Wille erschlaffte. Er hatte zu viel begehrt, er war zu weit gegangen, und sein Geist vermochte den ungeheuren Druck nicht mehr zu ertragen.

Immer wieder versucht der erste Thronratgeber, die Gedanken auf einen einzigen Punkt zu lenken, wie er es seit langem gewohnt ist, doch immer gleitet ein Gedanke in den andern, verwirrt und verdrängt ihn. In seiner düsteren Halle, in der in den mächtigen Tierköpfen die verschiedenen Lichter brennen, sieht er eine endlose Reihe langer schemenhafter Gestalten an sich vorbeischreiten, groß und ernst, ohne Stillstand, auf den leichenstarren Gesichtern weder Haß noch Erbarmen. Nichts als Erinnern. Es sind alle jene, deren Geist er geknebelt, deren Willen er gehemmt, deren Leben er bedroht, verbittert oder gar genommen hat. Leben auf Leben gleitet so an ihm vorüber, starr, bleich, in stummer Anklage. All diese Seelen hat er zurückgehalten, hat ihren Aufstieg verhindert oder doch verzögert, hat ihnen Unrecht getan. Nun kommen sie und gehen …

Er kennt sie, die Schatten, die so dicht an ihm vorüberziehen, daß er den Luftzug ihrer Körper zu verspüren glaubt, aber er sitzt anscheinend unerschrocken da, und nichts rührt sich in seinem kalten, harten Gesicht, nur in den Augen flackert ein unheimliches Feuer, das beweist, um wie viel zu stark der Geist für diesen Körper gewesen. Der Wille hat so Übermenschliches versucht, daß Leib und Seele darüber zugrunde gegangen sind und der Geist vor der Umnachtung steht.

Schaurig braust der Sturm über die Stadt der fließenden Wasser, dumpf dringt durch die dicken Mauern das Dröhnen stürzender Felsen, das wilde Notgeschrei, das Tosen der Wellen, das Zischen der Lavasäulen. Der Boden bebt, die Gerippe an den Wänden bewegen sich klappernd, ein Teil der Lampen erlischt. Arototec vermeint das Grinsen in den Totenschädeln zu sehen und glaubt, die Gerippe seien im Nahen, aber immer noch hält ihn sein Mut in kalter Starre an den Tisch gelehnt.

Herzschlag auf Herzschlag kommt sie ihm näher, seine Welt der lichtlosen Sterne, vom Schein der dunkelvioletten Sonne schaurig gefärbt.

Und plötzlich sieht Arototec auf dem leeren Platz vor dem schwarzen Block Ramanatu, den jungen König der schwarzen Erde, so begeisterungsfähig, so lebenshungrig, selbst einer lodernden Flamme gleich, Kraft und Wille ausstrahlend, ein Leben, das viel versprochen hatte und dem große Pflichten auferlegt worden waren, ein stolzes Sein, das er aus Selbstsucht dem Untergang geweiht hatte, einzig weil er im Herzen des Pharaos diese allbeherrschende Liebe zur Erbprinzessin gelesen …

Im Turm der toten Nächte sollte er sterben oder dem Wahnsinn verfallen.

Arototec seufzte. Eine tiefe Bitterkeit wallte in ihm aus.

Was hatte er alles geplant und gehofft, welches Wissen in wachen Nächten erworben, wieviel durch die Macht seines Willens den Urkräften an Geheimnissen abgerungen, wieviel Menschen in Werkzeuge verwandelt? Warum hatte er sich, dem die Reiche des Sichtbaren wie des Unsichtbaren offen gestanden, durch kleinliche, ganz menschliche Eifersucht zu diesem ihn so schwer belastenden Unrecht gegen den Pharao hinreißen lassen?

Er schüttete die dunkelviolette Flüssigkeit auf die Spähkugel und sah fremde Bilder aufquellen – die dunkle Erde, den heiligen Fluß, den Palast inmitten der fruchtbaren Ebene, Diener, Sklaven, ein Gemach …

Da kniete der Pharao neben Daminophis. Was bedeutete das? Tot? Ja, tot. Das Gift, das dem König bestimmt gewesen, hatte dem Leben des Freundes ein Ende bereitet. Wieder fühlte Arototec, daß er einen Lebensfaden verkürzt, viel wunderbare Kunst in der Entfaltung verhindert, die Menschheit um vieles betrogen hatte.

So reihte sich Unrecht an Unrecht. Nun erprobte der Sklave, dem der Versuch mißglückt war, schon die Kraft seiner Hände.

Arototec versuchte seine Gedanken zu sammeln. Vielleicht konnte er dieses eine Übel verhindern, vielleicht gelang es ihm, der Handlung Einhalt zu tun, dem gedungenen Mörder noch jetzt, auf geistigem Wege die Gegenweisung zukommen zu lassen. Vergeblich! Die Gedanken zerrannen immer wieder, das Zucken der Lichter, das Rasseln der Gerippe, das Dröhnen um ihn her störten sein Denken. Zu gering war überdies der Zeitabschnitt zwischen Plan und Vollendung, zu schwach auf einmal sein sonst so starker Wille.

Auch dieses junge Leben hatte er gebrochen.

Die Kraft des Sturms wuchs, die Wasser tosten und stürzten, das Haus der lichtlosen Sterne erbebte in den Grundfesten, die Totenschädel nickten und grinsten, die Gerippe klapperten laut.

Am heiligen Fluß, im Vergluten des Tages, schlichen wohl bald die Mörder heran …

Da steigt ein häßlicher Schatten vor dem ersten Thronratgeber auf: Nichts Großes, weder Haß, noch Gegnerschaft, noch – Liebe. Ihn hatte sein Wille zu nichts gezwungen, er war freiwillig herangeschlichen und hatte Verrat geübt, während er Gold genommen hatte. Verächtlich! Das war Tiritec gewesen, der Dichter der Krone, der Mann aus dem Haus der Wissenschaften. Er hatte die edlen Steine des Pharaos im Haus des Genusses vergeudet, er hatte Späherdienste geleistet gegen die, die ihm vertraut hatten, er hatte behauptet, die Erbprinzessin zu lieben, und tat, als fühle er Bewunderung für Daminophis. Nun krümmte er sich wohl vor Angst in irgendeinem Winkel, vielleicht sogar unten in der Höhle des tiefsten Erlebens, und endete sein Dasein bei … Tieren.

Donnernd schlugen die Felsen talwärts, wild schäumte das Meer, höher und höher stieg die rasende Flut, leckte am dritten Wall, übersprang die Mauer, stürzte sich auf Menschen und Bauten, begrub die Zeichen hoher Entwicklung, uralten Wissens.

Arototec sann und sann, brütete finster in sich hinein, erkannte sein Tun im Licht des Unwandelbaren. Sein Leben war vorwiegend Zerstörung gewesen.

Und doch nicht nur Zerstörung. Während der großen Seuche hatte er viele Leben gerettet, war vielen zum Helfer geworden. Auch dachte er an seine großen Erfindungen, die nun dem Untergang, dem Vergessen geweiht waren.

Schädel grinsten, der Boden schwankte, das Mauerwerk krachte, Sand rieselte.

Ach, diese seine Schuld …

Er hatte die Wesenheiten anderer Ströme entfesselt, er hatte ein furchtbares Schicksal heraufbeschworen, er hatte eine uralte Entwicklung zur Auflösung gebracht, denn was in den Ansiedlungen von all dem Wissen erhalten bleiben würde, war nichts als ein Bruchstück. Er hatte Millionen Seelen zu neuen Verkörperungen gezwungen, ehe die Zeit da war, er hatte viele Fäden gebrochen, viele verwirrt; er hatte sich dem Plan der lichten Mächte bewußt entgegengestellt. Wer solches Wissen wie er mit solchem Willen vereinte und den ganzen Entwicklungsgang gefährdete, der wurde zuzeiten ausgestoßen und sein Seelenteilchen aufgelöst. Das, was sich mühsam durch Stein und Moos und Baum und Tier zum Menschen entwickelt hatte, geworden und gewachsen war, würde aufgelöst werden, wenn es das Wohl der Ströme verlangte. Sollte er wirklich, wie Isolanthis gesagt hatte …

Sein Atem kam keuchend, wild kreisten die Gedanken, endlich allbindenden Zwanges befreit. Es glühten die Augen, es pochte das Herz zum Zerspringen, es brauste in den Schläfen das Blut so laut, wie in den Ohren das zunehmende Getöse des Sturms und der Brandung. Ist diese Nacht, die um ihn wird, schon das Vorzeichen jener ewigen Nacht, die nur Seelen kennen, die gewaltsam aus dem Strom geschleudert wurden …?

Da dringt in die Finsternis aufquellender Verzweiflung ein weicher erlösender Schein: Isolanthis. Vieles hat sie zum Guten gewendet, das er verschuldet hatte, viele Tränen hat sie getrocknet, die er zum Fließen gebracht, und um seine Seele hatte sie mit den dunklen Mächten einen nie endenden Kampf geführt. In der Welt der lichtlosen Sterne war sie der letzte Schein geblieben, wie manchmal, noch lange nach Sonnenuntergang, ein weiches Schimmern auf dem Meere liegt. Ihre Gedanken, die Strahlen ihrer Seele, würden ihm leuchten durch die Nacht der Sühne. Endlos lang war die Kette, die er geschmiedet hatte, unzählig die verwirrten Fäden, die mit Geduld entwirrt werden mußten …

Lang, lang … und schwer.

Immerhin: Kurz oder lang, er würde sie tragen, er würde so rastlos und mutig seinem Ziele zusteuern, wie er es bisher getan hatte. Der unzerbrechliche Wille und sein großes Wissen sollten durch alle kommenden Leben hindurch die Brücke bilden, die vom Dunkel zum Licht, von der Schuld zur Sühne, von der Unrast des Stofflichen endlich zum Frieden des Ewigen führte. Wie er im Vergangenen vor nichts zurückgeschreckt war, um das zu erreichen, was er gewollt hatte, so würde er in Zukunft ohne Klage auch die Bürden auf sich nehmen, die seiner harrten. Er würde Leben auf Leben durch Haß und Leid und Kampf gehen, in sich gefestigt, still und wegbereit, bis sich ihm – am Ende der Zeiten – der lichte Pfad öffnen würde und bis die in ihm aufgestapelte Riesenkraft und sein hohes Wissen der Menschheit zugute kamen.

Nicht ihm selbst, sondern nur den andern …

Da zitterte der Boden, und der Lärm wuchs zu rasendem Getöse. Der Schläfer war erwacht und der Schweigsame sprach, die Springflut schlug gegen den zweiten Wall, kletterte darüber, strömte ins Haus der Wissenschaften, bemächtigte sich der Tafeln und Bücher, überschwemmte die wundervolle Halle der lichten Gedanken und riß im Teil der Künste die Silbervasen und Mondharfen von den Gestellen. Sie brandete an der göttlichen Weisheit hoch und riß am goldenen Dreizack.

O Schuld, unverzeihliche Schuld …

Nun glaubt sich Arototec im Turm der toten Nächte, sieht bleckende Mäuler überall, wähnt sich heimlich beobachtet, dem Hungertode ausgeliefert, lebendig begraben. Sein starker Geist ist gebannt und versagt.

Die Rachen sperren sich auf und kreischen, kalte Zähne bohren sich in sein Fleisch, Gerippe beleben sich, Schlangen umwinden ihn mit nassen kalten Leibern, und der Zug, der endlose Zug anklagender Schatten gleitet neuerdings an ihm vorüber.

Mit flackerndem Blick starrt er um sich, stürzt hinaus, eilt hinauf in den Turm. Da rast der Verbrecher hinter ihm her, den er in den Wahnsinn getrieben hatte, heftet sich ihm an die Fersen, treibt ihn um und um den Turm. Unter ihnen brausen die steigenden Wasser, über ihnen fegen schwarze Wolkenfetzen über den Nachthimmel. Aus dem Schläfer steigt eine blutrote Feuersäule und sinkt wieder, und aus dem Innern des Schweigsamen dröhnt es ununterbrochen.

Arototec kann nur rennen … rennen … Seine Hände wollen greifen, seine Gedanken suchen vergeblich die Fäden zu fassen, die Welt der Dinge noch einmal zu beherrschen, doch vergeblich. Nun ist er selbst der Beherrschte.

Er lacht mit dem Sturm um die Wette und klammert sich endlich an die Brüstung des Rundgangs. Sein getrübter Blick klärt sich, er späht über das Land, das sein Stolz gewesen war, und hinab auf die Stadt, wie es keine gab. Schaurigen Ungeheuern gleich schießen die Wolken schwarz und dräuend über die Stadt hin, der Behälter im ersten Wall zerbricht mit furchtbarem Gekrache, die Wasser stürzen über die leuchtenden Silberbogen, aus der Tiefe ertönt tausendstimmiges Wehklagen, es bersten Tore und Bauten, es dröhnt aus dem Schweigsamen …

Das Ende naht.

Nichts ringsumher als Finsternis, Jammer, Elend, Lärm, Verfall. Da teilen sich die Wolken, und ein einzelner Stern wird sichtbar. Nur dieser eine Stern, und oben, auf dem Rundgang des Palastes, dicht unter der goldenen Kuppel, eine Gestalt in Weiß. Die Nacht zerrt an ihren Gewändern, der Wind reißt unbarmherzig an ihrem gelösten Haar, der weiße Schleier flattert wild. Es glitzert ganz schwach im wechselnden Licht der goldene Stirnreifen mit dem heiligen Dreizack.

Der Sturm braust um die entblößten Schultern und spielt rauh und grausam mit dem welligen Haar, aber das Gesicht ist erhoben, und ihre Augen suchen den einzelnen Stern …

»Isolanthis!«

Er ruft ihren Namen wie einen Schrei der Erlösung. In all der schrecklichen Finsternis, in all dem wüsten Toben der entfesselten Naturgewalten, im Brausen des Sturms und inmitten von Grauen, Entsetzen und Untergang ist sie ihm Sinnbild des Lichtes.

So hängt das Geistige am Seelischen; Mann an Weib.

Die Schatten lassen ab von ihm, furchtlos, wie er stets gewesen, tritt er an die Pforte des andern Seins. Noch einmal blickt er hinauf zum stillen, erhobenen Gesicht, auf dem der Abglanz der Ewigkeit liegt, dann bricht er tot zusammen.

Nun klettern die Wellen unerbittlich in den ersten Wall.


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