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In den Augen des Tieres …

Ein ungewohntes Geräusch schreckte Pharao Ramon Phtha aus seinem Schlummer auf. Sich halb aufrichtend, sah er, wie sich der Rachen des Ungeheuers, durch den man ihn herabgerollt hatte, langsam öffnete. Die Riesenzähne fuhren knarrend auseinander, und die breite, hellrote Zunge bildete zur Not eine Möglichkeit, darüber hinaufzuklettern. In der matterhellten Öffnung stand eine vermummte Gestalt und winkte ihm näher zu treten.

Als der Pharao dicht unter dem gähnenden Rachen angelangt war, rief die Stimme im Flüsterton: »Isolanthis!« und Ramon Phtha glaubte an der Stimme den getreuen Rotorù zu erkennen. Er schwang sich auf die Zunge der Fratze und kroch aufatmend auf den schmalen Gang hinaus. Vor ihm, wie ein Schatten, huschte der Vermummte. Vorsichtig folgte er.

Durch eine verwirrende Anzahl von Gängen glitt der Führer ihm voraus, und zuzeiten glaubte der Pharao durch die Felswände wie verklingend das Rauschen von Wasser zu vernehmen, was ihm die Überzeugung aufdrängte, daß er sich dicht unter dem Riesenwasserbecken befand. Endlich führte der letzte schmale Gang bis zu einer finsteren Wendeltreppe, die kein Ende zu nehmen schien und die vor einem Vorhang endete. Der Führer winkte ihm stumm einzutreten und verschwand wieder in den Tiefen. Nach kurzem Zögern griff Ramon Phtha nach dem schweren dunkelgrünen Geflecht und warf es zurück.

Er stand ganz allein in der Halle der Erkenntnis.

Sein Blick fiel auf die baumartige Riesengestalt an der gegenüberliegenden Wand, an der sieben Vögel niederflatterten, er erinnerte sich, daß sie die sieben Ausstrahlungen Gottes, die sieben Wandelsterne und die sieben Seelenteile des Menschen selbst andeuteten, daß ihre Bedeutung jedoch noch weit größer und tiefer war, doch fühlte er sich zu erschöpft, um darüber länger nachzusinnen. Unter dem Sinnbild des Sonnenjahres – den gekreuzten Armen – war er mit Isolanthis in diese Weisheitshalle getreten, hatte den Kreislauf des Seins in den Gestalten bewundert, die das gewundene Band hielten und deren Gewänder sieben Falten warfen. Nun verstand er besser als damals, warum die meisten Frauengesichter wie kummerbeschattet wirkten, warum die wenigsten Häupter wie in freudiger Erwartung gehoben, sondern meist in Trauer gesenkt waren. Dieses Sein war eine Kette der Leiden, ein wildes Gefüge von Irrtümern …

An den grünblauen Wänden schimmerte in Gold der Lebensbaum, die Hand und die Muschel, die vier Striche der Menschrune, die Wellenlinie und der Dreizack – alles Sinnbilder, die ihm erläutert worden waren, doch daneben sah er andere, deren Bedeutung sich ihm entzog. O diese Größe der Halle, diese Stille, diese bedrückende Feierlichkeit! Was war er hier neben den aufstrebenden Pfeilern, den Riesenzeichen an den Wänden, den funkelnden Sinnbildern im Fußboden?

Er schaute sich nach allen Seiten hin um, nicht recht begreifend, warum man ihn hierhergebracht hatte, und plötzlich fuhr er zusammen, denn mitten im Raum stand ein goldener Sockel und darauf riesengroß ein Tier aus Gold: steife hohe Ohren, zurückgelegter Schweif, längliche Schnauze …

Die übrigen Einzelheiten nahm er nicht mehr wahr, denn die schimmernden Augen des Tieres hatten ihn gefangen. Es war ihm unmöglich, sich ihnen zu entziehen. Wenn er die Augen schloß und am Sockel vorbei wollte, folgten sie ihm und zwangen ihn zurück, und als er sie nun fest ansah, wie um sich tapfer von ihrem Bann zu befreien, hielten sie ihn unerbittlich fest, wuchsen und wuchsen, wurden zu Riesenscheiben, hierauf zu einer einzigen Scheibe und dann – nichts.

Oder doch? Ein feiner Nebel stieg in der Scheibe auf, verdichtete sich zu einer Gestalt, die etwas spiegelte. Was nur? Während er das schaurige Gebilde betrachtete, wich es und eine Handlung wurde sichtbar, ein Geschehen. Wie klar alles war, und wie genau er nun erkannte, in welcher Weise sich sein zur Form gewordener Wunsch an ihm selbst und an allen anderen Teilnehmern auswirkte, nicht nur von außen, sondern vorwiegend von innen gesehen. Gestalt folgte auf Gestalt, Bild auf Bild rollte an ihm vorüber und zeigte ihm seine Seele so, wie sie war: nackt, in all den noch unüberwundenen Schwächen, mit allen noch bestehenden Unvollkommenheiten. Er las in den Augen des Tieres sein eigenes Wesen und Tun, so wie es auf andere rückwirkte. Er sah seine Handlungen als losgelöste Ergebnisse vor sich stehen, und sein ganzes Ich erschauerte. Das Leid, das er verursacht hatte, wurde von ihm als eigenes Leid durchlebt.

Immer wechselte die Landschaft, aber immer wußte er, daß er der Handelnde war, auch wenn das Geschehene weit zurücklag, in einem vorigen Sein …

Manchmal seufzte er auf, versuchte sich von der Macht dieser Augen zu befreien und flüsterte vor sich hin: »Das ist ja alles längst vergangen«, aber die Scheibe wuchs wieder, und er las im Weltengedächtnis all sein Tun, all seine Schuld, zuletzt die seines gegenwärtigen Lebens.

»Ich kann nie mehr froh werden … nie mehr lachen …«, klagte er und brach zu Füßen des Sockels zusammen. »Isolanthis! Ich habe sie mit Leid überschüttet … mir ist es, als habe ich eine Tempelblüte in silbernem Kruge gebrochen …«

Seine Stirn berührte den harten Boden, ruhte auf dem Zeichen der göttlichen Weisheit; kalte Schwingen strichen über ihn hin und machten sein Blut erstarren.

Für ihn gab es keine Erlösung … keine …

»Nur wenn sie mir vergeben würde … sie … Isolanthis …«

Dann schwanden ihm die Sinne.


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