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Der Traum

Der keusche Duft der Mondblumen flutete durch den engen Spalt in Isolanthis' Schlafgemach. Das weiche Licht einer kleinen Sonne fiel auf die Ruhende.

»Eine Heimkehr gleicht einer Wiedergeburt«, dachte sie, »weil unser Verhältnis zu Menschen und Dingen ein anderes geworden. Wie verändert ist mein Vater! Immer etwas wortkarg, ist es nun, als schrecke er vor jeder Berührung mit der Außenwelt zurück. Und warum diese Bestürzung über Siotatls Tod und Tehuans Thronbesteigung?«

Ein einzelner Stern leuchtete zu ihr herein, und während sie in sein Flimmern schaute, kroch ein leises Grauen vor der Schwere des Lebens in ihr Herz. Wann hatte sie das einmal schon so drückend empfunden, so als könne sie den Weg nicht gehen, der hinter dem Schleier der Zukunft verborgen, ihrer harrte …

Reisemüdigkeit schloß ihr die Augen. Sie glitt ins Traumland, und plötzlich stand ganz klar das Bild vor ihr, das sie im wachen Zustand gesucht und nicht gefunden hatte.

Es war kurz nach jenem Besuch bei Sembasa gewesen, als sie ihr zweites Ich gefunden und ihren Traum verloren hatte. Sie schritt, noch sehr nahe an der Grenze zwischen Kindheit und Jugend, durch den sternenerhellten Garten und sog den Duft der Blüten ein, doch eine jähe würgende Angst vor dem Leben trieb sie dem kleinen Häuschen am Ende des Grundstücks zu, in dem Rakitis wohnte. Alt war sie, sehr alt, und reich sollte das Wissen sein, das die verrollenden Jahre ihr gebracht hatten.

Zögernd hatte Isolanthis in jener Nacht die Schwelle des Häuschens gekreuzt und noch zögernder zu der alten Frau gesprochen, deren Augen dunkel wie Waldweiher waren, und die so geheimnisvoll aufleuchten konnten.

»Deine Augen hat die Zeit geklärt und Weisheit hat deinen Blick vertieft; schau in die Zukunft, o Rakitis, und sage mir, was mich erwartet! Mein Herz ist wie ein Fels auf weichem Grund, es versinkt mehr und mehr im Schlamm seltsamer Befürchtungen.«

Isolanthis durchlebt den ganzen Vorgang noch einmal. Sie sieht, wie Rakitis ihre schmalen, weißen Hände in die ihren nimmt und den einzelnen Linien nachgeht, sie sorgfältig prüft. Hierauf stellt sie ein durchsichtiges Gefäß mit Wasser gefüllt auf den blockartigen Tisch und hält einen kleinen Stern darüber, in dem ein Licht brennt. Sie schaut wieder auf die Linien der Hände, die hinter dem Wasser sichtbar werden, und beobachtet sehr genau die verschiedenen Ausstrahlungen. Auf dem Grunde des Gefäßes glüht dunkelrotes Licht, das bald in warmes Violett übergeht, und dieses wird zu wunderbarem Blau, das in hellem Grün ausklingt.

Das Wasser zittert, und die Alte schaut. Merkwürdig schimmern Hände und Linien. Endlos blickt das Weiblein in das leicht bewegte Geflimmer, Eigenartig matt und tonlos spricht es:

»Zwei Wege stehen dir offen, o Isolanthis! In jedem Falle ist dein Schicksal groß, und immer wirst du auf den höchsten Höhen der Menschheit wandeln …«

»Ach … Höhen sind kalt und einsam …«

Rakitis ließ sich nicht beirren. Ernst fuhr sie fort:

»Reichtum wirst du in Händen haben und viele Tränen lindern, aber ebenso viele Tränen um dieses Gold vergießen, das dir kein Glück bringt.«

»Werde ich … glücklich sein?«

»Du bist noch sehr jung, und vielleicht fällt es dir schwer, die Wege zu verstehen, die sich dir öffnen. Oft ist es Gnade, nicht sehen zu dürfen. Wirf keinen Blick voraus! Es kommt Sonnenaufgang und es kommt Sonnenniedergang, es wechseln Monde und Gezeiten … auch dein Schicksal steigt herauf und …«

Stille, und dann wieder die Stimme der Alten, wie Wasser über gluckerndes Gestein:

»Du willst es trotzdem wissen? Gut, so höre: Du kannst glücklich werden im Leben. Wie von lodernden Flammen wirst du von Liebe umgeben sein. Ein Herrscher wird kommen und dir sein Land zu Füßen legen. Du darfst über sein Herz, seine Seele und sein Land herrschen, und die Freude rauschender Lust wird dein. Voll Wärme und voll Licht zeigt sich dir das Dasein, voll heißer Liebe, wie man sie nur selten findet, und deinem Pfad entlang blühen der Blumen viele. Auf jeden deiner Schritte lauscht sorgende Liebe, und jedem deiner Wünsche wird Erfüllung, wenn du diesen Weg gehst …«

»Er ist wunderschön … er führt in ein Märchenland …«

»Ja«, flüsterte die Alte, »er führt ins Traumland der Sinne.«

»Und … der andere Weg?«

»Auch er führt höhenwärts, doch wenn du ihn gehst, o Isolanthis, so bleibst du ganz einsam. Es gibt für dich, hast du ihn einmal wirklich eingeschlagen, nichts mehr als kalte Pflicht. Dein Leben gehört deiner Mitwelt, und viele Augen sind auf dich gerichtet. Du wanderst im Schatten und über Dornen, doch dein Gesicht wird sorgsam alle deine Gefühle verbergen. Du mußt an Freude und an Liebe verzichtend vorüberschreiten, und alle Wünsche deines Herzens müssen schweigen. Stürme werden dich kalt umbrausen, und einsam, ganz einsam, wirst du an der Pforte des anderen Lebens stehen …«

»Ganz einsam?!«

»Ja, ganz einsam. Die Nacht wird an deinen Kleidern zerren, der Sturmwind wird dein Gesicht umbrausen, deine Augen aber, o Isolanthis, werden die Sterne suchen, und sie allein werden dir den Weg weisen, denn dieser Pfad ist der Sternenweg. Ihn gehen nur reife, nur starke Seelen.«

»O Rakitis, welchen werde ich wählen? Welcher ist der rechte Weg für mich?«

»Diese Antwort muß dir selbst werden, muß aus deinem Ich aufsteigen, wie Sterne durch das Nachtdunkel brechen. Ob Traumweg oder Sternenweg, sobald du ihn gewählt hast, ist er dein Weg, der rechte Weg geworden.«

Da hatte Isolanthis bitter geseufzt.

»Du darfst wählen.« Deutlich vernahm sie auch im Traume die verbrauchte Stimme der Alten. »Mir ist es verboten, dir zu raten.«

»Siehst du, welchen der beiden Pfade ich beschreiten werde?«

»Nein, doch ich ahne es.«

Die schmalen weißen Hände umschließen, diesmal bebend, wieder das Glas, über dem der Stern funkelt. Die Ausstrahlungen brechen sich im Wasser in bunten Farben, wie die Gedanken durcheinanderweben. Es leuchtet sehnend noch einmal das tiefe Rot auf und schwindet; dann gleitet durch das helle Violett ein feiner bläulicher Schleier, der zu warmem Blau wird, so rein und so licht, wie man es auf dieser Erde nicht zu sehen vermag. Das verebbende Grün darüber ist so durchsichtig, daß die Alte jede der zarten Handlinien hindurch klar erkennt.

Da nickt sie leise, sehr befriedigt, und um den welken Mund huscht ein Lächeln, das halb beglückt und halb voll Schwermut und Mitleid ist.

Isolanthis weiß noch nicht, welchen Weg sie gehen wird, noch bangt ihr vor des Lebens Höhen und Tiefen, und ihr Haupt sinkt auf den Block, als drücke schon ein Goldreifen die bleiche Stirne.

»Hab' Dank …«, flüstert sie endlich und geht still hinaus.

Über ihr funkeln die Sterne, sie locken und rufen. Wird sie den Sternenweg gehen? Ist sie stark genug, um den Stürmen zu trotzen, um verzichtend an allem vorüberzugehen, was Menschen Glück nennen? Ist sie mutig genug, um in der Nacht des Leids das Licht ihres Sterns nicht erloschen zu glauben? Wird ihr Herz nicht bangen, wenn die Seele einsam, ganz einsam, in Nacht und in Sturm vor der Pforte des anderen Lebens steht?

Sie bricht eine Mondblume und schaut lange in den weißen reinen Kelch. Da steigt das Sternenheimweh in ihr auf, und über die erst so kindlichen Züge breitet sich plötzlich der Ernst eines reifen, leidwissenden Menschen.

*

Auf leisen Sohlen schlich der Morgen an ihr Lager und streute sein Gold auf die Liegende. Isolanthis erwachte.

Die Heimkehr, der veränderte Vater, geflüsterte Worte …

Sie lauschte in sich hinein, den Vorhang der Wimpern noch schützend vor den Augen.

Nur zwei Leben zwischen der Krone und …

Ein Frösteln durchfuhr sie, ein Bangen vor dem Sein, ein Ahnen. Ihr war's, als trüge sie eine Last – eine goldene Last.

Der Traum! Ach, ihr Traum …

Ihr Herz krampfte sich zusammen, doch dann wußte sie, was ihre Seele seit langem gewußt hatte: der Weg, den sie gewählt und schon beschritten hatte, führte über die Dornen der Pflicht in die Höhen des Sturms, wo die Nacht an ihren Kleidern zerren und wo ihr Herz mit seinen toten Wünschen schweigen würde. Der Pfad des Entsagens und des Verzichtens, der Pfad der Kälte und der Einsamkeit, den nichts zu erhellen vermochte als das Licht in ihr selbst:

Der Sternenweg.


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