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Zu Füßen des Weisen

Die Dunkelheit lag als schwarzer Mantel um die Stadt der goldenen Tore, als Isolanthis die siebenmal siebzig Stufen zum Turm des Sonnenaufgangs hinter sich hatte und durch sich jagende Wolken fahl vereinzelte Sterne funkelten. Aus dem Gemach des Weisen drang der Rauch der Opferstäbchen bis hinab auf die Treppe, doch er selbst stand oben, auf der äußersten Plattform, und blickte seltsam spähend in ungeahnte Weiten. Tief unter ihm zerrte der Nachtwind am langen Trauertuch, verwandelte es in eine weiße, sich wild krümmende Schlange, entrollte es wieder und drückte es flach an das Gemäuer des Turms.

»Du suchst mich, Isolanthis?«

Die Stimme kam von weit her, schien zeitlos.

»In meiner Herzensnot komm ich zu dir …«

Sembasa hatte sich umgedreht und schaute nun in das bleiche, zu ihm erhobene Gesicht.

Sie schwiegen beide, denn im Zeitlichen vollzog sich eine Wende. Die Wolken jagten, die Sterne flimmerten, der Wind riß an den Flaggen und klagte, und auf der Stadt lag Dunkelheit. Endlich sagte Isolanthis:

»Amenavit bleibt fern, Etelku hat den Weg der Entsagung gewählt …«, sie schwieg, denn manche Dinge durften nicht in die Fessel der Worte geschlagen werden.

»Noch leben andere aus altem Herrschergeschlecht …«

»Ja, Daminophis, der Künstler. Groß ist er in der Kunst, und sein Herz ist warm, doch ist er jung, sehr jung … für solche Bürde.«

»In der Begrenzung von Raum und Zeit gesehen, bist auch du noch nicht greisenhaft«, und es war Isolanthis, als spiele der Schatten eines Lächelns um des Weisen Mund.

»Ich?« seufzte sie versonnen, »ich? Ach, ich bin leidgereift.«

Sembasa nickte.

»Soll Daminophis König werden?« fragte sie zweifelnd. »Ist er – bei all seinen großen Gaben nicht doch zu … zu …«

»… erdgebunden?« ergänzte der Weise voll Güte.

»Ja, daran dachte ich wohl.«

»Es bleibt dein Vater.«

Isolanthis schwieg.

Sembasa betrachtete den Gang der Gestirne. Langsam zerstreuten sich die Wolken, die Klarheit wuchs,

»Hinter ihm steht ein Schatten …«, begann das junge Mädchen beinahe flüsternd, »und eine Krone gehört in reine Hände.«

»In reine Hände …«, wiederholte der Weise.

»Er darf sie nicht annehmen, darf nicht als wandelnde Lüge durchs Leben gehen, darf nicht als Schattengestalt …«

»Wo Licht ist, da ist Schatten …«, nun sah er gütig in ihr Gesicht, »und so kann hinter manchem Schatten auch ein strahlendes Licht stehen.«

»Hinter meinem Vater«, entgegnete sie tonlos, »erhebt sich ein finsterer Schatten, und hinter jenem Schatten steht neuerdings eine Gestalt, die wenigstens eine Seite seines Ichs den dunklen Mächten zugekehrt hat: Arototec wünscht durch meinen Vater zu herrschen, und das Wohl eines ganzen Volkes hängt … von der Krone ab!«

»Nur ein Mann darf die Krone von Atlantis vor der Welt und vor dem Volke tragen – so will es alter Brauch. Eine Krone aber gleicht einer Opferschale, und die Seele, die solche Verantwortung trägt, muß die eines Priesters sein: selbstlos, rein und stark …«

»So soll Etelku …?«

Er winkte ihr zu schweigen.

»Eine Krone ist wie ein Stern: sie leuchtet den Wanderern heim. Durch Freud' und Leid und durch Wandlungen aller Art und bis in die Nacht von Elend und Tod und Untergang … Wer eine Krone trägt, muß sich selbst ganz vergessen können, denn er ist ein Diener aller geworden. Ein Halt, ein Licht und eine Zuflucht. Nur starke Seelen sind berufen.«

»O … Sembasa …«, seufzte sie, denn sie gedachte ihres Vaters.

»Was liegt hinter dem Leben?« fragte der Weise sanft.

»Der Tod!«

»Und hinter dem Tode?«

»Das Leben …«

»Hinter der Nacht liegt der Tag, hinter dem Dunkel das Licht, hinter dem Schatten des Truges die Wahrheit. Laß deinen Vater gekrönt werden, obwohl hinter ihm der Schatten steht und er nie mehr als Schatten sein darf, denn so will es das ewige Gesetz von Ursache und Wirkung. In Wahrheit aber«, und nun legte er seine Hand segnend auf das Haupt der Weinenden, »wirst du die Krone tragen …«

»Ich? O Sembasa … ich bin nicht würdig! Denk an die ungeheure Verantwortung …«, rief sie, erschrocken aufspringend.

»Wer zu Großem berufen ist, dem wird dazu auch die Kraft verliehen. Noch bist du dir nicht klar geworden, daß deine Seele seit langem den Sternenweg gewählt hat: den Pfad der Pflicht und des Verzichtens.«

»Es sind hohe Pflichten, die meiner harren …«

»Gewiß, doch daß du gewählt wurdest, beweist, daß die Unsichtbaren an deiner Kraft nicht zweifeln und um dein festes Wollen wissen. Geh ihn unverzagt, o Isolanthis, um deines Volkes willen!«

Sie schwiegen. Um sie lag die weihevolle Stille der Nacht.

»Ich habe deine große Bestimmung vorausgesehen«, sagte endlich der Weise, »und habe dich deshalb ins Haus der Wissenschaften geführt. Um richtig dienen zu können, muß Güte sich mit Wissen, Weisheit sich mit Liebe paaren. Dein Wille muß dich tragen wie einen Adler die erstarkten Schwingen, und dein Herz muß schweigen, ja – dein armes Menschenherz muß schweigen – lange, lange … bis einmal der Weg licht und kurz geworden. Du gehst den Weg der Einsamkeit, den Weg gebenden Lichtes.«

Ein Seufzer verzitterte im raunenden Wind.

»Sei stark«, sagte der Weise liebevoll, »auf daß andere sich an deiner Stärke aufrichten! Trag deine Krone anderen dienend. Gold wirst du besitzen, um viel Not zu lindern, selbst wenn auf deinen Reichtum deine Tränen regnen müssen. Die Fürsten der Erde werden deine Krone bewundern, obschon du nur ihre Last fühlst und ihren unerträglichen Druck. Sei mutig! Zwischen den dunklen Mächten und deinem Volke stehst nur du allein. Geh herzenseinsam«, seine Stimme wurde weich, »auf Liebe und auf Glück verzichtend, doch wisse: In der Nacht, die kommt, die kommen muß, wirst du den anderen Licht sein, selbst wenn dir kein anderes Licht als das der Sterne leuchtet, die dir den Weg weisen …«

Nichts um die beiden auf dem Turm als das Schweigen der Nacht.

Plötzlich erinnerte sich Isolanthis des Sprüchleins, das die Knaben gesungen hatten, und erschauerte.

»Wenn die Krone liegt in Frauenhand …«, murmelte sie.

»Ja, ein furchtbares Schicksal naht«, seufzte der Weise. »Dein Licht kann es noch zurückhalten, darum geh in Frieden! Je dunkler die Schatten werden, desto heller wird dein Schein, deine Kraft wird vielen Kraft verleihen, und du wirst im Tode irrenden Seelen ein Stern sein.«

»So möge meine Seele erstarken zu dieser hohen Pflicht und möge mein Herz schweigen.«

»Halte deine Blicke künftighin auf das Ewige gerichtet, in dem allein du nun wurzeln darfst. Die Liebe deines Volkes wird dir folgen durch den Wandel der Zeiten. Sei gesegnet!«

»Bleib mein Führer durch die Wildnis meiner schweren Pflichten«, bat sie, die Arme kreuzend und das Haupt gesenkt.

»Das ist das Reich der Sterne«, erwiderte er lächelnd, »und du gehst den Sternenweg! Ruh dein müdes Herz hier aus, sooft du dessen bedarfst, und bringe deine geprüfte Seele hier in Einklang mit dem Ewigen. Der Friede des Lichtes sei mit dir!«

Da stieg sie, in sich selbst gefestigt, zu den Menschen hinab, über die sie in Zukunft herrschen sollte.

Zu ihrem Volke und zu schwerer Pflicht.

Hoch über ihr durch das mondlose Dunkel flimmerten schwach die Sterne …


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