Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nun, Enzio, sagte er, und bemühte sich, seiner Stimme einen frischen Ton zu geben – willst du dir meine Symphonie rekonstruieren? – Wieso? fragte Enzio mit leeren Augen. – Weil ich dich vorhin immer ein paar Takte daraus spielen hörte. Ein bißchen falsch, aber doch ganz gut behalten. Enzio starrte ihn an: Das war aus deiner 501 Symphonie? Dann seufzte er tief: Also war das auch wieder nichts. Ich glaubte, es wäre ein Einfall von mir. – Sieh doch nicht so trostlos aus! Laß doch dieses Komponierenwollen um jeden Preis! Wir rufen die Einfälle nicht, sie rufen uns! Zerstreue dich! Nächste Woche reist du vor allem einmal mit uns aufs Musikfest, um mich zu trösten, wenn mein Werk durchfällt! – Ist es nächste Woche schon? fragte Enzio, beinah erschreckt. – Ja, und ich habe eine gewaltige Angst! Schließlich ist es doch keine Kleinigkeit. Du mußt mitkommen, an deinem Urteil liegt mir mehr als an allen andern. – Rede nicht so trivial, glaubst du, ich merke nicht, was du damit willst? Aber ich gehe nicht mit! Denk nicht, daß ich neidisch wäre oder einen Erfolg deines Werkes nicht ertragen könnte! Aber du mußt begreifen, daß der Gegensatz, den ich zu mir selber fühlen würde, zu furchtbar bitter wäre. Versuche nicht, mich umzustimmen – ich gehe nicht mit, das ist schon längst von mir innerlich fest beschlossene Sache. Ich bin zerschlagen genug. Sieh nicht so traurig aus, halte mich nicht für unfreundschaftlich, du weißt nicht, wie über alle Maßen trostlos und leer es in mir aussieht! Und wenn ich dich dagegen sehe! Du machst deinen Weg ganz still, niemand hat je ein Wort von dir über dich selbst gehört, – ja! ja! ich bin neidisch, maßlos neidisch, aber nicht auf dich, sondern auf 502 das Glück, das dich so sehr beschenkt hat, während ich betrogen wurde. Gott weiß, von wo dir dein musikalisches Talent kommt. Woher meines stammt, das weiß ich leider: Ich bin der Sohn meines Vaters, und sein Schicksal sehe ich vor mir. Aber soweit lasse ich es nicht kommen. Ein Leben führen, wie er es tut, in einer seichten, halb resignierten Zufriedenheit – das will ich nicht! Und doch: Das Leben meines Vaters steht wie ein Orgelpunkt über meinem eignen Leben, auch sonst noch! – Wie meinst du das? – Das sind Dinge, die kann ich niemand sagen, ich fürchte mich, sie vor mir selber auszusprechen, aber ich habe Angst, daß sich alles schattenhaft in mir wiederholen wird.

Richard dachte, als er gegangen war, darüber nach, was Enzio mit diesen letzten Worten meine. Aber er erriet das Richtige nicht.

Enzio hatte so sehr den Glauben an sich selbst, an die Beständigkeit seiner Gefühle, an die Tiefe seines ganzen Lebens verloren, der Gedanke, er stehe gleichsam unter einem väterlichen Verhängnis, war so fest in ihm geworden, daß er Dinge als unentrinnbar voraussah, die noch als Fragen in der Zukunft schwebten.

Er konnte sich selbst nicht ändern, das fühlte er. Ein Schwanken, Treiben seiner Leidenschaften, ein treuloses Sichgehenlassen würde ihn sein ganzes Leben lang beherrschen. Wenn er einmal heiratete, 503 so sah er ein Schicksal der Ehe voraus, ähnlich wie es seine Mutter getroffen hatte; ein Schicksal, so jammervoll, wie sie es all die vergangenen Jahre an der Seite ihres Mannes ausgekostet hatte, würde auch das Los des Mädchens sein, das er selber an sich band; ja, wahrscheinlich würde es noch viel trauriger, abstoßender sein. Er suchte diesen Gedanken zurückzudrängen, aber er meldete sich stets von neuem. Was war von seiner Liebe zu Irene, zu Bienle dauernd gewesen? Die Erinnerung an beide zerrte noch in ihm, und doch begann er schon wieder nach neuen Erlebnissen auszusehn, halb aus Verzweiflung, wie er sich einzureden suchte, und halb, weil seine Natur nicht anders konnte. »Der schöne Enzio« hieß er auf dem Eise. Wenn er sich zeigte, gab es Zank, Eifersucht und heimliche Intrigen unter den Mädchen. Und er konnte nicht anders: Wo er selber Schönheit zu sehn glaubte, da riß es ihn unwiderstehlich hin. Scham und Vorwürfe hinterließen solche Erlebnisse in ihm, aber er war widerstandslos geworden. In ruhigen Augenblicken hatte er dann einen Abscheu vor sich selbst. Was sollte aus ihm werden?

Als Richard ihn verlassen hatte, nahm er das Blatt, auf das er die Takte geschrieben, die nicht seine eigenen waren, zerriß es und warf es in das Feuer. Ihm folgten alle andern Versuche aus der letzten Zeit. Dann stand er vor seinen früheren 504 Kompositionen, und plötzlich fiel ihn ein sinnloses Wüten gegen sich selber an. Alles, was er je geschrieben, erfüllte ihn mit Ekel und mit Abscheu, Stück für Stück zerriß er und warf alles in die Flammen. Nichts sollte übrig bleiben. Bei manchem zauderte er einen Augenblick. Fort! rief er dann, und es folgte den übrigen, bis nichts mehr da war.

Auf dem Grund der Lade lag ein versiegeltes Papier. Er wußte nicht, was es enthielt, es fiel ihm aber ein, während er es öffnete.

»Was wird heute über zehn Jahre sein?«

So lange, murmelte er, brauche ich nicht mehr zu warten, um das zu wissen. Genau so sprach ich damals, aber damals meinte ich es anders. Weg damit, ins Feuer.

Endlich stand er mitten im Zimmer und sah sich nach allen Seiten um. War noch irgend etwas übriggeblieben von der Vergangenheit?

Alles war verbrannt.

Nun lagen die Jahre seines Schaffens wie ein leerer Raum hinter ihm, er fühlte sich fast ohne Körper.

War nichts, gar nichts übriggeblieben?

Das rote Buch! schoß es ihm durch den Sinn. Irene hat mich nicht gewollt, und nun soll sie auch das Buch nicht mehr behalten! Es muß zugrunde gehn mit allem übrigen.

Wenn sie es nicht mit sich fortgenommen hatte, 505 so mußte er es finden. Der Diener würde ihn einlassen, der wußte nichts von allem, was sich ereignet hatte, es würde ihm leicht sein, unter irgendeinem Vorwand in Irenes Zimmer zu gelangen. Sofort verließ er das Haus.

*


 << zurück weiter >>