Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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Weshalb soll ich mich so quälen? dachte Enzio manchmal, wäre es nicht das einfachste und natürlichste, ich hätte ein Mädchen, so wie die Menschen am Theater alle? Die Eveline? Ob ich einmal wieder hingehen soll? Immer nahm er sich dies vor und ging dann doch nicht. Grade jetzt, wo er einen bestimmten Wunsch hatte, traten ihm so viele Hemmungen in den Weg. Eines Abends dachte er: Ich nehme mir gar nichts vor, dann geht es leichter. Und wirklich ging er. Halb hoffte er, sie sei nicht da, und halb fürchtete er es. Als er 136 sich grade seine roten Trikots anzog, stürzte Eveline in die Garderobe, sah sich um und rief: Gut, daß keiner weiter drin ist; Enzio! da bist du ja endlich wieder! Sie ließ sich mit einer leichten, graziösen Bewegung zu seinen Füßen nieder, ergriff seine Hand und streichelte mit ihr das eigene Haar. Es war ein so zierlich-kindliches Ding, daß er sie, wie er sie kennen lernte, für dreizehnjährig hielt. In Wirklichkeit war sie älter als er. Jetzt lächelte sie so, daß ihre spitzen Kinderzähne zum Vorschein kamen, und ihre grauen, wissenden Augen wie flache, kleine Mondbögen erschienen, und plötzlich biß sie ihn in seinen Daumen. – Au! rief er; laß mich los, ich muß mich anziehen! Sie setzte sich auf seinen Schoß, baumelte mit den Beinen und sagte: Du, Enzio, hast du mich wirklich lieb? – Er nickte und schlang seinen Arm um sie. – Wir haben uns doch geschworen, fuhr sie fort, daß wir uns treu bleiben wollen? Aber ich merke von deiner Treue nichts! – Wie meinst du das? – Wir haben uns doch noch nie so richtig lieb gehabt! – Ach so! sagte er, und es schauerte ihm über den ganzen Körper. Sein Herz klopfte schnell. Sie sah ihm in die Augen, packte ihn bei beiden Schläfen, rieb ihre kleine Nase auf seinem Gesicht und flüsterte ihm ins Ohr: Erwarte mich nach der Vorstellung draußen am kleinen Ausgang! Dann lief sie davon. – Nun ist es so weit! 137 dachte er, zog sich schnell fertig an, eilte ihr nach und hielt sich während des Aktes immer in ihrer Nähe. Sie drückten sich die Hände, warfen sich verliebte Blicke zu und waren auch in der Pause zusammen, bis irgendein Mensch ihren Namen rief, worauf sie für kurze Zeit verschwand. Im dritten Aufzug gab es den Brand eines Hauses, bei dem alle zugrunde gingen bis auf ein kleines Mädchen, das jammernd nach Vater und Mutter zu rufen hatte, während eine Volksmenge es umringte. Dieses Kind gab Eveline. Als sie so dastand und klagte, sagte ein alter Statist, dessen größte Rollen im Hintergrund segnende Eremiten waren, zu Enzio: Vor dem Frauenzimmer kann ich Sie nur warnen! – Weshalb? – Er antwortete nicht gleich, sondern stimmte für kurze Zeit in das mitleidige Gemurmel der Menge ein, sah mit unglücklichem Blick und bedeutungsvollem Kopfschütteln seinen Nachbarn zur Rechten an, der Miene und Bewegungen genau so erwiderte, als könne sich nur einer durch den andern trösten über die Tatsache, daß hier ein obdachloses Kind vorhanden war, dann sprach er weiter: Nehmen Sie sich vor der nur in acht! Enzio verstand noch immer nicht. Sie traten hinter die Kulisse, und dann lief er nach ein paar Minuten in die Garderobe, wusch sich das ganze Gesicht mit Seife ab und rieb sich immer wieder seine Lippen. Von diesem Abend an betrat er die 138 Bühne nie wieder. Er war über Dinge aufgeklärt worden, von denen er zwar in der Schule dunkel hatte reden hören, die ihm aber doch stets nur halb sagenhaft erschienen waren.

Weshalb hat mir mein Vater nie das Geringste gesagt?! dachte er; das war doch seine Pflicht, – wenn dies Gespenst überall in der Welt herumläuft.

So hatte dieser erste Versuch, herauszubrechen aus den Schranken seines Ichs, nur dazu gedient, daß er sich vorläufig noch mehr in sich selbst zurückzog.

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