Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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Die Zeiten, wo er unter dem Flügel liegend seinem Vater zuhörte, waren längst vorbei. Jetzt saß er still in dem großen Ledersofa, neben seiner 42 Mutter, wenn Quartett gespielt wurde, wie es seit einiger Zeit im Hause des Kapellmeisters eingeführt war.

Und das musikalische Blut in ihm begann sich leise zu regen. Ganz heimlich schlich er sich zuweilen in das Zimmer seines Vaters, wenn er niemand darin wußte, setzte sich an den Flügel und suchte sich Akkorde zusammen. Unter ihnen war einer, von dem er glaubte, daß es ihn eigentlich nicht gäbe, daß er ihn gefunden habe, und das war der allerschönste. Es war ein Akkord mit einem Vorhalt, der auf die Auflösung wartete, und es lag in ihm eine so schmerzliche Süßigkeit, daß er ihn immer von neuem anschlug und sich leise an ihm berauschte. In diesem Klang war etwas, das ganz anders war als alles in der Welt, etwas, das mit allem nicht einverstanden war und sich nach einem andern sehnte, ohne es zu finden; denn Enzio versuchte stets erfolglos aus ihm herauszukommen, immer auf eine andere Weise. – Der Kapellmeister lauschte mehrere Male hinter der Tür, fühlte, wo er hinaus wolle, und dachte voller Freude: Der Junge hat das echte Musikantenblut in sich; merkwürdig, das erste, womit er anfängt, ist gleich ein Problem! – Einmal, wie er wieder so lauschte, trat er ein.

Sofort erhob sich Enzio und wollte zur andern Tür hinaus. Er hielt ihn aber zurück und hieß 43 ihn seinen Akkord nochmals anschlagen. Er tat es nicht, aber wie sein Vater mit gemütlicher Energie darauf bestand, schlug er aufs Geratewohl einen verminderten Dreiklang an. – Der ist auch sehr schön, aber den wollte ich nicht hören. Spiel den, den du vorher gespielt hast, wie du allein warst. – Enzio tat als dächte er nach, dann sagte er, dieser sei es gewesen. Sein Vater sah ihn zweifelnd an: glaubte er das selbst im Ernste? – Diesen hier hast du gespielt! meinte er und schlug den rechten an: und dann konntest du nicht weiter! Enzio errötete. Ihm war, als habe er einen Schatz versteckt gehabt und als werde der nun gelüftet. – Paß auf, die Geschichte ist ganz einfach: Der Kapellmeister improvisierte ein paar Takte, in denen er auf jenen Akkord hinarbeitete, sagte: Jetzt! als er ihn anschlug, und dann griff er, lauter und langsamer als zuvor, zwei neue und endete mit einem Schlußakkord, wie Enzio ihn aus allen Liedern kannte. – Was machst du denn für ein Gesicht? Gefällt dir das nicht? – Enzio schüttelte den Kopf. Der Kapellmeister führte die Harmonie zu einer andern Lösung. –Ist es so schöner? – Enzio holte Atem, hielt ihn einen Augenblick an, und stieß ihn wieder aus, ohne etwas zu sagen. – Mir scheint, dir gefälltes noch immer nicht? –

Bald nach dieser ersten musikalischen Unterhaltung bekam Enzio Klavierunterricht bei seinem 44 Vater. Er führte ihn auch in die Anfangsgründe der Harmonielehre ein, die Enzio schon längst instinktiv begriffen hatte, ohne zu wissen, daß sie etwas Besonderes sei. Nach nicht allzulanger Zeit konnten sie dazu übergehn, kleine, einfache Lieder in Begleitung zu setzen. – Das ist aber alles genau so wie in der Schule! sagte er einmal, so einfach – ich möchte gerne etwas Schwereres! Alle Einwände seines Vaters halfen nichts dagegen, und zum Spaße meinte er: So, jetzt spiel du da oben mit beiden Händen in Oktaven deine bekannte Melodie, und ich werde links dazu eine Begleitung machen, die nicht so einfach ist; es soll mich doch wundern, ob du durchkommst. Beide setzten sich vor den Flügel und begannen. Es war eines der Volkslieder, wie sie in der Schule gesungen wurden. Gleich nach den ersten Tönen drohte Enzio alles zu verlieren. – Paß auf den Weg! paß auf den Weg! rief sein Vater. Das Ganze klang in Enzios Ohren falsch und doch wieder richtig, mit äußerster Konzentration seiner Erinnerung rang er dem Klavier die Melodie ab und hörte dabei doch immer die verwirrenden Klangfolgen neben sich. Er bekam rote Wangen und geriet in Schweiß, es war wie ein Kampf auf Leben und Tod, wie ein Wettlauf mit Bleigewichten an den Füßen, wie eine langsame Flucht durch eine enge Höhle, als wenn ihm ein unbekanntes Ding dicht auf den 45 Fersen bliebe und ihn immer vorwärts drängte, ohne daß er doch die Hoffnung hatte je herauszukommen. Immer angstvoller, atemloser wurde es. Endlich war es vorüber. Eine ungeheure Anstrengung war das für ihn gewesen. Bravo! rief der Kapellmeister, bravo! Ich hätte nicht gedacht, daß du durchkämest. Was machst du denn für ein Gesicht? – Enzio fühlte sich vollkommen leer im Kopf. Er sah seinen Vater an und lachte, kurz und grundlos, und dann zuckte es heftig um seine Lippen.

Er ist himmlisch, einfach himmlisch! sprach der Kapellmeister später zu seiner Frau, von einer musikalischen Nervosität, und von einem Ehrgeiz – ich hätte niemals gedacht, daß er einen solchen Ehrgeiz hätte!

Allmählich gelangte Enzio dazu, selbständig kleine Melodien zu schreiben zu einem Begleitgerüst, das ihm sein Vater gab. Ihm ging eine ganz neue Welt auf. Leise lernte er die Freude des Schaffens kennen, wenn auch in ganz primitiven Formen. Aber wenn ihm etwas auch noch so gut gelungen war: immer hatte er das Gefühl, als müsse es noch viel schöner sein.

So einfach wie die Sachen sind, sagte der Kapellmeister, sie sind fast alle miteinander von einer ganz besondern Qualität. Ich erinnere mich nicht, Besseres gemacht zu haben, wie ich so alt war. –

46 Halb froh, halb schmerzlich war es Caecilie, wenn sie ihren Mann so reden hörte. Denn aus seinen Worten klang ihr eine unausgesprochene Resignation in bezug auf seine eignen Kräfte. Jetzt arbeitete er an einer tragischen Oper, aber es schien, als werde sie nie über den Anfang des zweiten Aktes hinauskommen. Langsam und mühselig war sein Schaffen. Vielleicht, sagte sie einmal zu ihm, solltest du dich doch wieder der früheren Art deines Talentes zuwenden, warum muß es denn durchaus schwer und tragisch sein! – Caecilie, das verstehst du nicht! antwortete er nervös und ungeduldig. Jene Zeiten sind vorbei, müssen vorbei sein. Du wirst es schon erleben, ob ich Erfolg habe oder nicht; überhetzen, übereilen darf ich nichts, alles muß langsam und natürlich reifen. –

Sollte Enzio einmal denselben Beruf erwählen wie ihr Mann? Diese Frage lag ja noch in weiter Zukunft, aber Caecilie begann sich doch schon jetzt mit ihr zu beschäftigen. Und wenn ihn dasselbe Schicksal treffen würde wie seinen Vater? Oder wenn seine Begabung nicht ausreichte? Sprach der Kapellmeister von Enzios Zukunft, so lenkte sie die Unterhaltung bald auf andere Dinge. Und eines stand ganz klar in ihrer Seele: Nie würde sie zugeben, daß Enzio sich ganz der Musik widmete, wenn dieses nicht sein einziger, sein glühender und durch nichts umzustoßender Wille wäre. – Ach, 47 wenn er es doch wäre! so kam es ihr unwillkürlich in die Gedanken, wenn ich in ihm doch rein und strahlend aufblühen sähe, was in seinem Vater so furchtbar schwer zum Durchbruch kommt!

Einmal, zu Weihnachten, hatte Enzio seiner Mutter ein kleines Stück komponiert. Da gab es den ersten Kampf. Der Kapellmeister zerstörte ihm eine überraschende Wendung zum Schluß hin. Enzio rief leidenschaftlich: Wenn du mir den Takt durchstreichst, wenn du ihn änderst, dann werde ich das ganze Blatt zerreißen! So wie ich es geschrieben habe, ist es am schönsten, und grade den Takt mag ich am liebsten von allen! – Es half ihm nichts, er mußte sich fügen. Als aber der Abend kam, spielte er doch alles so, wie es zuerst gewesen war. – Hierüber war der Kapellmeister ernstlich verstimmt. – Caecilie, sagte er eifrig, wie wenn es sich um eine wirkliche Nebenbuhlerschaft handele, ich mache dich zur Schiedsrichterin, da es für dich geschrieben und von mir dann geändert ist; ich werde dir beides vorspielen, erst seines, und dann meine Änderung!

Er tat es, dann fragte er: Nun, was sagst du? – Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: Ich glaube, beides kommt mir gleich schön vor.

 


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