Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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Irenes Eltern kamen in der Dämmerung von einem Spaziergang heim; im Korridor, im Stiegenhause waren nasse Spuren. Blaß trat ihnen Irene entgegen: Er liegt oben, im ersten Stock, in meinem Zimmer, er hat das Bewußtsein noch nicht wieder, aber man hat ihn zum Atmen gebracht, endlich hat er geatmet, nachdem er da draußen . . . ihr Vater fing sie auf. – Es kann nur Enzio sein, sagte er zu seiner Frau, geh hinauf, sieh nach! – Sieh du nach, laß mich bei Irene bleiben. Er eilte die Treppe empor und warf einen Blick ins Zimmer. In Irenes Bett lag Enzio, wie ein Toter, starr und blaß, mit geschlossenen Augen. Er trat zu ihm heran und befühlte das Herz. – Irene hatte ihre Schwäche schnell überwunden. – Hast du seine Eltern benachrichtigt? fragte der Professor. Sie hob den Kopf; die fielen ihr erst jetzt ein. – Komm ins Zimmer, trink einen Schluck Wein, du hast 352 es nötig. – Sie trank, was er ihr gab. Dann saß sie wieder mit starren Augen, und erzählte beinah tonlos alles, was sie wußte. – Ihr seid beide verrückt! sagte ihr Vater, was müßt ihr auch solch tolle Streiche machen! Und dieser Wahnsinn, ihn dann hier ins Haus zu bringen. Weshalb hast du ihn nicht sofort zu seinen Eltern schaffen lassen? Irene sah ihn groß an; auf den Gedanken war sie nicht gekommen. – Ihre Mutter hatte diese ganze Zeit mit großen, sorgenschweren Augen dagesessen, jetzt erhob sie sich. Sie ging hinauf ins Zimmer, überwand ein leichtes Grauen und setzte sich zu Enzio an den Bettrand. Auch sie legte ihre Hand an sein Herz und fühlte, wie es schlug. Dann strich sie ihm leise das wirre Haar zurück, das fest und strähnig an seinem Gesichte klebte.

Es war sofort zum Arzt geschickt worden, er kam, untersuchte ihn, fand den Herzschlag schwach, ordnete einiges an und sprach die Hoffnung aus, daß Enzios gesunder Organismus den Schlag bald überwunden haben werde. Hoffentlich stelle sich kein Fieber ein, oder gar eine Lungenentzündung.

Der Professor ging zu Caecilie und erzählte ihr schonend, was vorgefallen war. Sie glaubte ihm nicht, sie fürchtete, Enzio sei tot, sie schwankte, er nahm sie in seine kräftigen Arme, streichelte sie, wie wenn er ein kleines Kind hielte und versicherte immer wieder, Enzio sei ganz lebendig. Sie wollte 353 ihn sogleich herüberschaffen in ihre eigne Wohnung, er machte ihr klar, das sei unmöglich; aber es wäre unbegreiflich, daß Irene ihn zu sich in ihr eignes Zimmer habe bringen lassen. – Das ist nicht unbegreiflich, murmelte Caecilie, ich hätte es ebenso gemacht.

Eine halbe Stunde später stand sie an Enzios Lager. Sie wollte nicht wieder fort von ihm. Eine matte Lampe brannte neben dem Bett. Immer wieder sah sie in Todesangst auf sein stilles, geschlossenes Gesicht und küßte seine Lippen. Nach langer Zeit hoben sich langsam, lautlos seine Lider, mit einem Blicke wie aus einer andern Welt ruhten seine Augen bewußtlos in den ihren, daß es sie durchschauerte, und ehe sie ihn ganz in sich aufnehmen konnte, war er schon vorbei; die Lider hatten sich wieder geschlossen, wie Tore vor einem ungewissen Reich. Sie blieb die Nacht bei ihm. Dem Kapellmeister ward ein kurzes, beruhigendes Billett geschickt. Er fand es, wie er abends aus dem Theater kam, und legte sich zu Bett, indem er dachte: Es besteht keine Gefahr, also ist es nicht nötig, daß ich die Unruhe dort vermehre durch mein unnützes Erscheinen.

Irene hatte sich zurückgezogen, nachdem sie noch einmal in Enzios Zimmer – ihrem eignen – war. Ihre Augen waren noch immer trocken und wie erstarrt. Dann lag sie oben in der 354 Fremdenstube, wach, die ganze Nacht durch. Alle Vorgänge des Nachmittags wiederholten sich vor ihrem Geist, immer wieder sah sie Enzio sinken, und sie allein hatte die Schuld. Sie sah ihn vor ihren Augen verschwinden, sie sah, wie das Eis sich über ihm schloß, wie die Männer es in Stücke brachen, wie einer von ihnen selbst beinah dabei ertrank, wie sie endlich den Körper fanden und triefend an das Land zogen, leblos, mit blauem Gesicht, wie sie ihn niederlegten und behandelten, als sei er eine Gliederpuppe, wie sie ihn künstliche Bewegungen machen ließen, um die Atmung wiederherzustellen. Grauenhaft war diese Nacht, in ihren Augen stand das Entsetzen, sie fanden keine Tränen. Mehrmals erhob sie sich und ging an die Tür ihres Zimmers; nichts war vernehmbar, sie zögerte, dann trat sie ein, in ihrem langen Nachtgewand, über das sie einen Mantel geworfen hatte. – Wie ist es? flüsterte sie. – Immer dasselbe; er atmet, aber er ist noch nicht erwacht.

Gegen Morgen schlug Enzio zum zweitenmal die Augen auf; er erkannte seine Mutter und fragte leise: Wo ist Bienle? Dann sank er wieder in seine Betäubung zurück. Aber allmählich kam eine zuckende Bewegung in seinen Körper, die sich von Stunde zu Stunde steigerte. Seine Hände griffen in die Luft und wollten Halt gewinnen, abgerissene Sätze stießen seine Lippen aus, und bald lag er in 355 hellem Fieber. Irene ward nicht mehr zu ihm gelassen. Immer von neuem kämpfte er die Todesangst durch, versank er in dem Wasser.

Tagelang lag er so, bis seine Phantasien stiller wurden. Nun redete er fortwährend von Bienle und Irene. Er verlangte das rote Buch, und rief es immer wieder. Caecilie hielt dies anfangs für wirre Phantasie, aber Irene, der sie es erzählte, wußte sogleich, was er meine: Jene in purpurrote Seide gebundene Komposition, die Enzio ihr vor Jahren schenkte. Caecilie suchte und fand sie zwischen Irenes Büchern, und gab sie ihm; er griff mit beiden Händen danach und ward sogleich still. Dann begann er eine Seite nach der andern umzublättern, als überläse er all die Noten mit großer Schnelligkeit. – Hier fehlt etwas! rief er, indem er auf das letzte leere Blatt deutete, das nur die unbeschriebenen Notenlinien enthielt. Gib mir einen Bleistift, ich muß das fertig schreiben, alles dies ist Unsinn, ich mache etwas anderes! Sie wollte ihn ablenken, aber er ward heftig und bestand darauf, so daß sie dachte: besser, ich tue ihm seinen Willen. – Mit großer Eile schrieb er jetzt das ganze Blatt voll, dann sank er zurück und murmelte: Gott sei Dank, nun ist es richtig.

Wieder vergingen Tage, dann kam der Morgen, wo er zum erstenmal mit vollem Bewußtsein erkannte, wo er war. – Was ist denn das? wo bin 356 ich denn? hörte ihn Caecilie flüstern. – Du bist zu Hause, Enzio, schlaf. – Er schloß die Augen, seine Gedanken waren müde, aber die Welt hatte wieder Macht über sie gewonnen. – Ich bin nicht zu Hause, sagte er mit Anstrengung und öffnete sie von neuem. Dann versuchte er sich aufzurichten, sank aber gleich wieder zurück. – Du denkst, sprach er nach einer Pause halblaut, ich weiß nicht, wo ich gewesen bin: ich weiß es aber ganz genau: Ich war im Wasser; und jetzt will ich wissen, wo ich bin. – Caecilie sagte es ihm. Er sah sie staunend an, dann lächelte er und schloß die Augen.

Die Besserung seines Zustands ging bald schnell vorwärts. Er verlangte Irene zu sehn. Caecilie versprach es, aber sie zögerte diesen Moment immer wieder hinaus.

Wie kommt das rote Buch hierher? fragte er einmal sinnend, indem er in die Ecke sah. – Caecilie machte sich Vorwürfe, daß sie es nicht schon längst entfernte. – Jetzt fällt mir ein – – ich habe schon geträumt, ich hielte es in Händen – warte, – warte, was kam dann noch . . . ich träumte, daß ich es weiter schrieb, – o, es war eine Musik von unerhörter Schönheit, wie schade, daß ich sie vergessen habe! Gib mir das Buch. – Nein, Enzio, laß. – Weshalb denn nicht, ich will es haben. – Du kannst es morgen ansehn. – Aber ich bin doch wieder vollkommen gesund. Ich könnte 357 aufstehn und arbeiten wie immer. – Er ließ nicht nach, sie gab es ihm widerstrebend. Er schlug eine Seite nach der andern um. Dann kam er zum letzten Blatt. überrascht haftete sein Blick darauf. – Was ist denn das? sagte er erstaunt. – Es kam ein sonderbarer Zustand über ihn, ein Zustand zwischen Traum und Wachen, als sei sein Wesen geteilt und als könne er die andere Hälfte nicht finden. Die Erinnerung stieg wie ein Dunst aus den tiefsten Böden seiner Seele und wirkte auf sein waches Bewußtsein wie ein fremder, kaum faßbarer, halb nur geahnter Geruch auf die Sinne. – Plötzlich tat es einen Ruck in ihm: Das habe ich geschrieben! sagte er; ich glaubte, ich hätte alles nur geträumt. – – Das ist ja Unsinn! fuhr er nach einer Pause fort, indem er sich bemühte, die Zeichen im Zusammenhang zu lesen. Am Schluß hatten all die Noten ihre Linien verlassen und schwärmten als Punkte frei für sich hinauf, wie eine Schar von Vögeln, die die Telegraphendrähte verlassen. – Das war das Ende! sagte er; o Gott, o Gott, und es war so schön! Das Schönste, was ich je gedacht habe! Und was ist das? da unten habe ich meinen Namen hingeschrieben? Das hat ja ein Kind gemalt, das erst die Zeichen lernt! Es sind deutsche Buchstaben, und ich schreibe doch so lange, lange nur lateinisch!

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