Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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Richard bewohnte mit seiner Mutter zusammen eine ganz kleine Halbetage in einem vierten Stock. Die Familie war bis vor kurzem ziemlich wohlhabend gewesen, bis sie plötzlich alles Geld verlor; Richards Vater, der Maler war, starb ein paar Monate vorher, er selbst mußte seine Studien am 143 Konservatorium der Hauptstadt abbrechen und war mit seiner Mutter nach Enzios Heimatsort übergesiedelt, wo er durch Vermittlung von Bekannten ein kleines Amt bekommen hatte.

Eine einfach und dunkel gekleidete Frau öffnete Enzio die Tür. Was wünschen Sie? fragte sie mit einer ernsten Stimme und ließ ihre tiefliegenden, großen Augen flüchtig über ihn hingehn. – Ich möchte Ihren Sohn Richard besuchen. – Er arbeitet; es darf ihn niemand stören. – Sie wollte die Tür wieder schließen. – Aber er hat mich bestellt für heute, für diese Stunde! – Da durfte er eintreten. – Die Türe rechts, sagte sie und wandte sich zur Küche.

Richard saß beim Scheine einer kleinen Lampe, ohne Hemdkragen, in einer Art Arbeiterjacke. Seine Augen, noch vom Licht geblendet, starrten auf die Tür, mit einem halb abwesenden, halb beunruhigten Ausdruck. Dann erkannte er Enzio. Sein Gesicht sah noch magerer und interessanter aus, als es Enzio gestern erschienen war.

Schön, daß Sie kommen! sagte er. Haben Sie etwas mitgebracht? – Ich spiele auswendig. – Um so besser, dann brauchen wir die Lampen nicht. Mama! – Seine Mutter trat ein. – Hast du in der Küche noch zu tun oder bist du fertig? – Ich bin fertig, Richard. – Dann bitte, bleib gleich hier, es wird gespielt. Ich möchte nicht gern, daß 144 eine Störung eintritt. Sie schloß geräuschlos die Zimmertür, dann machte sie eine langsame Bewegung mit dem Kopfe zu Enzio hin, als er ihr vorgestellt ward, und ließ sich in das Sofa nieder. Enzio hatte sich vorgenommen, seine allerletzte Komposition zu spielen, die er erst heute nachmittag vollendete. Richard erhob sich nach den ersten Takten und sah aufmerksam aufs Klavier, als wolle er vorerraten wie es weiter gehe. Mehrmals schüttelte er erstaunt den Kopf. Es standen Enzio, als er endete, dicke Schweißtropfen auf der Stirn. Er schloß nicht ganz so, wie es eigentlich geschehen mußte. Die unmittelbare Nähe seines neuen Freundes wirkte wie ein starker Wein, der jeder Bewegung noch mehr Energie und Ausdruck gibt. – Jetzt blickte er ein paar Sekunden aufs Klavier, dann wendete er sich um und sah fragend auf Richard: Wie finden Sie es? – Merkwürdig! antwortete der, höchst merkwürdig! Alles toll und ungebunden, aber doch – – ich hätte Ihnen das nicht zugetraut! Nicht wahr, Mama? – O ja, sagte sie zögernd, und Enzio dachte: Versteht die denn was davon?

Meinen Sie, daß ich Musiker werden soll? fragte er sogleich. Richard lachte: Wenn Sie mich danach fragen, dann werden Sie es lieber nicht! Worauf Enzio verlegen antwortete: Ich meinte nur so, ich weiß ja ganz bestimmt, daß ich Musiker werde. 145 Also hat Ihnen das Werk wirklichen Eindruck gemacht! Nur an der Form fehlt es noch etwas, das weiß ich, in der Beziehung muß ich noch viel lernen, auf dem Konservatorium. – Eigentliche Form ist freilich wenig darin, ein »Kunstwerk« ist es nicht, was Sie mir da vorgespielt haben, als Ganzes ist es unmöglich, aber es steckt etwas drin, das fühle ich deutlich! Wenn Sie sich glücklich entwickeln, so kann einmal etwas Besonderes aus Ihnen werden, das ist ganz sicher. Wie sollen Sie jetzt auch schon die Form beherrschen – das lernt sich langsam und beinah unbewußt, nur an den Beispielen größter Meister, allerdings nicht, wie es auf den Konservatorien gelehrt wird. – So? wie lernt man es denn da? – Da lernen Sie Regeln, Regeln, und immer wieder Regeln. Die sind alle ebenfalls von den größten Beispielen hergenommen, aber man lernt sie so wie Tricks. Es gehört schon viel dazu, sich von dieser Art zu komponieren wieder freizumachen. – Wieso? Es muß doch überall Regeln geben. – Natürlich, schon. Aber die größten musikalischen Schöpfungen werden einem da vorgelegt, als wenn sie Spiele wären, die man auseinandernehmen und wieder zusammensetzen kann, wenn man in die technischen Geheimnisse eingeweiht ist. Sie nehmen die Seele heraus und lassen nur das Handwerkliche übrig. Man »lernt« schon viel an den Konservatorien; aber auf Kosten von 146 andern Dingen: Beethoven schreibt an einem Höhepunkte seines Lebens eine Symphonie, – und was lehrt man Sie daran? Nicht etwa Respekt haben, sich zu beugen vor der Größe der Inspiration, die sich da auftut, sondern auch eine Symphonie zu machen. Das heißt: Von dem ganzen großen Werk bleiben Kunstgriffe und Regeln übrig. Die lernen Sie anfangs widerstrebend, dann langsam und allmählich als das Wesen der Musik erkennen. Wirkliche Form ist etwas, das man nicht eindrillen kann, was sich den großen Werken nicht abschröpfen und dann einem andern einimpfen läßt. Sie läßt sich nicht »lernen«, man kann sie nur fühlen, wenn sie schon in einem selber unbewußt vorhanden ist, im Keim. Und daran scheitern die meisten. Wie viele junge Menschen gibt es, die haben wirklich herrliche Ideen in ihrer ersten Zeit! Alles lose, locker nebeneinander; und wenn sie später ein »Werk« schaffen sollen, versagt alles. – Enzio machte ein klägliches Gesicht. – Das geht doch nicht auf Sie! Wenn Sie das Zeug dazu haben, werden Sie es schon weiter bringen. Aber Sie sollen nur nicht glauben, daß das »Form lernen«, wie Sie vorhin sagten, etwas Einfaches ist, das man gleichsam durchmachen kann in einem kürzern oder längern Kursus, um es dann zu beherrschen. Ich will Ihnen nicht die Lust zum Konservatorium nehmen, aber für unsere Ziele kommt es wenig in Betracht. – 147 Das kannst du doch nicht sagen! bemerkte seine Mutter, du hast da eine Masse gelernt. – Das meiste aber, antwortete Richard, verdanke ich mir selbst. – Wollen Sie uns nicht einmal besuchen? fragte Enzio; meine Mutter würde sich so sehr freuen, Sie kennen zu lernen! Und mein Vater wahrscheinlich auch! – Richard zögerte, dann sagte er: O ja, sehr gern. – Morgen? Enzio blickte ihn mit solcher naiver Wärme und Kameradschaftlichkeit an, daß Richard ihm die Hand auf die Schulter legte: Morgen kann ich nicht, ich bin in einer Arbeit drin, die ich erst abschließen muß; ich habe ja immer nur des Abends freie Zeit für mich; – aber nächste Woche vielleicht! – Also darf ich wohl auch nicht wiederkommen? – Doch, aber ich möchte dann gern etwas anderes von Ihnen hören.

Enzio sah ihn sehr bald wieder; er hatte eine starke Zuneigung zu diesem neuen Freund gefaßt und fühlte etwas Ähnliches auf Richards Seite. Und er war so sehr gewohnt, mit Menschen, die ihm nahstanden, in intimen Umgangsformen zu verkehren, daß er ihn sehr bald fragte, ob sie sich nicht du nennen wollten, worauf Richard überrascht, aber nicht unerfreut einging.

Weshalb spielst du mir niemals etwas von dir vor? fragte er einmal. Richards schmale, ausdrucksvolle Lippen nahmen einen säuerlichen Zug 148 an: Weil nichts fertig ist, und was ich von früher fertig habe, ist nicht gut genug. – Das glaube ich nicht! Das ist nicht wahr! Genierst du dich etwa? Ich habe mich doch auch nicht vor dir geniert! – Genieren? fragte Richard erstaunt; ich habe nichts! Er sah Enzio mit undurchdringlichem Gesichte an. Enzio wandte sich fragend an seine Mutter: Wenn Richard das sagt, sprach sie, so wird er wohl seine Gründe haben! und sah ihn ebenfalls undurchdringlich an. Befangen blickte Enzio fort von ihr. Er konnte den Ausdruck ihrer Augen niemals lange ertragen. Diese Frau hatte etwas an sich, dem er instinktiv auswich. Was das war, wußte er nicht, aber in ihrer Gegenwart fühlte er sich stets beengt. In der ersten Zeit, wenn sie zu dritt beisammen waren, dachte er mitunter: Wann geht sie wohl nun weg? bis er eines Tages erfuhr, wie sehr beschränkt die ganze Häuslichkeit dort war. Neben der Küche und einer kleinen Kammer, die als Schlafraum für sie eingerichtet war, gab es nur dieses eine einzige Zimmer, in dem abends das Sofa in eine Lagerstatt für ihren Sohn umgewandelt wurde.

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