Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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An einem Theaterabend war er mit seiner Mutter in der Pause im Foyer, und nicht weit von sich sah er ein Mädchen in einem weißen Kleid; sie schien jünger zu sein als er. Sie war mit zwei hochgewachsenen, vornehmen Menschen zusammen, die sich mit einem weißhaarigen alten Herrn unterhielten, der grade wie ein Jüngling neben ihnen stand. Wer ist das? fragte Enzio leise. – Der alte Herr? Caecilie sagte den Namen; es war ein Graf, und Minister war er auch. – Den meine ich nicht! sagte Enzio, ich meine die daneben. – Die Frau ist seine Tochter, und das entzückende Mädchen wird wohl ihre eigne Tochter sein. Der andere ist ihr Mann, ein hochberühmter Bildhauer! Sie nannte ihm den Namen.

Jetzt trat ein Herr auf seine Mutter zu, und während sie mit ihm redete, näherte sich Enzio jenem Mädchen immer mehr, bis er beinah vor ihr stand. Unwillkürlich richtete sie die Augen auf ihn, erst als ob sie ihn nicht sähe, und dann stillverwundert, fragend. Ihre schmalen, formenvollen Lippen waren geschlossen, der ganze Kopf bewegungslos und ernst. Dann drehte sie sich wieder 54 zu den andern und schien von neuem zuzuhören, und Enzio sah ihr Profil. Die feine Nase war ein wenig vorspringend, ebenso das Kinn. Beide gaben dem Gesicht einen außergewöhnlichen, herben, fast etwas knabenhaften Charakter. Ihr Haar war glatt und ließ die gehobene Steilheit des Hinterkopfes deutlich hervortreten. Ganz versunken stand Enzio, bis sie abermals zu ihm hinschaute, diesmal mit einem scheuen, kurzen Blick. Er errötete, kehrte sich ab und ging zu seiner Mutter zurück. – Dieses Bild grub sich tief in sein Herz ein; Wochen, Monate vergingen, ehe er sie zum zweiten Male sah, diesmal in einem Konzert; sie trug dasselbe Kleid wie damals und sah genau so aus wie an jenem ersten Abend. Sie erkannte ihn ebenfalls, als sie zufällig in die Reihe hinter sich zurücksah, und blickte schnell wieder weg von ihm. –

Wo ist denn Enzio? fragte seine Mutter jetzt öfter am Nachmittag, wenn er sich nicht blicken lassen wollte. Und während sie ihn suchte, saß er weit weg vom Haus, versteckt in einem dichten Gebüsch im Stadtpark, unten an dem Flusse, und sah träumerisch hinüber auf ein schönes Haus in einem schönen Garten, der sich jenseits sanft ansteigend in die Höhe zog. Meistens lag alles still und ruhig, manchmal aber schimmerte ein Kleid durch die Büsche, und einmal sah er sie lange auf einer Bank sitzen, in einem Buche lesend, das Gesicht quälend 55 halb-verdeckt von einem Kastanienblatt. Kam er dann endlich nach Hause, so sagte er, er sei mit Kameraden in den Wald gegangen.

Einmal, als er zufällig am Nachmittag allein im Toilettenzimmer seiner Mutter stand, fiel sein Blick auf ein seidenes Kissen, auf dem Broschen und Nadeln steckten. Er sah sie eine Zeitlang an, dann ergriff er eine schöne Brustspange, verbarg sie in seiner Tasche und schlich sich in der Dämmerung davon. Dieses Mal suchte er das Haus von der andern Seite auf. Er ging immer langsamer, je näher er der Gartenmauer kam, stand lange davor, und endlich, als alles still und dunkel war, kletterte er hinüber, und nun stand er in dem Garten selbst. Ein leichter Schwindel befiel ihn, wie er vorwärts ging, nachdem er anfänglich Schritt für Schritt geschlichen war. Seine Füße traten auf harten Kies, dann auf weichen Rasen; er blickte um sich. Wenn ihn jetzt jemand entdeckte! Endlich kam er zu jener Bank, auf der er sie kürzlich noch gesehen hatte. Er setzte sich nieder. Und wenn nun jemand durch den Garten kam und ihn hier fand? Er würde den Weg zur Mauer nicht zurückgewinnen können. Er sah in die dunklen Kastanienblätter hinauf und träumte. Da fiel ihm eine schöne Melodie ein, und er dachte sie immer von neuem. Endlich blickte er sich um, dann schritt er zu dem Fuß des Baumes und legte seine schöne Spange nieder. 56 Plötzlich nahten Schritte. Er schrak heftig zusammen; sein erstes Gefühl war so entsetzlich, daß er dachte, er müsse sterben. – Gehen wir zur Bank! hörte er eine schöne Frauenstimme sagen, es ist so ein milder Abend heute! – Im nächsten Augenblick hatte er seine Spange in die Tasche gestopft, halb besinnungslos starrte er einen Moment noch geduckt durch die Bäume, dann war er mit ein paar leisen Sätzen unten an dem Wasser, warf sich ohne einen Moment weiterer Überlegung in den Fluß und schwamm hinüber.

Dieser Abend war ein Ereignis in Enzios Knabendasein. Er hatte sich geopfert, er hatte, wie er zu sich selber sagte, sein Leben aufs Spiel gesetzt, und von diesem Tage an schaltete und waltete er mit dem Gedanken an jenes Kind, dem seine Seele gehörte, wie mit etwas, das ihm ganz zu eigen war.

Er erfuhr jetzt bald auch ihren Namen.

Einmal gab es nachmittags ein großes Gewitter, und als die Sonne unterging, wurde der Himmel tief durchsichtig und farbig wie eine Seifenblase. Der Kapellmeister und Caecilie hatten Lust, noch einen schönen Spaziergang zu machen, Enzio schloß sich ihnen an, und sie gingen in den Park. Die Erde duftete, und in den perlenschweren Büschen schlugen die Nachtigallen, flötend leise und metallisch laut. Sie gingen jenen Weg entlang, an den Stellen am Fluß vorbei, wo Enzio jeden Baum und jedes 57 Strauchwerk kannte. Drüben aus dem Garten scholl ein fröhliches Lachen, dazwischen tönte vom Haus her eine Frauenstimme, dieselbe, die er an jenem Abend im Garten gehört hatte, und dieses Mal rief sie: Irene! –

Traumhaft schön war in seiner Erinnerung dieses Ganze.

Dann schien es, als sei alles ein für allemal vorbei. Als er wieder zum Fluß herabkam, war es still dort drüben und alle Läden waren fest verschlossen. Das nächste Mal war es ebenso, und endlich konnte er nicht mehr im Zweifel sein, daß dort niemand mehr zu Hause war. Ob sie alle miteinander ausgezogen waren? Wieder ging er hinüber, zur Gartenmauer, dieses Mal trat er ohne Angst zur Tür hinein, eilte leise die paar Stufen bis zur Eingangspforte hinauf und blickte durch das Schlüsselloch, durch einen Raum hindurch in einen andern Raum, und grade auf ein großes, altes Bild: Eine herrliche, nackte Frau lag dort unter einem dunklen Baum und hielt den Blick genau – so schien es Enzio – auf ihn selbst geheftet, still und unbeweglich. – In halber Befangenheit zog er sich wieder zurück. –

Die sind verreist und kommen frühestens in einem Monat wieder! sagte ein Mann, der draußen am Wege arbeitete, zu ihm, im Glauben, er habe dort einen Besuch machen wollen. Trotzdem ging Enzio, 58 halb in Hoffnung, halb aus Anhänglichkeit, die nächste Zeit noch zuweilen an dem Haus vorbei. Später sehe ich sie wieder! tröstete er sich endlich. Seine Gedanken wurden aber bald gänzlich abgelenkt von diesen Erinnerungen, denn eines Tages machte er eine wirkliche Bekanntschaft, die ihn vorläufig sehr beschäftigte.

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