Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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Es war noch dunkel. Er lag im Halbschlaf. Was willst du? fragte er, indem er träumte, daß sie ihn leise küßte und sich von seiner Seite 243 erhob. – Ich muß nach Hause, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, alles ist noch dunkel. – Wann geht die Sonne auf? fragte Enzio mit schwerer Zunge. Er hörte ihre Antwort nicht. Sie stand am Fenster und sah hinaus; er selber stand neben ihr, und doch fühlte er, daß er im Bette lag. Eine grauseidene Nebeldecke war vor ihm ausgespannt, rosa und blauviolette Lichter gingen langsam auf ihr nieder, wurden stärker und verblaßten. Zugleich hörte er ferne Töne, wie wenn die Farben harmonisch abgestimmt in leisen Glockenschlägen klängen. Lange blieb dieses bewegte, mattfarbene, klingende Bild, und dazwischen hörte er wieder ihre Stimme: Wie kühl und frisch es draußen ist! O diese vielen, vielen Bäume. Er öffnete gewaltsam die Augen, dann erhob er sich wirklich und trat zu ihr ans Fenster. Fern hinter dem Walde lag ein grauer Streifen. Die Sterne funkelten schweigend, in unendlicher Höhe; alle Bäume standen reglos. – Wir sind noch mitten in der Nacht! sagte Enzio leise und legte seine Hand um ihren Körper: Komm, geh mit mir zurück, dich friert! – – Es schien, daß lange Zeit verging, ehe er wieder fühlte, daß sie aufstehn wollte. – Bleib! murmelte er und umschlang sie fester. Bruchstücke von Träumen rauschten über ihre Seelen, sie wachten auf und schliefen wieder ein, und der Segen des Schlummers verdichtete sich voll und schwer 244 in abgebrochene Minuten. Dann löste sie sich wieder aus seinem Arm, und wie er die Augen aufschlug, sah er sie vor seinem Bette stehn. Wie eine neue Traumerscheinung war das, aber dann warf er mit einem Ruck die Decke von seinem Körper und sprang mit beiden Füßen auf den Teppich. Er war ganz wach, gestärkt und frisch, er lief zum Fenster und sah hinaus. Der Streif jenseits der Bäume hatte sich gehellt, aber die Sterne funkelten noch wie zuvor. Sie kleideten sich an, und es war ihm eine Wonne, ihr zu helfen. Endlich kniete er am Boden und schnürte ihr die Schuhe zu, und wie er sich wieder aufrichtete, schlang sie schweigend und lange ihre nackten Arme um seinen Hals. Enzio bereitete ein Frühstück, dann verließen sie das Haus und traten in das Morgengrauen. Eine Wachtel schlug eindringlich und metallen ihren Ruf. – Horch! sagte Bienle und hob den Finger. Er aber hörte gar nicht auf den Ruf, er sah nur sie und ihre süße Gestalt, nahm sie in seine Arme und küßte sie in überströmender Dankbarkeit.

Ob nun bald die Sonne aufgeht? fragte sie – o, ich möchte so gern die Sonne aufgehn sehn! – Ja, das wollen wir, du bist ja auch in einer Stunde noch immer früh genug zu Haus!

Sie nahmen den Weg zum nächsten Dorfe hin.

Der Himmel war im Westen tief dunkelblauschwarz; jenseits des Horizonts lag noch die Nacht. 245 Nach Osten zu war er allmählich heller. – Sieh! flüsterte Bienle, wie wundervoll! – Dort stand der Morgenstern und flimmerte wie flüssiger Diamant. Hoch im Himmel sang eine Lerche, aber sie blieb unsichtbar. Tiefe Nebel lagen in der Ferne, zwischen den Waldmassen, wie Seen; Hasen und Rehe huschten in den Feldern. Sie kamen zu einer riesigen Pappel, die der Blitz gefällt hatten und die schräg vom Fahrweg über die Wiese lag, graugrünlich im qualmigen Frühnebel.

Hier laß uns bleiben! sagte Bienle, und setzte sich mit ihm auf den Stamm. Milchwagen fuhren langsam auf der Straße vorbei, die Kutscher schliefen, die Pferde schienen auch zu schlafen. Krähen schrien oben in den Bäumen, das waren die einzigen Laute in der feierlichen Stille. Die Nebel begannen sich leise zu heben. Enzio sah und hörte dieses alles mit geschärften Sinnen. Es war, als habe er alle körperliche Schwere verloren, als sei seine Seele überklar, wie Gipfel im Hochgebirge, in reiner, dünner Luft.

Sieh, sieh, – o wie schön ist das! flüsterte Bienle von neuem. Dort oben im Himmel hing eine Wolke, die schon den Glanz der ungesehenen Sonne spiegelte, so scheinhaft matt, als leuchte sie in eignem, märchenhaftem Schimmer. – Bald muß die Sonne aufgehn, es kann nun nicht mehr fern sein! sagte Enzio. Beide hielten sich an den Händen 246 und sahen still zum Horizont. Das Band ward immer heller, lichter, und verfloß nach Westen zu in das ungeheure Meer von Grau. Leise begann es an einer Stelle feurig zu bluten, der Glanz ward stärker, daß ihre Augen ihn kaum mehr ertragen konnten, und endlich ging die Sonne still und blendend auf; der Zauber der Nacht, des heimlichen und schönen Grauens war dahin, der zweite Tag war für sie angebrochen.

Nun müssen wir zurück! sagte Bienle nach einem langen Schweigen traurig, und wie sie sich zum Gehen wandten, fügte sie hinzu: Komm, pflück mir noch ein Zweiglein! – Er beugte sich zum Stamme nieder, aber sie sagte: Nicht von da unten, ich will eines von der allerhöchsten Spitze, – dann lief sie selbst an dem ungeheuren Blätterdickicht entlang und brach es von dem Wipfel, wo es noch vor kurzem keines Menschen Hand erreichen konnte, teilte es und steckte die eine Hälfte an Enzios Brust.

Er begleitete sie in die Stadt. Ein paar Menschen in Kostümen begegneten ihnen, sie kehrten jetzt erst von dem Fest zurück; ihre Gesichter sahen grau und übernächtig aus. –

Begleite mich nicht weiter! sagte Bienle, ich will nicht, daß dich vielleicht jemand sieht. – Aber es ist doch noch so früh! Wann sehe ich dich wieder? Sie dachte nach: Heut nachmittag! – So spät erst? Kann es nicht früher sein? – Nein, 247 ich muß arbeiten. – Sie blickten beide unwillkürlich zur Seite, ob keine Menschen in der Nähe wären, und ihre halb geöffneten Lippen fanden sich wieder zu einem langen Kuß. Dann trennten sie sich und sahen sich nacheinander um. Schließlich blieb Enzio stehn, bis sie hinter einer Ecke verschwand.

Er ging nach Haus, in dem erwachenden Leben der Großstadt, und jetzt begannen seine Nerven sich abzuspannen, er hatte Bedürfnis nach Schlaf. Als er in sein Zimmer trat, blickte er sich um, dann murmelte er ihren Namen, inbrünstig und viele Male. Da stand noch die Tasse, aus der sie getrunken, da lag noch der Rest des Kuchens, von dem sie ein Stück abgebrochen hatte, und als er sich niederlegte, fand er ein langes, goldenes Haar; er hielt es gegen seinen Mund und suchte es zu küssen, das so quälend dünn war und seinen Lippen nicht die Empfindung von etwas Körperhaftem, Wirklichem zu geben vermochte. Er legte sich auf jene Seite, auf der sie selbst gelegen hatte, suchte sich einzubilden, sie sei noch da, und berührte, ehe er einschlummerte, mit den Lippen seine eigne nackte Schulter. Er schlief den ganzen Vormittag, nachmittags hatte er keine Ruhe zur Arbeit, und dann verstrich die Zeit immer langsamer bis zur Stunde, wo er sie wiedersehn durfte.

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