Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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248 Sie sahen sich nun fast täglich, und mit jedem Male wuchs seine Leidenschaft. Alle andern Menschen waren ihm gleichgültig geworden, der Tag hatte nur noch Sinn, soweit er sich auf sie bezog. – Ich begreife dich nicht, daß du so ruhig deine Arbeit tun kannst! – Ich muß doch! Und seit ich dich habe, tue ich sie viel lieber. Wenn ich etwas putzen muß, so bilde ich mir ein, du kommst später und siehst nach, ob ich es auch ordentlich gemacht habe. Meine Eltern sind jetzt viel zufriedener mit mir; ach, Enzio, und dazwischen halte ich es manchmal doch kaum aus vor Sehnsucht, und gehe nach dem Fenster und sehe, ob du nicht draußen auf der Straße stehst. – Ich?! Du willst doch nicht, daß ich das tue! – Nein, aber ich weiß, daß du es ja doch tust! Ich habe dich gesehn!

Enzio lernte diese Eltern und auch ihre Geschwister immer mehr durch ihre Beschreibungen kennen. Sie erzählte so von ihnen, daß es war, als wenn er sie fast vor sich sähe. Unwillkürlich gab sie ihrer Stimme einen andern Tonfall, einen andern Rhythmus, wenn sie den einen und den andern reden ließ, es war dann, als ob Geist und Bewußtsein in ihr wechselten; und durch all ihre Beschreibungen fühlte er eine große Liebe und ein starkes Zusammenhangsgefühl. Es gab manches Traurige, was sie erzählte, aber mitten drin 249 lachte sie plötzlich leise auf, wenn ihr etwas Komisches einfiel.

Enzio sah sie voll innerer Wonne an, wenn sie so auf seinem Sofa saß und phantasierte, wenn ihre Augen, die lustig, ohne daß sie den Kopf bewegte, von einem Winkel des Zimmers in den andern gingen, sich endlich wieder in die Wirklichkeit zurückfanden, mit einem kindlich-süß-bewußten Blick auf ihn. Mitten in ihren Erzählungen unterbrach er sie wohl auch, wenn er sich nicht mehr zu halten vermochte, faßte ihre Hände und ließ sie halb auf ihren Schoß gleiten; er konnte sich nicht satt an ihr sehn, wenn die Abendsonne durch alle drei Fenster schien und drei helle Lichter in dem einen und dem andern ihrer Augen glitzern ließ.

Er schenkte ihr auch jenen Ring, den er ihr versprochen, einen ganz schmalen Goldreif mit einem kleinen Rubin darin, und grade, wie er ihn an ihren Finger steckte, läutete es, und ihm ward ein Telegramm gebracht. – Lies! sagte er, nachdem er es überflogen hatte, es ist von meiner Mutter! Ach, alles habe ich vergessen, alles, – o, wie wird sie froh sein, wenn ich ihr jetzt schreiben werde, daß ich so glücklich bin! – Bienle wurde still. Schreibst du ihr das? fragte sie endlich. Enzio hatte ihr nie von seinen Angehörigen erzählt, unwillkürlich sah sie eine strenge Dame vor sich, die sie mit mißbilligenden Augen betrachtete. – Natürlich 250 schreibe ich ihr das! Und wenn sie erst weiß, wie du bist, dann wird sie so froh sein, – ich weiß gar nicht, wie ich dich beschreiben soll, was sind denn alle Worte – o, ich sage dir: Wenn sie dich kennte, dann würde sie dich so lieben, als wenn du ihre eigne Tochter wärest! Was machst du denn für ein Gesicht, Bienle? Glaubst du mir nicht? – Sie sah ihn zweifelnd an, dann nickte sie mit einem kleinen Lächeln. Der Brief, den Enzio an seine Mutter schrieb, ward lang und glühend. – Mir ist gar nicht angst um die Zukunft – so schloß er – es ist ganz klar und selbstverständlich, daß wir uns später heiraten werden, jetzt erkenne ich auch, daß ich Irene niemals wirklich geliebt habe. Du bist wahrscheinlich mißtrauisch und denkst, dies wäre wieder eine vorübergehende Neigung, wie meine früheren. Ach, wenn ich über alles so klar wäre, wie über das, was ich dir schrieb! Ich fühle mich so ruhig, so sicher, so glücklich wie noch nie in meinem Leben! Und so voll Dankbarkeit!

Caecilies erstes Gefühl war, wie Enzio es erwartete, eine natürliche Wärme für dieses Mädchen, das ihm Leib und Seele hingegeben hatte. Daß dies alles gekommen war, erschien ihr notwendig, und wie es gekommen war, über ihr Erwarten schön und rein. Aber sie dachte: Was soll aus dem armen Kinde werden, das ihm glaubt und einer Zukunft entgegenlebt, die wahrscheinlich 251 doch nicht eintritt? Schmerz und Kämpfe sah sie voraus. Sie zweifelte an der Beständigkeit seines Gefühls, und wußte nicht einmal, ob sie sie wünschen solle; sie kannte das Bienle ja gar nicht. Von diesen Bedenken sprach sie aber nichts zu ihm aus, in der Überlegung, daß ihn in seinem jetzigen Zustand solche Worte kränken und verletzen mußten. Sie freute sich nur mit ihm und schrieb am Schluß: Das einzige, was mich peinlich berührt, ist, daß ihr eure Liebe so geheim halten müßt, daß ihre Eltern nichts davon wissen dürfen. Aber ich verstehe, daß dies wohl notwendig ist.

Enzio sprach über dieses alles mit Bienle – nur von einem späteren, dauernden Zusammenleben sagte er nichts. Dies war ihm so selbstverständlich, daß er nicht auf die Idee kam, es noch besonders auszusprechen.

Am Schluß ihres Briefes hatte Caecilie davon geredet, daß Enzio nicht sein Studium vergessen solle, und hiermit traf sie einen Punkt, der ihn allmählich selber mahnte. Seine Arbeiten waren nachlässig geworden, seine Lehrer wurden unzufrieden, seine Kompositionen lagen auf demselben Fleck, wo er sie vor Wochen zuletzt verlassen hatte. – Übermorgen fange ich wieder an! morgen geht es noch nicht, morgen sind wir draußen auf dem Lande! – Aber dieses übermorgen ward immer weiter hinausgeschoben.

252 Täglich waren sie zusammen, und diese Nachmittage waren eine Kette von Glück und Zartheit. Stets kam er mit einer neuen Erinnerung heim.

Das Bienle kannte keine andere Erholung, hatte nie eine andere gekannt oder gewünscht, als im Freien durch das Gras zu gehn, auf den Feldern, Wiesen, in dem Walde. Meistens war sie allein gegangen, ohne ihre Freundinnen, die sich gegenseitig zum Kaffee besuchten und sich über junge Männer unterhielten, was das Bienle langweilte.

Einmal saßen sie auf einem Feldrain und blickten in den Abendhimmel. Eine Herde Schafe graste in der Nähe, auf ihren Rücken hüpften viele Stare, die sich wie Wolkenschwarm für kurze Zeit in die Luft erhoben, wenn der Hund eine Bewegung in die Massen brachte. Sie beobachteten das einige Zeit und lachten, und Bienle sagte: Wie habe ich mich früher manchmal danach gesehnt, daß jemand sich mit mir freute. Einmal saß ich hier, allein, ganz in der Nähe, auch in der Abendsonne. Da ist eine dicke Wolke am Himmel gezogen, und zwanzig kleine hinterher, alle der Sonne zu. Das hat ausgesehn wie eine Henne mit ihren Küchlein. Ich habe laut lachen müssen, und gedacht: Wenn doch jetzt jemand hier wäre, der das auch sähe! Manchmal, wenn ich so dasaß, mußte ich vor Freude jauchzen, und dann war niemand da, der sich mit mir freute. – In solchen Augenblicken suchte 253 Enzio nach Worten, um ihr zu sagen, wie sehr er sie liebe.

Auf ihren Spaziergängen steckte sie sich jedesmal frische Blumen an den Hut, und sie erzählte ihm, früher habe sie nur frische daran getragen, jeden Tag eine neue, manchmal zwei, und wenn die eine nicht mehr wollte, hätte sie sie zum Abschied noch geküßt.

Mitunter gingen Enzios Gedanken eifersüchtig in die Zeit zurück, wo er Bienle noch nicht kannte: Weshalb bist du eigentlich damals auf das Fest gegangen? – Weil eine Freundin von mir ging und weil ich neugierig war, zu sehen, wie es wäre. – War da nicht irgend jemand, den du treffen wolltest? – Hast du so einen bemerkt? – Ich? nein! Höchstens den Kerl mit seinem Zwicker und den Fellen um die Beine. – Bienle machte Bewegungen und Töne mit den Lippen, als wolle sie eine Fliege los werden, die dort säße, dann rieb sie sich den Mund, als wenn er immer noch Spuren davon trüge.

Hast du stets schon so arbeiten müssen zu Hause? fragte er einmal. Sie konnte sich keiner Zeit erinnern, wo es anders gewesen war. Enzio bewunderte sie heimlich, daß sie bei diesem ziemlich freudelosen Leben ihre ursprüngliche Frische und Kindlichkeit so rein bewahrt habe. Und was für ein festes, selbständiges Mädchen war sie schon 254 ganz früh gewesen! Einmal gingen sie auf der Landstraße spazieren. Da sahn sie ein Pferd, das in einem etwas elenden Galopp mit einem Wagen durchging. Es geriet an ein anderes Fuhrwerk, konnte nicht vorbei und verfiel schon wieder in einen sanfteren Trab. Das Bienle meinte: Es hat gedacht: geht das fremde Pferd ruhig, dann gehe ich auch wieder gemütlich! Sie lachte, wurde dann aber still und gab nur einsilbige Antworten, wie sie über andere Dinge redeten. Er merkte, daß irgendeine Erinnerung sie hielt, und schließlich erzählte sie es: Ich war damals neun Jahre, und ich wollte hinaus zum Walde, ganz allein. Es war aber so heiß. Da nahm mich ein alter Mann mit auf seinen Wagen, auf der Landstraße. Und er selber war so müde. Wir fuhren immer weiter, und ich merkte, wie ich einschlief. Da wachte ich auf einmal auf und dachte erst, ich träume noch. Der Wagen ging noch fort, aber der alte Mann stand auf der Deichsel und bückte sich, ich weiß nicht, ob ihm der Zügel heruntergefallen war, oder weshalb er sich sonst bückte. Auf einmal schlug das eine Pferd aus, traf ihn am Kopf, er stürzte vorn über, fiel herab, und ich fühlte den Ruck, mit dem der Wagen über ihn hinwegfuhr. Die Fahrt wurde immer schneller, und ich dachte: die Pferde sind ja durchgegangen! Da hatte ich eine entsetzliche Angst, es würde mir ebenso gehn wie dem alten 255 Mann. Da hielt ich Ellenbogen und Hände vor mein Gesicht und warf mich seitwärts zum Wagen hinaus, auf die Straße. Dort blieb ich liegen, denn ich konnte nicht wieder aufstehn. Dann dachte ich – nein, das sage ich nicht. – Was dachtest du? fragte Enzio gespannt. – Daß – daß die Pferde zurückkommen würden, um mich tot zu trampeln. Da wälzte ich mich in den Graben. – Und dann? – Dann dachte ich: Wie mag es wohl dem alten Manne gehn. Ich wollte aufstehn, aber es ging nicht. Endlich ging es doch. Ich fand den Mann noch auf der Straße, ganz allein und schon fast tot. Er sah so furchtbar aus! Mir wurde beinah übel. Aber ich kniete mich neben ihn und dachte: Wie kann ich ihm nur helfen! Er sah mich aber nicht, und murmelte nur fortwährend: O Gott, o Gott, mein Gott. Da lief ich fort von ihm, die Straße hinunter, der Stadt zu, und läutete am nächsten Hause und erzählte, was ich wußte, und alles tat mir dabei so weh, daß ich fast geschrien hätte. Aber ich sagte nichts davon, ich dachte: dann erfahren es meine Eltern, und das wollte ich nicht. – Bienle sah in die Ferne: Niemand, kein Mensch hat etwas davon erfahren, auch meine allernächste Freundin nicht. Und noch wochenlang, wenn wir morgens in der Schule beteten, hörte ich die Stimme von dem alten Mann: O Gott, o Gott, mein Gott . . . Und nachts im Traum 256 kam alles wieder: da wälzte sich das eine Pferd auf mich, daß ich mich nicht mehr rühren konnte, und sah mich ganz nah und ganz starr an, und ein anderes Mal lief es auf der Landstraße hinter mir her, nur auf den Hinterbeinen, wie ein Mensch, um mich zu fangen, legte mir schließlich die Vorderbeine auf die Schultern, und ich lief und lief! –

Enzio ging diese Geschichte nah, und seiner Liebe mischte sich ein großes Teil von Bewunderung bei. Unwillkürlich verglich er sich selbst mit ihr. Was hätte er getan, in solchem Falle? Zunächst zu Hause seinen Eltern alles erzählt, und dann allen Jungens in der Schule. Und das neunjährige Bienle schwieg, behielt alles für sich, und erst jetzt, nach Jahren, sprach sie zum erstenmal davon!

In ihrem Wesen war etwas, über das er oftmals nachdachte, ohne es in Worte fassen zu können: Etwas Starkes und zugleich sich Unterwerfendes – wie sollte er es nur nennen? Mehr als einmal hatte sie dem Tod ins Auge gesehn, ganz nah, am nächsten, wie sie als dreizehnjähriges Mädchen krank und von den Ärzten aufgegeben war; als man sie im Schlummer glaubte und sie die Worte hörte: Sie überlebt die Nacht nicht mehr! – O, sagte sie zu Enzio, das war schrecklich! Aber ich tat, als wenn ich weiter schlief. Dann kam die Nacht, und ich hatte nur den einzigen 257 Gedanken: Wenn ich unter die Erde komme, dann will ich ganz alleine liegen, nicht neben andern Menschen, die dort unten schon längst begraben sind. Aber sagen konnte ich es nicht, denn sonst hätten meine Eltern gemerkt, daß ich alles gehört hatte. Da betete ich zum lieben Gott, daß er es ihnen sagen solle. – Und dann? fragte Enzio. – Dann? dann bin ich wieder gesund geworden, ganz, ganz langsam. In der Schule hieß es schon, ich wäre tot; später sahen mich die Mädchen so sonderbar an, daß ich mir selber ganz sonderbar vorkam. Und der Schuldiener, der wirklich glaubte, ich wäre gestorben, schlug ein Kreuz, als er mich wiedersah. –

Enzio rechnete, wenn sie von früheren Jahren erzählte, stets nach, was er selbst um jene Zeit getrieben habe, und genau so machte sie es, wenn er von sich sprach.

Als Kind steckte sie voll von Glauben an Geister und Gespenster; stumm und selbstverständlich hatte sie mit ihnen verkehrt wie mit ihresgleichen. Da stellte sie nachts neben sich ein Glas Wasser und ein Scheibchen Brot. – Aber das aßen und tranken sie doch nicht! sagte Enzio belustigt, es stand doch am nächsten Morgen noch ganz genau so da! – Bist du dumm! Sie brauchten es auch nicht, aber sie wollten, daß man an sie dächte! – Wie stelltest du dir denn das vor? – Ganz einfach! Es kam einer, sah nach und dachte: Das Bienle ist brav 258 gewesen! dann tat er mir nichts und ging wieder fort. – Und wenn du es einmal vergessen hattest? – Dann passierte irgend etwas Schreckliches! Dann kroch im Traum ein Gespenst unter meinem Bette vor, oder es glotzte auch nur jemand, daß ich vor Schrecken aufwachte. – Das glaube ich nicht, daß du dann jedesmal schlecht träumtest, wie? – Manchmal nicht; gab sie zu; ich war dann auch sehr erschrocken, wenn ich am Morgen sah, daß ich den Teller abends vergessen hatte. – Nun, und? – Und dann dachte ich: Vielleicht haben sie nicht recht hingesehn, weil sie wissen, daß ich sonst immer an sie denke, oder sie haben gedacht: Einmal darf so etwas vorkommen, weil sie sonst so brav ist! – Das glaube ich dir nicht! Das redest du dir nur ein! Da wurde sie böse und meinte, wenn er sich über Geister lustig mache, werde es ihm noch einmal schlimm ergehn: Du glaubst mir immer alles nicht, auch das mit den Katzen hast du mir nicht geglaubt! – Da erkundigte er sich vor ein paar Wochen, wem die Kaninchen in dem Drahtgehäuse gehörten, die er durch das Gitter von der Straße her tief im Hofe ihres Hauses bemerkt hatte. Bienle sagte es ihm und fügte hinzu: Hast du auch die Katzen gesehn? Die sitzen immer vor dem Käfig und starren mit glühenden Augen auf die Kaninchen. Gehe ich aber vorbei, dann stehn sie sofort auf und tun, 259 als ob sie Sprünge übten über den kleinen Sandhaufen daneben.

Enzio war erstaunt über ihre Furcht, als sie einmal während eines Gewitters bei ihm war. Sie saß im Sofa und hielt die Hände vors Gesicht; er selber stand am Fenster und sah hingerissen hinaus, auf den Himmel, der sich öffnete und donnernd wieder schloß. Wie es endlich nachließ, trat er zurück ins Zimmer, sah, daß seine kleine Spirituslampe brannte, und löschte sie ohne jeden Gedanken aus. – Halt, halt! rief das Bienle voller Angst, was machst du denn da? – Was soll denn das? – Das ist doch ein Gewitterbrennerl! Sie lief auf die Streichhölzer zu, voller Furcht, ehe es wieder brenne, werde der Blitz gleich zu ihr hereinkommen..

In solchen Augenblicken fühlte er den Unterschied zweier Welten, die Kluft, die zwischen ihnen lag. – Wie wäre es wohl, dachte er zuweilen, wenn sie und Irene einmal zusammenkämen? Die beiden könnten doch nichts miteinander anfangen! – Was denkst du? fragte Bienle einmal. Da schlang er leidenschaftlich seine Arme um sie und flüsterte: Du bist mein Liebstes, mein Einziges! Wenn ich dich einmal verlöre – ich weiß nicht, was dann geschehen würde!

Von seiner Musik verstand Bienle wenig. Aber sie bat ihn oft zu spielen, und sagte, es träume 260 sich dabei so schön. Einmal, nach dem Schlusse eines schwermütigen Sonatensatzes, fand er sie, das Gesicht in seinem Sofakissen lehnend und mit Tränen überströmt. Er war betroffen über diese tiefe Wirkung. – Gott sei Dank, daß du aufgehört hast, sagte sie hastig und stoßweise, ich hielt es nicht mehr aus. – Was ist denn, was hast du denn? – Sie lehnte ihre Wange an die seine. – O mir wurde immer trauriger zumute. Es kam ganz von selbst; ich weiß nicht wie. Und dann fiel mir auf einmal ein Kind ein, das ich heute auf der Straße gesehen habe, so ein armes, häßliches kleines Kind im Wagen, mit ganz dünnen Gliederchen und einem so blassen, kranken Gesichte, daß ich dachte: Es hat nicht mehr lange zu leben! Es war doch so arm, und warum muß es nun sterben! Ihre Tränen flossen von neuem. – Kleine Kinder sind doch so süß! sagte sie nach einer Weile ruhiger, als Enzio versucht hatte, sie zu trösten.

Sag, woher weißt du so gut Bescheid in der Kinderpflege? fragte er einmal – du redest manchmal wie eine junge Mutter! – Das muß ich doch wissen! das habe ich alles gelernt in einem Fortbildungskursus. Zu Hause habe ich viele Hefte, ganz voll geschrieben, so etwas lerne ich am liebsten von allem; das kann ich doch einmal brauchen, ich muß es sogar wissen, wenn ich einmal heirate und Kinder bekomme. – Möchtest 261 du denn heiraten? – Sie sah ihn erstaunt an: Man muß doch Kinder bekommen?! – Ihre Augen ruhten ineinander. Beide dachten dasselbe. Wenigstens glaubte Enzio dies, und die Zärtlichkeit, mit der sie ihn umschlang, schien es zu bestätigen. Aber er übersah sie noch nicht ganz.

Zuweilen nahm er sie mit in ein Konzert. Solche Abende waren für sie Festabende, und an ihnen trug sie das Kleid, in dem er sie kennen lernte. Bei Stellen, die sich besonders strahlend zum Fortissimo erhoben, faßte sie seinen Arm und drückte ihn, und hinterher sagte sie: Ich muß mich stets bezwingen, daß ich nicht hurra! schreie. Ich meine immer, alle Menschen müßten zusammen aufstehn, wenn so etwas kommt!

Sie in seine eigene Musikwelt einzuführen, gab Enzio bald auf. Er spielte ihr anfangs manches von sich vor. Wenn er geendet, fragte er sie, wie ihr das gefiele. Sie sagte dann nicht, daß sie es nicht verstände, aber sie sah ihn mit einem halb verwirrt-lächelnden, halb wie um Verzeihung bittenden Blicke an, küßte ihn und flüsterte: Ich habe dich ja so lieb!

Es ist auch gar nicht zu erwarten, dachte er manchmal, daß sie das alles verstehn sollte. Sie kommt doch aus einer ganz andern Atmosphäre. – An diese Atmosphäre dachte er nicht gern. Nach ihren gelegentlichen Beschreibungen machte er sich 262 ein zwar unklares, aber intensives Bild über ihre Familie: Bildung und Unbildung von Gemüt und Verstand gingen da merkwürdig durcheinander, fürsorgliche Liebe mit primitiver Roheit.

Das Bienle hatte einmal einen blauen Fleck am Körper. – Woher hast du den? fragte er. – Sie sagte, sie habe sich gestoßen. Aber die Woche darauf fand er einen neuen, er wurde mißtrauisch, schließlich half ihr Lügen ihr nichts mehr, und sie gestand, daß ihr Vater sie geschlagen habe. – Weshalb? – Sie schwieg. – Weshalb?? – – Weil ich von dir nicht lassen will. – Ihm war, als müsse er ihr zu Füßen sinken: Das alles hältst du aus und schweigst und sagst nichts, bis ich dir die Worte mit Gewalt entreiße? – Wenn ich es dir sagte, würde ich dich nur traurig gemacht haben, und es ist doch genug, wenn einer leidet. – Aber weshalb kommt dein Vater nicht zu mir und verbietet mir den Verkehr mit dir? – Er weiß nicht, wie du heißt und wo du wohnst. Ich hätte mich totschlagen lassen, ehe ich es gesagt hätte! – Mein Gott, rief Enzio und streichelte und küßte immer von neuem ihr Gesicht – da muß irgendeine Änderung eintreten. Ich kann es nicht dulden, daß du um meinetwillen geschlagen und gestoßen wirst! – Sie beschwor ihn, nichts zu tun; und als er darauf nicht antwortete, wurde sie leidenschaftlich und heftig, bestand darauf, daß 263 er ihr ein heiliges Versprechen gäbe, und als er auch hierauf nichts erwiderte, rief sie: Wenn sie nicht sein festes Wort bekäme, müsse es aus sein zwischen ihnen, ein für allemal. Da gab er es, zögernd und gegen seinen Willen. Sie war wie erlöst.

Er fragte sie nun jedesmal, ob etwas Neues vorgefallen sei. Sie lachte dann nur und meinte, sie habe doch einen härteren Kopf als ihr Vater, mit der Zeit würde er sich ganz gewöhnen, er schelte nur noch manchmal, aber mehr aus Gewohnheit, denn er wisse ja doch ganz genau, daß es nichts helfe. – Und deine Mutter? – Bienle zögerte: Anfangs redete sie ebenso wie mein Vater. Aber jetzt sagt sie: Gott sei Dank, daß es ein anständiger, junger Mensch aus guter Familie ist, und daß er . . . Ja, so ungefähr sagt sie. – Und daß er . . .? fragte Enzio. – Und daß er dich so lieb hat! vollendete sie. – Eigentlich hatte der Schluß gelautet: Und daß er dir auf seine Ehre versprochen hat, dich später zu heiraten. Denn das hatte Bienle ihrer Mutter erzählt. – Du sagst mir nicht die Wahrheit, Bienle! und daß er . . . da kommt etwas ganz anderes! Er ließ nicht nach mit Fragen, aber sie blieb bei ihren letzten Worten, so daß er schließlich dachte, es seien doch die richtigen gewesen, die sie nur aus einer Art von Schamgefühl vor ihm nicht habe wiederholen mögen. Aber 264 nun wollte er doch jetzt einmal den Gedanken aussprechen, der ihm vor der Seele schwebte. – Ich hatte gedacht, deine Mutter meinte, daß wir uns heirateten, später. Ich wäre darüber nicht verwundert gewesen, denn das tun wir doch auch. – Er wartete auf ihre selbstverständliche Antwort, aber sie schwieg, und als er das Gesicht zu ihr hinwendete, sah sie ihn mit feuchtem Blicke an. Was hast du denn? fragte er erstaunt. – Sie versuchte zu lächeln. – Wir heiraten uns ja doch nicht! sagte sie und bemühte sich, ihren Worten einen leichten Ton zu geben. – Wieso? – Nun ja! – Enzio wurde böse: Du willst mich später einmal nicht heiraten? Sie schüttelte den Kopf. Da stieg der wahnsinnige Gedanke in ihm auf, daß es außer ihm noch einen andern gäbe, den sie mehr liebe, und er fragte sie danach, indem er sie am Handgelenke faßte. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, genügte, um diesen plötzlichen Gedanken sogleich wieder zu zerstreuen. – Dann verstehe ich dich nicht! sagte er, und machte ein hartes Gesicht. – Sie empfand, daß sie ihm weh tat, wollte es wieder gut machen und nahm seine Hand. – Hast du mich denn nicht so lieb, fragte er wieder, daß du mich einmal heiraten möchtest? – Sie schwieg. – Nicht?! – Ach, Enzio, – sagte sie leise und umschlang ihn, – quäl mich doch nicht so schrecklich, du weißt, daß ich dich lieber habe 265 als alle Menschen in der Welt. – Und trotzdem . . .? Sie legte ihre Stirn an seinen Kopf, er fühlte, wie ihr die Tränen aus den Augen liefen. Du darfst dich doch nicht an mich binden! sagte sie leise und leidenschaftlich, und wenn du es tätest, so käme alles später doch ganz anders. Ich weiß, wie es in der Welt zugeht, viel besser als du denkst. Du gehst wieder fort von hier, du lernst andere kennen, und du wirst einmal ein Mädchen heiraten, das aus besserer Familie ist als ich. – Er widersprach verwirrt. – Doch Enzio, das weiß ich, wenn du es auch jetzt nicht glaubst. Das habe ich von allem Anfang an gewußt, wie ich dich kennen lernte, und ich weiß, es muß so sein. Ich heirate auch einmal einen andern, und der hat auch vor mir schon andere geliebt. So geht es nun einmal zu in der Welt, das kann keiner ändern.

Auf Enzio machte diese Unterhaltung einen tiefen Eindruck. War das wirklich so, wie Bienle sagte? Das war doch nicht möglich! Ein anderer sollte sie einmal besitzen? Eine nagende Eifersucht bohrte in ihm bei dem bloßen Gedanken an diesen Menschen, der vorerst nur ein Schatten war, aber doch schon irgendwo herumlaufen mußte in der Welt. – Mit ihr selber redete er nie mehr über diese Dinge.

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