Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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Er ließ ein paar Tage hingehen, dann besuchte er sie wirklich. Es war ein schöner Tag im Herbst. Enzio näherte sich dem Haus mit einem sonderbaren Gefühl: So, als hätte er die ganze Zeit, die hier zurücklag, einmal geträumt, anstatt erlebt. Was war ihm dies alles gegen das wirkliche Leben, das er umarmt und geliebt hatte, und das er noch immer liebte!

Man sagte ihm, Irene sei im Garten. Er durchschritt das Zimmer und stieg die Verandatreppe nieder. Da unten schimmerte der Fluß, und die Bäume glänzten rot und golden. Er sah Irene nicht; der Garten war ganz still. Das Boot sah schon herbstlich verlassen aus; der Regen hatte sich darin gesammelt und feuchtes dunkles Laub klebte an den Brettern. Er stieg wieder aufwärts, die 304 Steinstufen empor. Sollte er pfeifen? Er hatte keine Lust. Da sah er in der langen Wein-Pergola etwas sich bewegen. Leise trat er näher: Dort ging Irene, dicht neben ihrer Mutter. Sie hatten die Arme gegenseitig um ihre Schultern gelegt, und beide Gestalten umschloß eng ein einziges, großes braunes Schleiertuch aus Seide, so daß es schien, als wandle dort ein schöner Doppelkörper, über den die lautlosen Lichter der Sonne hinliefen; – plötzlich tat Irene einen Ruck. Enzio, sagte sie halblaut und blieb stehn. Er hielt sich unbeweglich wie eine Erscheinung in der weißen Sonne. Im nächsten Augenblick kam er auf sie zugelaufen. Ja, rief er in halber Verlegenheit, ich bin es wirklich. Irene sah ihn noch immer verwirrt an, während ihre Mutter sagte: Ich glaubte wahrhaftig, ich sähe dort eine Luftspiegelung. Seit wann bist du denn wieder da, Enzio? – O, noch nicht lange! Möglichst schnell suchte er über diese Frage hinwegzugehn. – Gehst du noch ein wenig mit uns hier im Garten spazieren? Es ist so schön und still in der Sonne, und das Laub duftet so kräftig. – Enzio schritt an ihrer Seite. Alle drei schwiegen. In ihm war eine kleine Enttäuschung. Er war doch nun so lange fortgewesen und hatte gedacht, der Empfang werde etwas lebhafter sein. Statt dessen war er nur die kurze Unterbrechung einer Promenade, die man wieder aufnahm. – Weshalb fragen 305 sie mich denn nach nichts? dachte er, ich habe doch wahrhaftig genug erlebt! Schließlich fing er von selbst an zu erzählen. Die beiden unterbrachen ihn nicht, warfen nur hie und da eine kleine Bemerkung ein, bis wieder ein Schweigen kam, worauf Irene mit halblauter Stimme und einem Blick, der sich nur an ihre Mutter wendete, sagte: Wo der kleine Vogel jetzt wohl ist? – Was für ein kleiner Vogel? fragte Enzio sogleich angelegentlich. – Ich glaube, es ist ein Rotkehlchen! sagte Irenes Mutter, als wenn damit alles erklärt sei, und erst als Enzio weiterfragte, setzte sie hinzu: Wir fanden ihn vorhin im Gras, und die eine Schwinge hing ihm herunter. Ich glaube, ich weiß, wo sein Nest ist, aber wir konnten ihn nicht greifen. Nun meinen wir, daß ihn vielleicht die Katze frißt. – Sie suchten ihn gemeinsam, Irenes scharfes Auge entdeckte ihn endlich von neuem. Den kann man doch leicht fangen! sagte Enzio. – Nein; wir haben es auch schon versucht; er hüpft immer nur, aber in der Angst kann er fliegen. – Den kriege ich, sagte er zuversichtlich. Es begann eine tolle Jagd, bis Irenes Mutter wieder sagte: Laß ihn, Enzio, ich kann diese Quälerei nicht sehen; lieber soll ihn noch die Katze fangen, die bekommt ihn wenigstens eher! – Aber Enzio hatte ihn schon, brachte ihn in der hohlen Hand und ließ ihn mit dem Kopf vorn durchschauen. Die beiden betrachteten ihn. 306 – Willst du ihn nehmen, Irene? fragte er. – Nein, ich fürchte, ich halte ihn nicht richtig und tue ihm weh.

Seine Gedanken gingen zu Bienle. Da waren sie einmal auf den Feldern spazieren gegangen, das Bienle pflückte Blumen, bis er es plötzlich leise jauchzen hörte, und als er zu ihr hinkam, kniete sie an der Erde und deutete mit dem Finger vorsichtig auf eine Stelle des Bodens. Da entdeckte er eine kleine runde Vertiefung, und dort schaute das Köpfchen eines winzigen Vogels heraus. Ein Lerchenkind! sagte das Bienle; wo wohl die Mutter ist? Sie blickten lange in die Runde, in die Höhe, und endlich meinte sie: Sie ist ausgeflogen, um Mücken zu besorgen. – Laß das Tierchen drin! sagte Enzio. – Denkst du, ich tue ihm weh?! Sie hatte mit der größten Vorsicht und Geschicklichkeit hineingegriffen in das Nest, jetzt saß ihr das kleine Geschöpfchen in der Hand und sie berührte es mit den Lippen, leise und immer wieder. Dann tat sie es zurück, und wie sich darauf eine Mücke auf ihre Hand setzte, ließ sie sich stechen und wartete, bis das Körperchen schimmernd rot anschwoll. So! sagte sie, jetzt hast du genug und wirst nun selbst verspeist! tötete sie und reichte sie dem kleinen Tier, das auch sofort begierig den Schnabel danach aufsperrte.

An diese zärtliche und mütterliche Szene mußte 307 Enzio jetzt denken, wie Irene sagte: Ich fürchte, ich tue ihm weh!

Dann nicht! meinte er, und nach einer Weile fügte er hinzu: Ach, wenn doch jetzt eine Mücke da wäre, ich würde mich stechen lassen, bis sie sich ganz voll gesogen hat, und dann das nette Tierchen damit füttern! – Seit wann bist du denn so opfermütig? fragte Irenes Mutter, das sieht dir ja gar nicht ähnlich! – Laß ihn frei! sagte Irene dazwischen, ich habe wirklich Angst, daß du ihm weh tust! – Was?? fragte Enzio entrüstet, ich? Glaubst du, ich hätte noch nie einen Vogel in Händen gehalten? Ich halte sehr oft kleine Vögel in den Händen! – Am besten wäre es, sagte Irenes Mutter nachdenklich, wir töteten ihn; er bekommt doch keine Lebensfreude wieder. Enzio fühlte sich von diesen Worten abgestoßen; sie klangen ihm kalt und gefühllos. Das Bienle würde ihn mit nach Haus genommen und gepflegt haben. – Wie meinen Sie denn, daß ich es tun soll? fragte er. – Sie dachte nach: Es gibt alle möglichen Mittel, aber jedes ist so schrecklich, daß ich es gar nicht aussprechen mag. – Ich nehme ihn mit nach Hause! erklärte er; wenn ihn hier keiner mag, werde ich ihn selber pflegen. – Enzio, du bietest ja immer neue Überraschungen! Mit wem hast du denn inzwischen verkehrt, daß du auf einmal ein so mädchenhaft weiches Herz hast?

308 Als er das Haus verließ, war er etwas traurig. Sonderbar! dachte er, mir ist genau so, als hätte ich diese Menschen einmal geträumt. Irene ist noch immer schön, ja eigentlich viel schöner als früher. Aber mein Gefühl zu ihr ist so wie eine leere Quinte. Viel sympathischer ist mir ihre Mutter. In die könnte ich mich fast verlieben. Wenn Irene etwas von dem Bienle wüßte – ob sie dann wohl noch mit mir verkehren würde? Am selben Nachmittag schrieb er einen langen Brief an Bienle, in dem er ihr am Anfang und am Schluß versicherte, er halte es ohne sie fast nicht aus.

In dem Hause des Kapellmeisters ward jetzt viel gearbeitet. Er selbst schrieb am letzten Akt einer neuen Oper, und Enzio begann eine Messe zu schreiben, und zwar fing er mit dem Gloria an. Diese Musik mußte etwas Gewaltiges, Strahlendes, Neues werden, die Form schien ihm schon durch den Text viel bestimmter, die Gefühlswelt, die er auszudrücken hatte, ganz von selbst gegeben.

Bei Tisch gab es ein zerstreutes, doppeltes Gesumme, Gebrumme und Gepfeife, jeder dachte an seine eigne Sache und fühlte sich heimlich irritiert durch die Welt des andern.

Die Oper des Kapellmeisters wurde wieder ganz genau so wie seine vorhergehenden, und er war sehr stolz darauf. Man sollte nicht denken, sagte er einmal, daß sie zum großen Teil entstanden ist, 309 während ich den Tristan neu einstudieren mußte! Wie unberührt ist mein schaffender Genius davon geblieben! Diese beiden Welten haben nichts gemeinsam, es ist fast wie der Unterschied zwischen Feuer und Wasser! Nach diesem letzten Wort sah er mißtrauisch zu Enzio hinüber, ob der nicht ein heimlich mokantes Gesicht mache.

Die Stellung der beiden war nicht sehr erquicklich. Am liebsten gingen sie sich aus dem Weg. Enzio schob dies lediglich auf die verschiedene Art ihres musikalischen Geistes, aber es spielten noch andre Motive mit, von denen er nichts wissen konnte. Denn er war nicht dabei, wenn Fräulein Battoni den Kapellmeister zwischen Traum und Wachen Enzio nannte, »Alterchen« dagegen, wenn sie ganz klar bei Sinnen war. Dies Verhältnis dauerte noch immer fort, und man hätte es ihr fast nicht vorwerfen können, daß sie jene Verwechslung vornahm, ebenso wie es begreiflich erschienen wäre, wenn er selber sie mit dem Namen ihrer Tochter gerufen hätte, falls eine solche vorhanden gewesen wäre. Sie hatte aber nur Söhne, die verstreut im Land nun schon allmählich hinter Ladentischen zu stehn begannen.

Die Tristanaufführung fand wirklich statt. Caecilie, Richard und Enzio saßen in der Loge. Fräulein Battoni war die Rolle etwas zu schwer. Sie wartete immer peinlich auf das Zeichen für 310 ihre Einsätze und zählte zuweilen leise mit dem Finger.

Caecilie kannte diese Musik nun ziemlich gut, von dem Spiel ihres Mannes am Flügel her. Damals hatte sie ihr keinen besondern Eindruck gemacht, da sie nicht wußte, wie sie mit dem Text zusammenhing. Aber die Vorgänge auf der Bühne ergriffen sie aufs tiefste, so sehr, daß sie vollkommen vergaß, wen sie da vor sich sah. Die Gestalten wurden vor ihrem innern Auge verklärt, eine eigne, ungelebte Welt entrollte sich vor ihrer Seele. Diese Musik, sagte sie zu Richard, empfinde ich nicht als Musik, es ist, als wenn das Blut in Tönen redete! Ihre Augen hatten einen tiefen, schönen Glanz, wie sie das sagte. Von Akt zu Akt ward sie mehr ergriffen, und als sie endlich das Theater verließen, sagte sie: Ich will nach Hause, ich weiß, ihr andern wollt noch in irgendein Restaurant, laßt euch nicht stören, ich kann allein gehn, ich bin sogar am liebsten ganz allein. – Darf ich Sie nicht heimbegleiten? fragte Richard. Sie sah ihn gar nicht an und sagte noch einmal im allgemeinen: Ich freue mich, wenn ihr noch irgendwo zusammensitzt.

Der Kapellmeister war mit der Aufführung sehr zufrieden. Vergleiche – sagte er gemütlich zu Enzio – darfst du natürlich nicht anstellen mit andern, größern Städten, die größere Mittel haben als wir. 311 Du wirst wohl, da du die Partitur dabei hattest, bemerkt haben, daß ich alle Augenblicke einziehn mußte. – Ja, lachte Enzio, dein Orchester kam mir manchmal vor wie ein kleiner Haushalt, wo einer oft gleich für zwei arbeiten muß, wo man sich so gut aushilft, wie man eben kann. Ihr habt ja nicht einmal eine Baßklarinette! Da nimmst du einfach Horn oder Fagott. – Was soll ich machen? klagte der Kapellmeister, es war noch die beste Lösung. Je nach dem Charakter der Musik mußte ich die Partie dem einen oder dem andern geben, manchmal sogar den Celli. Überhaupt das Elend mit den Holzbläsern! Wir haben doch nun leider nur zweifaches Holz, und Tristan hat dreifaches. Was hatte ich für Mühe, um das einzuziehn! Zum Beispiel die drei Flöten. Da mußte ich manchmal die dritte Flötenstimme der Oboe oder der Klarinette geben, und deren Stimme – blies dann die Trompete! fiel Enzio lustig ein. – Mein Sohn, übertreibe nicht! Ich bin stolz, daß ich alles so gut zustande gebracht habe. Aber unser Elend wird nie aufhören: Nächstes Jahr wird unser Orchester vergrößert, wir könnten dann alles, auch die Nibelungen, beinah so geben, wie sie geschrieben sind, aber dann hapert's wieder mit der Bewilligung für den Ankauf der teuren Originalpartituren und ich muß mich mit diesem überarbeiteten Zeug weiter herumschleppen, obgleich es anders sein 312 könnte. Aber vielleicht erlebe ich es doch noch einmal, daß nicht ewig einer so kläglich für den andern einspringen muß! – Wenn da doch auch einmal eine zweite Isolde eingesprungen wäre! seufzte Richard jetzt, der bis dahin schweigsam zugehört hatte – ich konnte dieses Frauenzimmer, die Battoni, kaum noch ansehn. – Um Gottes willen, dachte Enzio, was fällt denn Richard ein! – Finden Sie nicht auch? wandte sich Richard unbefangen an den Kapellmeister: Diese Roll-Augen, diese Korsettknackerei, und dann hat sie doch Hüften wie ein Pferd!

Er bekam von Enzio einen Stoß, daß er zusammenfuhr.

Ich wußte gar nicht, sagte Enzio an einem der nächsten Tage zu ihm, daß du gänzlich ahnungslos seiest über diese Geschichte! – Vollkommen unwissend war Richard gewesen. Er hatte im Lauf der Zeit sehr wohl bemerkt, daß zwischen dem Kapellmeister und Caecilie nicht das beste Einvernehmen war, aber von den wirklichen Tatsachen war nie das Geringste an sein Ohr gedrungen, und er war viel zu diskret, um nachzufragen über Dinge, die in den intimsten Bereich einer ihm befreundeten Frau gehörten. Jetzt verwunderte er sich darüber, wie unbefangen der Name Fräulein Battonis zuweilen von Caecilies Lippen gefallen war.

313 Enzio erzählte nun, wo es so weit zurücklag, auch sein eignes Erlebnis mit ihr. Und denke dir – so schloß er – gestern begegnete sie mir auf der Promenade, und als wenn nicht das Geringste vorgefallen wäre, bleibt sie stehn und sagt: Enzio! Enzio! Ich sah sie groß an, grüßte nicht, und hörte noch, wie sie vorwurfsvoll und freundlich rief: Du bist kein Kavalier mehr, Enzio! Da habe ich ihr dann meine Meinung ordentlich gesagt! Aber sie ist doch zu naiv: Denke dir, sie wollte eine Locke von mir haben! Ich sollte sie ihr bringen. Das habe ich selbstverständlich nicht getan. Ich habe sie ihr ohne ein Wort geschickt. – Was? Das hast du getan? – Ja, natürlich, wenn sie gern eine haben wollte! – Enzio, sagte Richard, das finde ich haltungslos von dir. – Wenn sie gern eine haben wollte? – Und eitel. – Enzio schwieg. – Und wenig zartfühlend gegen deine Mutter. – Enzio überlief es langsam heiß; er sah erschrocken auf Richard. Herr Gott, sagte er, ja, ja, du hast vollkommen recht!

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