Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Neuntes Kapitel.

Auf diese Nacht folgten Tage, die an Glanz und Wonne selbst das vielgerühmte Glück der Flitterwochen überboten. Und freilich war gerade unsern Liebenden in den Honig ihrer ersten jungen Ehezeit mancherlei Bitteres geträufelt worden: der schwere Abschied der Tochter von ihrem sehr geliebten Vater, dessen Zukunft damals noch einsamer und freudloser schien, da der Gedanke an eine Verbindung mit seiner alten Jugendgeliebten nicht von fern aufgedämmert war; die mancherlei häuslichen Sorgen der jungen Frau, und für Edwin selbst vielfacher Verdruß in seiner neuen Stellung, in die ihm der Ruf eines glaubens- und gottlosen Philosophen vorangegangen war.

Sie hatten sich redlich Hand in Hand durch alle Nöthe durchgeschlagen. Aber so sehr diese Prüfungen auch dazu mithalfen, den Grund zu befestigen, auf dem ihr Haus und Herd aufgebaut werden sollte: die selige Freudetrunkenheit, die ungebunden schwärmende Wonne, mit der wohl sonst junge Paare in ein neues Leben hinausziehen, war ihnen fern geblieben. Nun wurde 293 ihnen das Alles in reichem Maße nachträglich beschert, da sie schon, wie Lea lächelnd sagte, »eigentlich zu alte Eheleute waren, um noch so kindisch glücklich zu sein.«

Nach außen hin ließen sie freilich von dem Schatz, den sie plötzlich unter ihrem eigenen Herd gefunden hatten, nicht Viel merken, und wer am andern Tage in das Wohn- und Arbeitszimmer getreten wäre, hätte den stillen jungen Gelehrten, der am ersten Kapitel eines philosophischen Buches schrieb, und die junge Frau, die nach einem frischen Rosenstrauß eine Studie in Wasserfarben malte, schwerlich für zwei Neuvermählte gehalten, in denen das Staunen über alle Wunder beglückter Liebe mit heller Flamme noch fortbrannte. Aber das erste Kapitel rückte freilich nur langsam vorwärts, und der Rosenstrauß kam auf dem Papier nicht sehr in Flor. Alle zehn Minuten hatte der Schreibende irgend Etwas auf dem Herzen, das er die Malerin fragen mußte, und das sich meist um wirkliche und richtige Kindereien drehte, solche, wie sie in Kinderstuben mit Ernst und Gründlichkeit abgehandelt zu werden pflegen; oder die Malerin, die einen Augenblick hinausgegangen war, konnte, wenn sie wieder hereinkam, nicht wie sonst den geraden Weg zu ihrem Fenster finden, sondern mußte an dem anderen Fenster vorbei, wo ihr Kleid mit allem Zubehör an irgend Etwas hängen blieb, das durchaus kein Rosenstock war, sondern zwei Arme wie ein Wegweiser nach ihr ausstreckte und sie nicht vorbeiließ, ehe sie für die Grenzüberschreitung den gebührenden Zoll bezahlt hatte. 294

Seitdem wir dahinter gekommen sind, daß wir wie zwei ganz gewöhnliche unvernünftige Menschen in einander verliebt sind, vertragen wir uns nicht mehr in denselben vier Wänden! bemerkte Edwin lachend. Ein Glück, daß wir ohnedies nächstens eine größere Wohnung brauchen. So fällt es wenigstens den Nachbarn nicht auf, wenn wir's vor lauter Liebe neben einander nicht aushalten können.

Er warf die Feder weg, nahm seine kleine Frau unter den Arm und machte mit ihr einen Besuch in der Druckerei. Reginchen empfing sie mit freudestrahlenden Augen, Reinhold war nach dem seltenen Aufwand von Beredsamkeit, den er gestern gemacht hatte, heute zwar so einsilbig, als müsse er die unerhörte Verschwendung durch doppelte Sparsamkeit wieder hereinbringen. Aber sein stilles Lächeln aus dem Bartgestrüpp heraus sagte den Freunden genug, wie ihm die Sonne ihres Flitterglücks das Herz wärmte. Sie sollten am Abend wiederkommen, Edwin entschuldigte sich aber gleich: sie wollten über Land gehen, oder aufs Schützenhaus, oder auch nirgend hin – kurz, sie wüßten nicht, was sie Kluges oder Thörichtes vornehmen würden, aber auf eine feste Abrede könnten sich zwei so leichtsinnige junge Leute nicht einlassen.

So blieb es auch die folgenden Tage dieser letzten Ferienwoche. Man sah sie immer nur auf ganz kurze Zeit, wo sie dann höfliche und zerstreute Reden führten, vor sich hin lächelten, plötzlich wieder aufbrachen, als ob sie dringende Geschäfte hätten, und dann selbst in 295 Stunden, wo es sonst keinem guten Bürger einfiel, spazieren zu gehen, auf dem Wall oder in dem nahen Lustwäldchen betroffen wurden, langsam Hand in Hand neben einander hin schlendernd, oder auch auf einem Bänkchen ausruhend in eifrigem Geplauder oder fröhlichem Stillschweigen.

Das erste Kapitel rückte bei alledem wundersamer Weise dennoch vorwärts – besser als die Rosenstudie, da das Original der letzteren nicht so still fortblühte, wie die längst zu einem schönen Kranz zusammengereihten Gedanken Edwin's. Ich weiß nun, sagte er, warum ich das Buch immer nicht habe schreiben können. Mit der Vernunft und gelassenen Klarheit zwingt man gewisse Dinge nicht. Ein solches Wagestück, wie das Aussprechen der letzten Gedanken, kann man nur unternehmen, wenn man wie ein Nachtwandler über die Höhen des Lebens hinschreitet, vom Flügelschlag eines leidenschaftlichen Glückes oder eines großen heiligen Schicksals umrauscht – mit einem Muthe, der über alle Tiefen und Untiefen hinweghebt. So kühn ist nur ein Mensch, der allen Druck der Sterblichkeit abgeschüttelt und sich ins Ewige gerettet hat. Heute Nacht, Herz, als ich einmal aufwachte und dein schlafendes Gesicht betrachtete – der Mond schien noch gerade hell genug – du hattest ein muthwilliges Lächeln um die Lippen und dabei deine ernsthaftesten Augenbrauen – wirst du glauben, daß mir da plötzlich über jene Stelle im Kant, die mir so viel Kopfbrechens gemacht, ein Licht aufging, so 296 daß mein drittes Kapitel nun nicht mehr mit einem Fragezeichen zu schließen braucht? –

So verging diese schöne Zeit des wolkenlosesten Sommers. Am Sonntag, dem letzten Ferientag, hatten sie einen Spaziergang auf ein nahes Dorf gemacht und kamen gerade an der kleinen Kirche vorbei, als der Nachmittagsgottesdienst zu Ende war. Ein Nachspiel auf der Orgel braus'te feierlich aus der geöffneten Thür, wie ein unsichtbarer Strom, der die Kirchgänger wieder ins Leben hinaustrug. Die beiden Liebenden standen still und ließen die langsam Wandelnden an sich vorüber ziehen. Es waren nur zum Theil Bauern mit ihren Frauen und Kindern. Von den Städtern, die hier auf dem Lande ihre Sommerfrische hielten, hatten sich Viele dazugesellt, hauptsächlich Frauen, die im Vorbeigehen Lea zunickten, aber durch die bekannte unkirchliche Gesinnung des Ehepaars sich abhalten ließen, gerade in diesem Augenblicke sich ihnen zu nähern.

Der Pfarrer hier im Dorf wird sehr gerühmt wegen seiner milden Denkart und seiner Rednergabe, sagte Lea. Ist es nicht auch, als ob all diese Gesichter dafür zeugten, daß hier eben ein schönes und hohes Evangelium gepredigt worden ist, eine Religion der Liebe und Duldung? Wie anders sehen die Leute aus, wenn sie aus unserer Stadtkirche kommen, wo dein eifriger Gegner mit einem Herzen voll Haß und Verfolgungswuth sonntäglich auf die Kanzel steigt! Diesen Menschen hier ist wahrhaft wohl gewesen; sie haben ihren Feiertag geheiligt, und daß sie uns im Stillen bedauern, weil sie nicht 297 ahnen, daß auch wir es thun, auf unsre Weise, muß man ihnen zu Gute halten.

Gewiß, versetzte Edwin, so lange es bei ihrem stillen Bedauern bleibt, ihre Handlungen gegen uns nicht davon angesteckt werden, so lange sie es uns nicht ins Gewissen schieben, daß wir andere Bedürfnisse haben und dieselben anders befriedigen, als sie. Denn freilich bleibt es der letzte und allgemeinste Maßstab für den Werth eines Menschen, ob er auch der Andacht fähig ist, oder nicht, ob er seine Gedanken vom Staub des Werkeltags überhaupt losmachen und eine Feiertagsstille in sich erzeugen und würdig genießen kann. Nur darin scheiden sich die Menschen und entzweien sich so thöricht darüber, wie dies geschieht. Die nur in der Masse, in hellen Haufen dazu gelangen, sich des gemeinsam Menschlichen zu erinnern, ihrer allgemeinen Schwäche, Bedürftigkeit und alles Dessen, was sie unter das Weltgesetz bändigt, halten Diejenigen für hochfahrend und trotzig, die nur in tiefster Einsamkeit mit ihrem eigenen Herzen oder ihren Vertrautesten die Allgegenwart der ewigen Mächte empfinden. Nichts Fremdes und Zufälliges darf mich anrühren, wenn ich Dem nahe kommen soll, was man übereingekommen ist Gott zu nennen. Die Stimme eines braven Mannes, der mir sein wohlgemeintes Sprüchlein aufdrängen will, die Gesichter seiner arglosen Zuhörer, denen jedes seiner Worte eine Offenbarung ist, zerstreuen und trüben mein bestes Bemühen, mich über die irdische Erscheinung hinaufzuheben in das unmittelbare Eins und Alles. Was uns jetzt so 298 freundlich anspricht an diesem offenen Gotteshaus, ist ein so wunderlich gemischtes Gefühl, aus Kindheitserinnerungen, allgemeiner Menschenliebe, Sommerluft und Orgelklang zusammengeweht, daß wir es gern auf uns wirken lassen. Aber wenn wir es recht bedenken, führt es uns eher von uns ab, als in uns hinein. Es nähert uns Naturen, die doch wenig mit uns gemein haben. Wir haben ja schon oft darüber gesprochen, Liebste, daß man die Menschen in zwei große Klassen theilen könnte, solche, die nach dem Festen, der Ruhe, dem Begrenzten streben, und solche, die nie vergessen mögen, daß Alles fließt, und denen nur wohl ist, wenn sie selbst im ewigen Flusse bleiben. Wie könnte nun die Andacht dieser beiden Klassen dieselbe sein? Jene feiern, wenn sie aus dem unruhigen, ewig bewegten Alltag durch eine Kirchenthür in ihren Sonntag eintreten, wo Alles seit undenklicher Zeit immer beim Alten bleibt, das ewig Unaussprechliche in feste Formeln gebannt vor sie hintritt und für alle neuen Nöthe und Schmerzen die nämlichen Beruhigungsmittel bereit sind, durch die schon tausend Jahre lang ihre Urahnen sich haben beschwichtigen lassen. Daß Menschen, die im Beharrenden ihr Heil finden und lieber gewisse Seelen- und Geistestriebe in sich selbst ersticken, um nur nicht ins Schrankenlose hinausgelockt zu werden, daß solche Naturen uns Andere nicht verstehen, deren Andacht eben in der Kraft und Kühnheit wurzelt, unsere Schranken in gehobener Stimmung zu durchbrechen, um mit Ahnen und Schauen über alle Begriffe hinauszugreifen – wie kann uns das verwundern? 299

Sie wissen nicht, sagte Lea sanft nach einer kleinen Stille, wie viel mehr Muth und Demuth dazu gehört, sich zu gestehen, daß man Gott nicht erkennen kann, als sich für sein Schooßkind zu halten, dem er das Weltgeheimniß ins Ohr gesagt und es damit aller weiteren Sorgen überhoben habe. –


Als sie am Abend dieses Tages nach Hause kamen und ihr trauliches Zimmer wieder betraten, lag ein Brief auf dem Pult. Die Handschrift war ihnen Beiden fremd. Ich weiß nicht, wie es kommt, sagte Edwin, aber ich fürchte, dieser Unbekannte, der sich hier eingeschlichen, verdirbt uns die Nachfreude unseres schönen letzten Ferientags.

Lies ihn doch erst morgen, bat Lea.

Edwin hatte den Brief schon geöffnet, ein kleineres Briefchen fiel heraus. Während Lea es aufhob, sah er nach der Unterschrift des großen. »Doctor Basler« – las er, und der heitere Ton seiner Stimme trübte sich plötzlich. Das freilich – ein Brief von daher – sechs enge Seiten lang – seltsam, wie das Alles schon hinter mir lag, als wäre Jahr und Tag darüber vergangen; so verhärtet uns das Glück! Und nun ist mir's wieder wie gestern. Armes Wesen, auch von deinem einzigen Freunde so rasch vergessen! Aber vielleicht steht von ihr selbst nicht ein Wort darin. Komm, wir wollen uns auf das Sopha setzen und den Brief zusammen lesen.

Sie war stumm geworden. Den kleinen Brief, den 300 sie aufgehoben hatte, hielt sie, ohne ihn gerade zu verstecken, in der Hand, so daß Edwin ihn zunächst vergaß. Nun setzten sie sich zu der Lampe hin und lasen:

»Werther Herr und Freund!

»Auch ohne den ausdrücklichen Auftrag meines gnädigen Herrn Grafen würde ich es mir zur Pflicht machen, dem Sohne meines Jugendfreundes die näheren Umstände des höchst betrübenden Ereignisses mitzutheilen, welches sonst wahrscheinlich in seinen nackten Thatsachen durch die Zeitung zu Ihnen gelangen und Sie doppelt erschüttern würde.

»Sine ambagibus also – denn sogenannte Vorbereitungen sind in solchen Fällen nur eine Vermehrung der Angst und Unruhe, und Männer, lieber Herr Doctor, wissen, daß das Schicksal schnell schreitet –: wir haben auf eine eben so plötzliche als traurige Weise unsere schöne junge Gebieterin, die gnädige Gräfin, verloren.

»Sie wissen, daß Schreiber dieses sich nicht eben besonderer Gunst und Huld von Seiten der so früh Dahingeschiedenen zu erfreuen hatte. Dennoch bedarf es keiner Versicherung, daß die kurzgefaßte und mit keinerlei Gefühlsäußerungen verbrämte Relation dieses Trauerfalls nur von der Eile, die mir der Drang der Umstände auferlegt, durchaus nicht von einer geringeren Theilnahme an dem Unglück meines gnädigen Herrn Zeugniß ablegen darf. Solches wäre nicht nur unmenschlich im Allgemeinen, sondern auch in specie undankbar, in so fern gerade noch zuletzt die hohe Verlebte dem guten Willen ihres allzeit getreuen Dieners mehr Gerechtigkeit 301 widerfahren lassen und ihn mit einem jetzt doppelt unschätzbaren Zeichen ihres Vertrauens beehrt hat.

»Um also in der Ordnung zu erzählen, so hat die gnädige Gräfin die nächsten paar Tage, nachdem Sie, mein Werthester, uns verlassen, in ihrer bisherigen Lebensweise nichts geändert, nur den dritten oder vierten Tag – den Montag, wenn ich nicht irre – ganz abgeschlossen in ihren Gemächern zugebracht und durch ihre Kammerfrau allein sich bedienen lassen. Am Dienstag ist sie wieder bei der Tafel erschienen und hat sich, zur sichtbaren Freude ihres Gemahls, heiterer und theilnehmender gezeigt, als sonst im engeren Kreise ihre Art gewesen. In Anknüpfung an die italienische Reise der fürstlichen Herrschaften ist vom Reisen überhaupt die Rede gewesen, und die Frau Gräfin hat so scherzweise hingeworfen, daß sie durch Reisebeschreibungen über die meisten fremden Länder, so zu sagen, blasirt geworden sei; wenn sie etwas reizen könne, sei es einzig und allein eine Reise nach dem gelobten Lande. Auf diese Aeußerung sind nun sowohl Graf Gaston, als der gnädige Herr Graf selbst in allem Ernste eingegangen, und auch noch am folgenden Tage ist von nichts Anderem die Rede gewesen, als von Wüstenritten, Jordanwasser, Ungläubigen und dem heiligen Grabe. Wobei es mir eine besondere Genugthuung bereitete, daß die Frau Gräfin die Erste war, die bemerkte: Den Doctor – meine Wenigkeit nämlich – dürfen wir natürlich nicht zu Hause lassen.

»Bei all diesen Gelegenheiten konnte es einem mit 302 den Verhältnissen Vertrauten nicht entgehen, daß auch die Stimmung der hohen Frau gegen ihren eigenen Gemahl eine bessere geworden war, was ich nicht umhin konnte im Stillen Ihrem Einflusse, mein sehr werther Freund, zuzuschreiben. Alte Diagnostiker, wie unsereins, täuschen sich darin nicht; der Ton der Stimme und der Ausdruck des Auges, der auch die unbedeutendsten Worte begleitete, zeigten mir deutlich, daß eine Milderung der früher so schroffen Gefühle sich vorbereite, und ich knüpfte bereits die schönsten Erwartungen einer gänzlichen Aussöhnung daran, die nun leider durch die entsetzliche Katastrophe für immer vereitelt worden ist.

»Am Donnerstag war eine Jagd anberaumt, an welcher außer den Hausgenossen nur die Barone Thaddäus und Matthäus Theil nahmen, jedoch als Zuschauer, indem sie seit der Verwundung des Herrn Rittergutsbesitzers – die Heilung schreitet ganz normal vor, der Schußkanal eitert regelrecht, Gesammtbefinden vortrefflich – keine Schußwaffe mehr in die Hand nehmen wollen, es sei denn zur Vertheidigung des Vaterlandes.

»Ich war, wie gewöhnlich, zu Hause geblieben und hatte nicht einmal die Herrschaften fortreiten sehen, nur von dem Amtmann gehört, Erlaucht seien ganz besonders schön und blühend und gut aufgelegt gewesen, also daß auch der Herr Graf wahrhaft verjüngt erschienen und unter Scherzen und Lachen der Jagdzug sich in Bewegung gesetzt habe.

»Desto mehr erschraken sämmtliche Bewohner des Schlosses, als bald nach Mittag die ganze hohe 303 Gesellschaft sehr kleinlaut und im Schritt wieder in den Schloßhof einritt, die Gräfin bleich in einem Wagen ruhend, Graf Gaston neben ihr zu Pferde, ihr Gemahl auf dem Kutschersitz. Wir hörten, die hohe Frau habe im Uebermuth ihrer Jagdlust den Herren ein Steeplechase proponirt, mit ihrem englischen Fuchs alsbald selbst die Tête genommen, beim Uebersetzen eines hohen Gatters aber einen unglücklichen Sturz mit dem Pferde gethan und sich zwar anscheinend nicht verletzt, aber durch die Erschütterung sich doch eine lange Ohnmacht zugezogen. Das Pferd, das eins der Vorderbeine gebrochen, sei durch einen Schuß des Grafen Gaston alsobald seiner Leiden erlös't worden, auf ausdrücklichen Wunsch der Frau Gräfin, die jedoch nach geschehener That in krampfhaftes Weinen ausgebrochen sei und seitdem kein Wort mehr gesprochen habe.

»So stieg sie auch, nur mit einem stummen Kopfnicken die bestürzte Dienerschaft begrüßend, am Arm ihres Gemahls die Treppen hinauf und ließ sich gleich in ihre Gemächer führen. Dort schloß sie sich ein paar Stunden ein, indem sie behauptete, es fehle ihr gar nichts, sie wolle nur Ruhe haben. Daß sie mich nicht consultirte, konnte mir nicht auffallen. Wie ich Ihnen ja schon vertraut habe, war ich weder als Arzt noch als Mensch bei ihr in Gnaden. Dennoch aber, zu meinem nicht geringen Erstaunen, werde ich etwa gegen sechs Uhr durch die Kammerfrau selbst zu der hohen Patientin beschieden.

»Ich fand sie, als wäre Nichts geschehen, in einem 304 eleganten Negligé am Schreibtisch sitzend, nur ungewöhnlich blaß, und die Art, wie sie mich begrüßte, war auch befremdlich. So viel Güte und Herablassung hatte sie sonst nicht an mich gewendet. Indem sie den Brief siegelte und mit fester Hand die Adresse schrieb, sagte sie auf meine Frage nach ihrem Befinden: sie wisse bestimmt, sie habe sich nichts Innerliches verletzt, aber der Schwindel, der sie schon neulich überfallen – Sie entsinnen sich des ersten Morgens nach Ihrer Ankunft, mein Werthester – derselbe hänge beständig wie eine Wolke über ihr, und deßhalb wünsche sie, daß ich ihr zur Ader lassen möchte. Ich hatte erst einige Bedenken, aus Gründen der Wissenschaft, die hier zu weit führen würden, aber da ich sie kannte und wußte, wenn ich mich weigerte, würde sie den Bader aus dem Dorfe kommen lassen, that ich, was sie verlangte – es war das erste Mal, daß ich ihren Arm berühren und ihr überhaupt einen ärztlichen Dienst leisten durfte. Wie finden Sie mein Blut, Doctor? sagte sie, als es in das silberne Becken rann. Nicht wahr, es ist sehr gesund? Mit solchem Blut kann man hundert Jahre alt werden! – Dann, als ich ihr den Verband anlegte, schärfte sie mir ausdrücklich ein, ihn recht fest zu machen, sie werfe sich oft im Schlaf hin und her, wie leicht könne er sich da verschieben. Nun, sagt' ich, auf alle Fälle werde ich um die Erlaubniß bitten, im Nebenzimmer mit der Kammerfrau die Nacht durch zu wachen. – Wenn Sie wollen,. daß ich kein Auge zuthue! erwiederte sie. Denn das leiseste Geräusch, auch nur die bloße Nähe eines 305 Menschen hält mich wach. Meine Nerven sind so überreizt. Nein, wenn ich ihr einen Gefallen thun wollte, möchte ich meinen gewöhnlichen Ritt nach der Stadt, den ich jeden Donnerstag zu machen pflegte, auch heute nicht unterlassen und diesen Brief, den sie eben geschrieben, mitnehmen, um ihn auf die Post zu geben.

»Sie haben sie gekannt, werther Herr Doctor, und wissen daher, wie schwer man ihr etwas abschlagen konnte; zumal einen solchen ersten Vertrauensdienst. Also verneigte ich mich stumm, steckte den Brief zu mir und gab Erlaucht noch allerlei Verhaltungsmaßregeln für die Nacht. Worauf sie mir ihre Hand reichte, die ich ehrerbietig küßte, und in dem Augenblick war es, als hätte nie etwas zwischen uns gestanden. Gute Nacht, lieber Doctor! – das war das Letzte, was ich noch von ihr hörte.

»Unten begegnete ich dem Herrn Grafen, der mich fragte, wie ich sie gefunden. Ich berichtete ihm, auch daß ich nach der Stadt reiten sollte – von dem Brief sagte ich Nichts. Obwohl Offenheit und Ehrlichkeit stets meine Devise waren, giebt es doch Fälle, wo Discretion Pflicht wird. Nach der Stadt zu reiten, untersagte mir der Herr Graf entschieden. Er werde es, wenn die Gräfin morgen danach frage, schon vor ihr vertreten, daß ich ihrem Befehl nicht gehorsamt. Dann ging er selbst zu ihr, blieb wohl eine halbe Stunde und kam in einer Stimmung aus ihrem Zimmer heraus, wie ich sie kaum jemals an ihm wahrgenommen – ganz milde und menschenfreundlich, und als würde nun 306 Alles gut werden. Lieber Himmel, es war auch seit Jahren das erste Mal wieder, daß er eine halbe Stunde an ihrem Bett hatte sitzen dürfen.

»So wurde es denn Nacht. Im Schloß merkte man nichts Besonderes, das Souper verging ein wenig stiller, und hernach war kein Spiel, was den Herrn Chevalier sehr verschnupfte, da er sich ohne das nicht zu unterhalten weiß. Um elf schickte der Graf noch einmal hinauf; die Kammerfrau, die nebenan auf dem Sopha übernachtete, ließ sagen, die gnädige Gräfin scheine zu schlafen, hinein dürfe sie nicht, sie habe sich eingeschlossen.

»So ging Alles zu Bett. Was war auch zu besorgen? Die Symptome hatten nichts Bedenkliches; Ruhe, Schlaf und etwas Blutentziehung konnten nur wohlthun.

»Aber um fünf Uhr Morgens werde ich aus dem Schlaf geschreckt, die Kammerfrau steht an meinem Bett, ich solle machen, daß ich hinauf käme, sie sei durch ein seltsames Stöhnen aufgeweckt worden, habe geklopft und gerufen und endlich mit Hülfe eines Bedienten das Schloß gesprengt – da habe die arme gnädige Gräfin in ihrem Blut gelegen, den Verband vom Arm gestreift – bewußtlos – aber noch am Leben.

»Lieber Herr und Freund, Sie können denken, daß unser Métier uns abhärtet, aber dieser Anblick – und der Herr Graf dabei, der sich wie ein Rasender geberdete – und der Jammer im ganzen Hause – und ich, der helfen sollte und sah, daß Alles umsonst war! 307

»Wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, daß der Verband – aber wozu darüber reden? – Und gerade der Umschlag in ihrer Stimmung während der letzten Tage, der die Vermuthung, die einem sonst nahe treten könnte, sofort wieder beseitigte –

»Auch kann all dieses nachhinkende Räsonnement sie nicht wieder ins Leben zurückrufen.

»Jetzt erst dachte ich auch an den Brief, den ich noch in der Tasche hatte, und sagte dem Grafen davon, denn jetzt war alle Discretion überflüssig. Er griff hastig danach, einen Augenblick dacht' ich, er würde ihn öffnen und nachsehen, ob vielleicht eine Andeutung darin – aber dann las er die Adresse mit lauter Stimme sich selber vor und war wieder Cavalier genug, mir den Brief zurückzugeben. Besorgen Sie ihn, sagte er, und schreiben Sie ihm dabei – und indem er das sagte, brach ihm die Stimme, und er sank in den Sessel neben dem Bette seiner schönen todten Frau.

»Hier ist nun der mir anvertraute Brief. Ich bin überzeugt, er giebt keine neuen Aufschlüsse – keine, die mir neu sein könnten. Denn was ich weiß, das weiß ich, und selbst Stimmen aus dem Grabe könnten meine Ueberzeugung nicht umstoßen.

»Ich sehe, daß ich sehr weitläufig geworden bin. Ihnen aber, als einem nahen Freunde der Dahingeschiedenen, werden diese Details nicht zu viel sein. Indem ich mich nur noch unbekannter Weise Ihrer verehrten Gattin empfehle und bedaure, daß unsere junge Bekanntschaft so wenig Aussicht auf eine erfreuliche 308 Fortsetzung hat – der Herr Graf treten in wenigen Wochen die Reise nach dem Orient an, und ich begleite ihn – grüße ich Sie, werthester Freund, mit aller Hochachtung als Ihr

Dr. Basler.

»Adresse nach wie vor im Schloß, von wo uns Alles nachgeschickt werden wird.«

Der Brief, der in den des Doctors eingeschlossen war, lautete wie folgt:

»Sie werden erschrecken, mein lieber Freund, daß ich Ihnen schon wieder schreibe. Aber fürchten Sie nichts, es ist das letzte Mal, und nicht viel mehr als eine Karte p. p. c.., die man bei seinen Freunden vor einer längeren Trennung abgiebt. Ich verreise, lieber Freund, und weit genug, daß Sie völlig vor jeder Belästigung meinerseits sicher sein können. Wie sich das so plötzlich gemacht hat, ist eine lange Geschichte. Genug, es sind nicht die Lorbeern meiner schönen blonden Schwägerin, – jene, mein' ich, die sie als hochgeborene, geistreiche und gläubige Reisende ohne Zweifel ernten wird – was mich antreibt, ebenfalls die Luft zu wechseln. Wenn die, die ich athme, meiner Gesundheit zuträglich wäre, mich normal schlafen und wachen, lachen und weinen ließe, so rührte ich mich gewiß nicht vom Fleck. Aber daß es so nicht länger fortgeht, muß auch mein ärgster Feind begreifen; darum will ich lieber fortgehen. Das ›gelobte Land‹ hat mich schon längst gelockt. Ich wäre auch schon früher dahin aufgebrochen, wenn ich nicht noch allerhand hätte abwarten wollen, allerlei zu hoffen und zu harren gehabt hätte – eine Menge, 309 wie ich jetzt sehe, sehr überflüssiger Bedenklichkeiten, die nun auch glücklich hinter mir liegen.

»Wissen Sie, daß ich inzwischen die Bekanntschaft Ihrer lieben Frau gemacht habe? Eine sehr, sehr angenehme Bekanntschaft; ich wollte, ich hätte sie einige Jahre früher gemacht, es hätte mir sehr nützlich sein können. Nun, es ist ja auch jetzt noch nicht zu spät, mich daran zu freuen, daß Sie haben, was Sie bedürfen, ein so ebenbürtiges Glück, eine so vornehme, kluge und holdselige Lebensgefährtin. – Grüßen Sie sie herzlich von mir. Ich mag mich wunderlich genug benommen haben in meinem Incognito. Aber der Gedanke blitzte so plötzlich in mir auf und wurde eben so schnell und heimlich mit Hülfe meiner Getreuen ausgeführt, daß ich nur gar nicht recht überlegen konnte, welche Rolle ich spielen sollte. So war Alles ganz improvisirt. Es schwebte mir freilich Anfangs vor, daß ich Ihnen den Vorschlag machen wollte, mich auf der großen Reise zu begleiten. Aber ein Blick in Ihr Haus hat mich rasch belehrt, daß Ihnen da am wohlsten sein muß, daß Ihr gelobtes Land das Zimmer ist, wo Ihr Pult mit dem Maltisch Ihrer Frau sich so friedlich und freundlich verträgt.

»Leben Sie wohl, mein theurer Freund! Ich hätte noch lange Lust, mit Ihnen zu plaudern – zu philosophiren, wie wir es sonst nannten; aber was kommt dabei heraus? Oder hat schon jemals ein Weiser eine genügende Antwort gewußt auf die Frage, wie es mit einer gerechten Weltregierung sich reimen lasse, daß die 310 Sünden der Väter an den Kindern heimgesucht werden – Oder warum ein Naturspiel, eine Abnormität dennoch alle ernsthaften, alle normalen Forderungen erfüllen soll, die man an die regelrechten Menschen zu stellen berechtigt ist? Oder warum wir meist mit der Erfüllung unserer Wünsche gestraft werden, oder erst einsehn, was wir hätten wünschen sollen, wenn es unerfüllbar geworden ist?

»Eine Närrin, wie Sie wissen, kann mehr fragen, als zehn Philosophen beantworten können. Vielleicht kommen mir in dem gelobten Lande besondere Erleuchtungen.

»Und übrigens: es war doch schön – Manches – Vieles – sogar manches Schwere, was ich hier in der grauen Dämmerung dieser wunderlichen, kühlen und unwirthlichen Welt erlebt habe. Ich gäbe selbst meine Schmerzen nicht hin gegen das dumpfe Glück der Alltagsklugen, die in ihrer gemäßigten Zone Alles ganz in der Ordnung finden und zäh an ihrer Scholle kleben.

»Leben Sie wohl, mein theurer Freund. Lassen Sie mich hoffen, daß Sie immer, wo ich auch sein möge, mit so viel Antheil meiner gedenken werden, als ein großes und reines Glück, das Sie besitzen, Ihnen nebenher noch erlauben will. Und wünschen Sie eine glückliche Reise

Ihrer

Toinette311



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