Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Fünftes Buch.

Erstes Kapitel.

In dem Augenblick, wo wir den Faden unserer Erzählung wieder aufnehmen, finden wir Edwin am offenen Fenster eines Gasthofes sitzend, ziemlich in demselben Aufzuge, in dem wir ihn damals in jener ersten Mondnacht kennen lernten. Er trägt wieder einen unscheinbaren Sommeranzug von grauer Farbe, das schwarze Halstuch lose umgeschlungen; ein Strohhut, trotz der wechselnden Mode noch von der gleichen Form, liegt auf dem Tische, mit einem frischen Sträußchen von Haidekraut geschmückt. Auch seinen Zügen ist nicht anzumerken, daß vier Jahre seitdem vergangen sind; eher könnte er jünger erscheinen, die Wangen von Luft und Sonne leicht gebräunt, der gespannte Zug zwischen den Augen geglättet, die nervöse Unruhe des Blicks verschwunden. Er hat eben einen langen Brief zu Ende geschrieben und legt die Feder nieder, um sich einen Augenblick an den Waldbergen zu weiden, die drüben in der Dämmerung des warmen Sommerabends hinter dem sauberen Städtchen aufsteigen. Die Luft ist, wie sie gleich nach dem Schwinden des Abendroths zu sein pflegt, von einer durchsichtig 4 zitternden Helle, silbergrau ins Weißliche spielend, daß für das rasch geblendete Auge die Massen von Wald- und Hügelgipfeln und die darüber hinausstrebenden Thürme der alten Kirche wie ein schwarzer Schattenriß gegen einen Bogen Silberpapier sich abheben. Im Vordergrunde wirken noch leise Localfarben und hundert Einzelnheiten. Der Bahnhof, nur durch die breite Straße von dem Hôtel geschieden, wimmelt von Menschen. Es ist aber, dem Sonntag zu Ehren, kein lärmendes Gewühl, keine Güter werden aus- und eingeladen, nur Vergnügungsreisende scheinen auf den nächsten Zug zu warten, der erst eine Stunde später abgehen soll.

Indessen dunkelt es mit Macht. Edwin ist genöthigt, um den Brief noch einmal durchzulesen, näher an das Fenster zu rücken. Wir dürfen dem alten Freunde wohl über die Schulter blicken und sehen, was er seiner Lea geschrieben hat.

»Meine geliebte Frau, hier bin ich nun seit zwei Stunden, die ich so fest, wie nur je um Mitternacht, verschlafen habe. Es war ein zwiefacher Unsinn, heute mit aller Gewalt dies Ziel erreichen zu wollen und deßhalb sogar in der Mittagsglut zu marschiren. Ich konnte wissen, daß Freund Mohr nicht eine Minute vor dem letzten Termin sich von seinem Hause losreißen würde, und richtig habe ich ihn hier auch nicht vorgefunden und werde vielleicht noch ein paar Tage auf ihn warten müssen. Darüber bin ich um das Vergnügen gekommen, auch diesen Theil des Gebirges in Nacht und Mondschein zu durchschlendern, wie ich es die letzten vier 5 Etappen gethan. Liebste, es war unsäglich schön, immer so mit dem Mondaufgang das heiße Tagesquartier zu verlassen und dann durch die stillen Wälder, die mehr und mehr sich kühlten, in die Nacht hineinzuwandern, bis um Monduntergang irgend ein kleines schlafendes Nest mich aufnahm. Wer ein Reisehandbuch schreiben will, muß es freilich anders anfangen. Denn der Mond ist zwar ein Poet, der uns das Irdische erklärt, aber einer im Stile Eichendorff's, der mit seinem Wipfelrauschen, aufblitzenden Strömen und fernem Hundegebell uns immer in dieselbe träumerische Stimmung verzaubert, daß es zuletzt ganz gleich ist, wo wir wandern, ob in Italien oder im Thüringer Wald. Für mich, der ich nichts wollte, als einmal den Schulstaub recht gründlich abschütteln und Alles vergessen, was mich an die Congruenz der Dreiecke und die Lehre von den Parallelogrammen erinnern konnte, war diese Dämmerstimmung gerade das Rechte, in der alle Formen in einander flossen und ich gleichsam schon bei lebendigem Leibe ins All zurückkehrte. ›Lösest endlich auch einmal meine Seele ganz‹ – wie oft hab' ich das vor mich hin gesagt! Wie oft hab' ich deiner gedacht und dich beklagt, daß du, als ein Weib, diese seltsam süße schauerliche Wonne, wie ich sie in vollen Zügen mit dem Nachtwind einsog, nie genießen kannst. Denn nur in voller Einsamkeit fängt der Zauber an zu wirken. Das Ohr darf keinen fremden Schritt neben dem eigenen hören, wenn die Nacht ihre Geheimnisse ausplaudern und jenes wunderlich schwingende Summen sich vernehmen lassen soll, das so klingt, als höre man den 6 tiefen, ruhigen Ton, mit dem unsere Erde sich in den Aethergeleisen fortbewegt. Es ist märchenhaft, Liebste, dabei zu den Sternen aufzublicken und sich in die unermeßlichen, still da oben wandelnden Räthsel zu vertiefen, unzählige ›brennende Fragen‹, die freilich nur einem Träumer und Nachtwandler auf der Seele brennen. Und nun mitten im Grauen der Welteinsamkeit den Triumph in der Seele, daß man liebt und geliebt wird und in keinem noch so tiefen Abgrunde wirklich einsam und trostlos den Nachtgespenstern preisgegeben ist, da man seinen reinen, redlichen Willen, seine Kraft und Lust zum Guten immer wie einen Schild überm Haupte schwingen kann und sich all seinen mitkämpfenden Brüdern verbunden fühlt. – Du warst immer an meiner Seite, geliebte Seele, und an der andern ging unser Balder, oft in so leibhafter Nähe und Gegenwart, daß ich ordentlich eure Augen glänzen sah und deutlich zu hören meinte, wie deine Stimme klingt, wenn du dich manchmal hinter mich schleichst und dicht an meinem Ohre flüsterst: ›störe ich dich?‹

»Wie gesagt, um das Alles habe ich mich gebracht, als ich mir heute einfallen ließ, in den Tag hineinzurennen. Nun muß ich, um mich deiner Nähe wieder zu versichern, die Feder in die Hand nehmen, die nach einem heißen Hundstagsmarsch nicht eben fliegen will. Aber ich fürchte, wenn ich länger schwiege, möchtest du eifersüchtige Grillen fangen und glauben, Frau Christiane habe es mir angethan, und statt des wirklichen und wahrhaftigen Mondscheins, in dem ich wie trunken 7 herumgetaumelt, sei mir etwa die Mondscheinsonate zu Kopf gestiegen, die ich allerdings mit neuem Entzücken mir wieder habe vorspielen lassen. Nein, geliebte Klugheit, über diesen Punkt kannst du so ruhig sein, wie vor vier Jahren, vielmehr noch weit ruhiger. Denn auch deine alte, damals nicht ganz zu verwerfende Hypothese, die große Liebenswürdigkeit deines theuren Gatten habe auf das unbeschäftigte Gemüth unserer Künstlerin einen verhängnißvollen Eindruck gemacht, hat sich bei näherer Beleuchtung aller Umstände und Thatsachen als völlig unhaltbar erwiesen. Diese Eroberung mußt du von der Liste meiner Siege streichen, die damit noch bedenklicher zusammenschrumpft. Daß wir Jahre hindurch nichts von unseren Freunden hörten, daß sie uns selbst ihre Hochzeit nicht anzeigten und erst vor Kurzem an die alte Freundschaft wieder erinnerten, hat seine Ursache in ganz anderen Dingen – über die ich selbst gegen dich zu schweigen versprochen habe, obwohl es mir schwer genug wird. Denn ich habe mich so gewöhnt, völlige Gütergemeinschaft mit dir zu haben, nicht die kleinste arrière-boutique, wie Montaigne es nennt, in meinem Geist und Herzen vor dir verschlossen zu halten, daß ich die merkwürdigen Umstände, unter denen diese beiden Menschen sich gefunden, lieber nicht erfahren hätte, um den Preis, sie vor dir, meine geliebte Großsiegelbewahrerin, verbergen zu müssen.

»Zumal da ich weiß, daß auch diesmal unser Beider Urtheil und Gefühl übereinstimmen würden.

»O Liebste, die Stunde, in der unser alter Freund 8 endlich das Siegel von dem lange gehüteten dunklen Geheimniß lös'te, weil es ihm unerträglich war, ein Räthsel zwischen uns Beiden zu lassen, die Art, wie er das Unsagbare zu sagen, das Trostlose durch seine unerschütterlich ernste und tiefe Liebe zu überwinden wußte – nie, nie wird die kleinste Silbe dieser Bekenntnisse aus meinem Gedächtniß schwinden. Wie haben diese Menschen ihr Glück erkämpft, ja wie tapfer müssen sie es noch täglich gegen die Geister der Vergangenheit vertheidigen. Nie habe ich eine rührendere Geschichte gehört, als die von seinem rastlosen Suchen nach der Verlorenen, von der unermüdlichen, durch Nichts abzuschreckenden Beharrlichkeit, nachdem er sie endlich in einem tief versteckten Weltwinkel gefunden, sie wieder ans Licht des Tages, an die Lebenswärme ihres Berufs und seiner treuen Neigung zu gewöhnen. Jetzt erst habe ich diesen wunderlichen Menschen von Grund aus kennen gelernt und es begriffen, daß er das schwere Werk, dies scheinbar verlorene Leben zum zweiten Mal zu retten, wirklich zu Stande bringen konnte. Wie gern möchte ich dir nun den alten Freund zeigen, wie ich ihn erkannt, als einen der besten, liebevollsten und selbstlosesten Helden wahrer Menschlichkeit, die mir überhaupt je begegnet sind. Denn glaube nicht, daß er von seiner Leidenschaft verblendet, ganz ohne Kampf und nur das Ziel ihres Besitzes vor Augen – genug, ich bin auf dem Wege, mehr zu sagen, als ich darf. Laß es dir an dieser Andeutung genug sein, geliebtes Herz, und versprich mir, niemals weder darauf zurückzukommen, noch auch, wenn es dir möglich ist, über 9 dem, was hinter uns liegt, zu grübeln. Habe ich nicht selbst ein so schönes Beispiel gegeben, wie der Mensch sogar seine berechtigtste Neugier bekämpfen kann, als ich nicht nachforschte, welchen Grund du haben konntest, mich auf dieser Ferienreise nicht zu begleiten, und mich sogar auf deinen Wunsch alles Nachdenkens darüber enthalten, ob es sich dabei um ein großes Scheuerfest, um eine neue Tapete in unserm Arbeitszimmer oder um sonst eine ungeahnte sinnige Verwendung des ersparten Reisegeldes handeln mag?

»Um aber zu Mohr und seinem jungen Glück zurückzukehren: eine so günstige Verwandlung, wie sie an ihm in den paar Jahren sich vollzogen hat, hätte ich nie für möglich gehalten.

»Er erwartete mich am Bahnhof, ein Knäbchen auf dem Arm von etwa drei Jahren, das mit klugen, schwarzen Augen mich ganz freundlich und unverlegen anlachte. Erst als wir aus dem Gedränge waren und der Kleine nun ohne Gefahr auf seine eigenen Füße gestellt werden konnte, hatte sein Vater die Arme frei, mir um den Hals zu fallen. Wir gingen dann eine Weile langsam und stumm die Straße entlang, die nach der kleinen Stadt führte. Er hatte die Augen beständig auf den Jungen gerichtet, und nur dann und wann blinzelte er mir verstohlen zu, als ob er fragen wollte, ob ich schon jemals so ein Kind gesehen. Du mußt wissen, sagte er dann, er hat keine andere Kinderfrau, als mich, und es wird sein Schade nicht sein. Christiane hat mir Anfangs die dazu nöthigen Qualitäten nicht zugetraut, auch gedacht, ich hätte 10 wohl was Besseres zu thun. Jetzt ist sie auch dahinter gekommen, daß dies mein eigentlicher Beruf ist. Wir müssen uns nur nehmen wie wir sind. Dein alter Freund Heinrich Mohr, der sich früher einbildete, etwas für sich zu sein, ein ungemeiner Mensch, ein Poet, ein Musikus – der Teufel mag wissen, was sonst noch Alles –: jetzt ist er zu der Einsicht gekommen, daß er Nichts ist als ein Durchgangspunkt, eine Zwischenstufe zwischen den Mohrs, die noch unbedeutendere und gemeinere Individuen waren, und diesem kleinen Mohrchen, das größer sein wird, als wir Alle, die Spitze und Blüte des ganzen Geschlechts. Was in mir nur Trieb, Wunsch, Ahnung und Desperation war, in ihm wird es Erfüllung werden. Du lachst, Lieber – (ich lachte durchaus nicht) aber lerne ihn nur erst kennen. Er hat's auch freilich nicht von seinem Herrn Papa allein; sein mütterliches Theil mag das gute Beste daran gethan haben: ihr starker Wille, Alles an Alles setzen. Bei mir waren vielleicht auch die Elemente zu einem großen Künstler vorhanden; aber die verfluchte Kritik, die Ueberklugheit und das Mißtrauen hielten sie ewig auseinander. Nun, es ist keine Schande, sich vor einem Naturgesetz zu beugen. Rafael's Vater war ein armseliger Farbenkleckser, der alte Mozart spielte im Orchester seinen Part schlecht und recht herunter, wie auch Beethoven's Papa nicht eben ein großes Licht war. Sehr möglich, daß es auch diesen Biedermännern unbequem genug war, nichts Besonderes vorzustellen, bis sie dahinter kamen, daß sie der Ehre gewürdigt wurden, Durchgangspunkte 11 zu sein, gleichsam nur die Retorten, in welchen die Natur die Lebenselixire braute, die unter dem Namen ihrer Söhne die Welt verjüngen und beseligen sollten.

»Er sah dabei das Bübchen, das ganz verständig neben dem Chausseegraben hintrabte und einen Kuchen aß, mit einem Blick an, in dessen Zärtlichkeit eine Art von Respect durchschimmerte, so daß es zum Lachen gewesen wäre, wenn es nicht gerade bei unserm alten Freunde etwas Rührendes gehabt hätte.

»Was ist denn sein Talent? fragte ich endlich

»Wir sind noch nicht ganz im Klaren darüber, gab er ernsthaft zur Antwort. Wie jedes ungewöhnlich angelegte Menschenkind hat er mehr als Eine eminente Fähigkeit, und wir lassen sie alle nebeneinander sich entwickeln. Sein musikalisches Gehör und Gedächtniß sind erstaunlich. Daneben hat er einen Sprachsinn, dessen sich mancher Junge von sechs Jahren nicht zu schämen brauchte, und wie er Formen und Farben auffaßt, übersteigt allen Glauben. Du hältst mich für einen vor Affenliebe übergeschnappten Vater; ich kann es dir nicht verdenken, auch werde ich nicht etwa mit einer Reihe von Kunststücken deinem Unglauben zu Leibe gehen; wir nehmen uns wohl davor in Acht, eine so feine und reiche Natur durch Abrichten zum Wunderkinde zu verpfuschen. Wie du ihn da siehst, seinen Kuchen essend und lustig in der Sonne hinspringend, so überlassen wir ihn völlig sich selbst, und meine ganze Erziehung besteht darin, ihm nicht eher etwas zu sagen 12 oder gar beizubringen, ehe er selbst danach fragt und verlangt. In zehn Jahren wollen wir uns wieder sprechen.

»Und Christiane? fragte ich.

»Die wirst du nicht wiedererkennen, sagte er mit einem stillen Lachen, wie Jemand, der sich schon im Voraus auf das überraschte Erstaunen eines Anderen freut. Ich weiß, ihr habt nie begriffen, daß ich sie von Anfang an gar nicht häßlich finden konnte; ihr habt mich ausgelacht, wenn ich sagte, ihr Gesicht sei nur durch Leiden und Schicksale so nachgedunkelt, und wenn dieser trübe Firniß entfernt würde, müßte ein ganz erfreuliches Bild zum Vorschein kommen. Nun, wer zuletzt lacht, lacht am besten. Du wirst sie sehen und selbst urtheilen, ob das Regenerationsverfahren hier seine Schuldigkeit gethan hat. Es ist auch kein Wunder. Denn wie sie hier anerkannt, geliebt, verehrt, auf Händen getragen wird – ich kann sagen, das ganze musikalische Leben unserer guten Stadt dreht sich um sie. Du kommst gerade recht; der Cäcilienverein, den sie gestiftet hat, giebt heut Abend ein Concert im Freien; erst Winter und Frühling aus den ›Jahreszeiten‹, dann gesellige Unterhaltung mit vierstimmigen Mendelssöhnen. Ich mache mich dabei auf meine Weise nützlich, indem ich am Klavier begleite, die Stimmen austheile und manchmal ein bischen Bariton mitbrumme. Denn die Weiberstimmen sind bei uns das Beste, auf die hat Christianens Methode im Unterricht schon gewirkt. Aber Tenore und Bässe machen uns Noth. Das ruinirt Stimme und Vortrag bei Turner-, Schützen- und Handwerkerfesten, 13 glaubt seinen Patriotismus durch Schreien zu beweisen und ist dann nicht zu brauchen, wo es ins Feinere gehen soll. Nun, man muß auch den Schatten sich gefallen lassen. Dafür sind wir nun einmal Kleinstädter.

»Dies Alles mit einem so vergnügten Gesicht, daß ich merkte, er hätte mit keinem Kapellmeister in Wien oder Berlin getauscht. Ich sah jetzt auch, daß der Zug, der ihm sonst so eigen war, die schiefe Unterlippe, die seine weißen Eberzähne vorblitzen ließ, ihm ganz abhanden gekommen war. Er konnte mit offenem Munde lachen wie ein Kind.

»Dabei aber war von dem Verfasser der Komödie ›Ich bin ich und setze mich selbst‹ noch genug in ihm, daß er mit keiner Silbe danach fragte, wie es mir inzwischen ergangen sei, was meine Frau für ein Gesicht bekommen habe und wie unsere kleine Stadt uns behage. Das holte denn Frau Christiane aufs Liebevollste nach, die uns schon vor der Stadt entgegenkam, wenige Schritte von ihrem allerliebsten Häuschen, das zwischen Gärten und Wiesen außerhalb des Thores gelegen ist. Sie erschien, nach der ersten Beklommenheit, die jedes Wiederfinden alter Gesichter mit sich bringt, völlig unbefangen; ihre erste Frage war nach dir, dann mußte ich ihr vom Vater erzählen und seiner Verheirathung mit der Professorin, dann von unserm Nachbarn Franzelius und seiner kleinen Hausfrau, und so waren wir bald im besten Behagen. Eine Sanftheit und Stille ihres Betragens fiel mir auf, etwas demüthig Gedämpftes, zumal, wenn sie sich zu ihrem Mann wendete, auf dessen 14 leisesten Wink sie beständig zu lauschen schien. Nur wo von Kunst, zumal von Musik, oder von ganz fremden Dingen die Rede war, zuckte die alte herbe Kraft unserer wundersamen Freundin wie eine Flamme aus der Asche hervor. Indessen hatte Mohr eine Flasche Wein in die hübsche Geißblattlaube ihres kleinen Gartens gebracht und saß nun, eine Cigarrette dampfend, stillvergnügt am Tisch, während seine Augen beständig zwischen der Frau und dem im Garten spielenden Knäbchen hin und her gingen. Hab' ich dir zu viel gesagt? fragte er triumphirend, als sie endlich abgerufen wurde zu einer Singstunde, die sie der Tochter des Bürgermeisters zu geben hatte. – Ich brauchte mir keinen besonderen Zwang anzuthun, um den alten Freund in seinen glücklichen Illusionen nicht zu stören. Denn allerdings hat der Sonnenschein, wenn er auch aus unserer wohlbekannten Schattenpflanze keine blühende Rose machen konnte, das strenge, verdüsterte Gesicht so wohlthätig aufgehellt, daß Niemand mehr davor erschrecken wird; manchmal, bei einem drolligen Einfall ihres Mannes, oder wenn das Kind mit irgend einer Frage zu ihr gesprungen kam, überflog sogar ein so hübsches Lächeln ihren Mund, daß man das Schnurrbärtchen schier vergaß. Ihre Augen waren von jeher merkwürdig genug und haben durch das Glück einen weichen, seelenvollen Glanz bekommen. Sie trägt sich, soviel ich davon verstehe, durchaus nicht kleinstädtisch, aber in äußerst bescheidenen Farben und ohne jeden Schmuck. Daß man sie sehr zu schätzen und ihre Talente zu würdigen weiß, hatte ich Abends beim 15 Concert, dem Alles, was kreucht und fleucht, beiwohnte, hinlänglich zu beobachten Gelegenheit.

»Von diesem Concert wäre überhaupt viel zu erzählen, am liebsten möchte ich sehen, wie der Mohr der früheren Zeit sich darüber geäußert hätte; da mir aber seine satirische Ader gänzlich fehlt und ich überdies noch zu müde bin von der heutigen Wanderung, muß ich dir dies Genrebild für mündlichen Bericht aufheben. Nur einer Episode will ich noch erwähnen, die für unsere Freunde und ihr zärtliches Füreinanderleben bezeichnend ist. Während Vater Haydn executirt wurde, wobei Christiane sich alle Ehre machte, saß Mohr auf einer Bank im Garten und hatte den Knaben neben sich, der nach genossenem Obst und Butterbrod ganz verständig zuhörte. Es war ziemlich spät geworden, und in der Pause, ehe die Quartette anfingen, stellte sich der Sandmann ein. Papa Mohr, da die Magd sich nicht blicken ließ, nimmt natürlich das Kind auf den Arm und trägt es nach Hause, wo er so lange bleibt, bis es zu Bett gebracht und der säumigen Dienerin übergeben ist. Wie er den Garten wieder betritt, um noch den Rest des Programms mitzugenießen, bleibt er höchst verwundert stehen und traut seinen Ohren kaum. Ist das noch Mendelssohn? Nein. Aber was ist es denn? Es kommt ihm so bekannt vor – und doch – das, was er meint, kann es doch nicht sein. Aber was soll es sonst sein? Richtig, es ist ein Quartett, das er selbst vor Jahren componirt und mit anderen abgedankten Versuchen neben der Sinfonia ironica in einen großen Koffer verschlossen 16 hat. Und nun muß er es vor den Ohren des ganzen Publikums singen hören, so gut singen, daß es zum Schluß mit einem wüthenden Applaus und Dacaporuf belohnt wird, obwohl es hinter Haydn und Mendelssohn nur ganz bescheidentlich als eine Zugabe erschienen war. Wer hätte Frau Christianen eine solche Tücke zugetraut? Und vollends, daß sie auf die vielen Anfragen nach dem Componisten sich nicht entblöden würde, den Namen ihres eigenen Gatten zu nennen! Da aber brach nun auch der Beifall wie ein Ungewitter aus, und ich konnte bei der Gelegenheit sehen, wie wohlgelitten unser alter ci-devant Spötter und Menschenfeind bei seinen Mitbürgern ist. Es war allerliebst anzusehen, wie er zu seiner Frau hintrat und sie ganz öffentlich erst umarmte und dann ausschalt, daß sie zum Verräther an seinen Jugendsünden geworden sei, und sie nun wieder von dem gelungenen Streich den Anlaß nahm, ihm zu sagen, was eigentlich in ihm stecke, und was sie immer an ihm bewundert und hochgehalten habe.

»Letzteres unter unsern sechs Augen, als wir eine Nachfeier des Concertabends in der Geißblattlaube hielten. Wie haben wir dich herbeigewünscht, meine geliebte kleine Frau! Die Ueberraschung, die mich zu Hause erwartet, muß etwas sehr Hübsches sein, wenn sie mich dafür entschädigen soll, daß du mir jenen Abend gefehlt hast. –

»Noch einen ganzen Tag bin ich bei ihnen geblieben. In dieser langen Zeit hab' ich unsern Freund das Wort, mit dem er sonst einen so sündhaften Luxus trieb, das 17 Wort ›Neid‹ nicht Einmal aussprechen hören. Balder hatte Recht, als er sagte, Mohr's Neid sei nur eine verkrüppelte Liebe. Seit er die schöne, gesunde und geradegewachsene kennt, hat er auch seine Philosophie des Neides abgedankt. Denn der Rest von Fremdheit, der auch in seinem veredelten Neidgefühl noch zurückgeblieben war: daß er das Gute, Schöne und Liebenswerthe in Andern doch nicht ganz als das Seine fühlte, hat natürlich schwinden müssen, wo er nun Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein in einem lieben Kinde zu beneiden hätte.

»Sie wollten mich nicht so bald fortlassen. Aber da das Zimmer, das sie mir eingeräumt, nach Süden lag, so war es in der Nacht so unerträglich heiß, daß ich mit dumpfem Kopfweh erwachte. Ich habe also ehrlich und eigensinnig darauf bestanden, daß sie sich keine neuen Umstände in ihrem kleinen Hauswesen machten, sondern mich in den Gasthof ziehen ließen. Das ging ihnen nun wieder, da man in ihrem Städtchen seltsame Glossen zu meinem Quartierwechsel machen würde, gegen Ehre und Reputation, und so fanden wir endlich den Mittelweg, daß ich ein paar Tage allein durch die Berge wandern und mit Freund Heinrich hier wieder zusammentreffen sollte. Auch ihm sei Bewegung vom Arzt verordnet, er komme nur nie dazu, sich von dem Jungen zu trennen, und so bin ich allerdings auch jetzt nicht ganz sicher, ob er sein Wort halten wird. Bis morgen Abend wart' ich auf ihn; ich fürchte fast, statt seiner kommt ein Brief, der es mit den Pflichten einer 18 Kinderfrau unvereinbar erklärt, nächtliche Fußwanderungen in Gesellschaft eines alten Freundes zu unternehmen. –

»Ich will den Brief nun schließen, liebes Herz. Es ist gerade die Stunde, die mir auf Reisen immer die liebste ist, um so ein kleines fremdes Nest ganz einsam zu durchwandeln. Der Feierabend ist eben angebrochen, die Leute aber, die Oel und Kerzen sparen, sitzen lieber noch eine Weile draußen vor den Hausthüren und sehen behaglich zu, wie das letzte Restchen Tageslicht verglimmt. Die Schulkinder haben auch ihr Pensum hinter sich und toben sich noch im Freien ein bischen aus. Indessen bringt die Mutter das Jüngste schon im Nachtkittel zum Vater hinaus auf die Bank; der nimmt das kleine Menschenbild auf den Schooß und zeigt ihm den Mond und den hohen Kirchthurm und das Storchennest drüben auf dem Rathhaus und freut sich, wie es aufhorcht und große Augen macht. Hernach wird auch aus diesem staunenden und schauernden Kinde ein harter, derber Werkeltagsmensch, der dem Gewinn nachrennt und nicht an Märchen glaubt, außer Sonntag Vormittags, wo sie ihm freilich auch nicht immer an die Seele gehen. Aber die Meisten überschleicht doch wohl in der Dämmerstunde ein Hauch der Kindheit, und in kleinen Städten mehr als in großen, und in der Fremde mehr als in ihrer gewohnten Umgebung. Ich habe oft bemerkt, daß uns dann die Heimath fremder erscheint und die Fremde heimischer. Das Wunder, daß wir überhaupt auf dieser Erde wohnen, überfällt uns plötzlich mit Macht, sobald 19 der erste Stern ins Blau tritt, und macht uns gleichsam mißtrauisch gegen das eigene Haus; und wieder: fern von den Unsern, aber doch unter Menschen, fühlen wir dann, daß wir nirgend anders hingehören, als eben dahin, wo Abends das Feuer auf dem eigenen Herde angezündet und nach Tagesarbeit aller Segen der Ruhe und Liebe genossen wird. Ich muß oft an mich halten, wenn ich so an einem hellen Fenster vorbeikomme, hinter dem ein Menschenhäuflein um eine dampfende Schüssel sitzt, daß ich nicht ungebeten hineintrete und sage: Guten Abend! Kennt ihr mich nicht? Ich bin ja euer Bruder! – O Liebste, das sind arme Thoren, die sich und Anderen vorschwatzen, wir seien Fremdlinge in dieser Welt. Hat unsere Mutter Erde darum uns aufsprießen lassen aus ihrem Schooß und mit ihrer Milch genährt, und unser Vater, der Aether, uns die Augen geklärt und alle Sinne aufgeweckt, daß wir wie heimathlose Waisen hier herumirren und lebenslang nicht erwarmen sollen? Nur eine träge, selbstsüchtige und verschrobene Seele kann sich widerwillig oder hochmüthig von diesem traulichen Ort abwenden, wo sie wohnen und wirken soll, und den ihr jedes hülfreiche Thun so lieb machen würde. Und diese ganz Hoffnungslosen meinen, wenn das Stück, das sie aufführen, schlecht und langweilig und des Auspfeifens werth sei, liege es an den Coulissen! Thut eure verfluchte Schuldigkeit und nehmt es ernst mit eurer Rolle, und diese Bretter, die eure Welt bedeuten, werden euch nicht unter den Füßen brennen, daß ihr nicht eilig genug wieder herunter kommen könnt. 20

»Aber wohin gerathe ich? Gute Nacht, mein Weib, meine liebste Menschenseele. Ich melde dir, sobald Mohr sich eingestellt hat, wohin wir uns wenden. Ich hoffe ihn überreden zu können, daß er dir einen Gegenbesuch schuldig ist. Glaube nur, wenn ich mich nicht schämte, wäre ich morgen schon wieder bei dir, oder vielmehr, da ich nicht einsehe, warum ich mich schämen soll, das Leben ohne dich unhold und unerquicklich zu finden, so wisse: wenn morgen statt des Freundes ein Absagebrief kommt, wird mich alles Kopfschütteln unseres Doctors nicht abhalten, übermorgen schon dir an den Hals zu fliegen.«

Edwin.

»Gruß an unsere Nachbarn. Frau Reginchen werden die Ohren geklungen haben, so viel habe ich von ihr und ihrer jungen Brut erzählen müssen.« 21



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