Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.

Der Tag war ein Sonntag. Erst die Glocken, die um neun Uhr zur Kirche läuteten, weckten den Schläfer. Er schien sich nur langsam darauf zu besinnen, wie er in sein Bett gekommen, und daß er nun wieder zu Hause war. Eine helldunkle, träumerische Stimmung, in der er wenig sprach, aber still vor sich hin lächelnd und dann wieder wie suchend um sich sah, ging ihm noch lange nach. Er wollte, daß Lea beständig um ihn sei, suchte sie in der Küche auf, um sie mit allerlei Scherzen wieder in die Wohnstube zu holen, und wanderte dann lange mit ihr auf und ab über die sauberen Dielen, den Arm traulich um ihren Hals gelegt, dann und wann seinen Kopf an den ihren lehnend, wobei er nach Diesem und Jenem fragte, ohne auf die Antwort sonderlich zu achten. Auch auf die Ueberraschung, die sie ihm zugedacht, kam er zu sprechen. Es sei Nichts damit, sagte sie, indem sie sich sanft von ihm losmachte. Das Herz war ihr schwer von verhaltenen Thränen; sie fühlte ein unbesiegliches Widerstreben, zugleich einen bitteren Schmerz darüber, daß sie das nicht über die Lippen 223 bringen konnte, worauf sie sich so gefreut hatte. Sie sah, daß er nur halb bei ihr war, oder vielmehr, daß er mit allen Kräften seiner Seele danach rang, wieder zu ihr zurückzukehren, und es doch noch nicht ganz zu Stande brachte. Und sie sollte ihm sagen, was ihn zu jeder andern Zeit so innig beglückt haben würde und – jetzt vielleicht nur mit einem zerstreuten Lächeln ihr gedankt worden wäre? All ihr Frauen- und Mutterstolz lehnte sich dagegen auf.

Als Mohr endlich kam, fand er sie noch beim Frühstück. Er setzte sich dazu, bat um die Erlaubniß, sich seine Cigarrette drehen zu dürfen, und brachte die beklommene Stimmung bald auf einen freieren Ton. Das Erste, was er that, war, daß er das versprochene Bildchen des jungen Mohr aus der Tasche zog und Lea überreichte.

Ich zweifle keinen Augenblick, sagte er, daß Edwin mich als den Narren von Vater Ihnen geschildert haben wird, der ich in der That zu sein die Ehre und das Vergnügen habe. Freunde sind groß im Carikiren. Auch habe ich ihm damals angesehen, daß er mir nur aus Höflichkeit nicht ins Gesicht lachte, als ich ihm die Talente und Tugenden dieses Knaben schilderte. Nun, qui vivra verra. Einstweilen hören Sie, was meine Frau über die Art schreibt, wie er meine Abwesenheit auffaßt. Ich habe so eben diesen Brief auf der Post abgeholt; es stehen auch für Sie die zärtlichsten Grüße darin.

Er las nun den Brief, der ein genaues Protocoll 224 über die verschiedenen klugen und naiven Aeußerungen des kleinen Hausgötzen enthielt. Edwin hörte mit stummem Kopfnicken zu, Lea dagegen ging mit lebhafter Bewunderung darauf ein, was den alten Freund höchlich zu beglücken schien.

Liebe Freundin, sagte er, Sie haben unglaublich viel Menschenkenntniß, weit mehr, als jener schnöde Skeptiker da. Wenn Der seinen Vortheil verstünde, ließe er gewisse Kapitel seines großen psychologischen Werkes von Ihnen bearbeiten. Ich bitte Sie nur um ein Blättchen Papier und Dinte und Feder. Ich will an meinen Herrn Sohn eine Epistel verfassen, damit wir nicht aus dem Rapport kommen.

So that er wirklich, an Edwin's Pult stehend und dazwischen nach seiner Manier mit den Freunden plaudernd. Als Lea einmal hinausgegangen war, fragte er hastig: Sie weiß schon Alles?

Alles.

Und wie hat sie's aufgenommen?

Wie du siehst. Sie ist ein Engel – nein, etwas Besseres: ein starker, redlicher, guter, vornehmer Mensch. Weißt du, Heinz, daß ich heut den Gedanken nicht los werden kann: sie hätte ein besseres Glück verdient, als zum Mann einen Besessenen, der so jämmerlich wehrlos ist gegen gewisse Hexenkünste?

Wehrlos? Nun das gesteh' ich! Wir setzen uns ja mit Händen und Füßen zur Wehre.

Ja wohl! Wir räumen das Feld. Vorsicht ist der bessere Theil der Tapferkeit. O Heinz, mir ist miserabel 225 zu Muth nach dieser Heldenthat! Und jetzt, meiner lieben, stillen Dulderin ins Gesicht, die mit keiner Klage, keinem Blick des Vorwurfs –

Still! Sie kommt wieder. – So!»Dein dich liebender Vater.« – Nun bin ich begierig, ob er schon einen Begriff davon hat, wie es kommt, daß der Papa mit ihm schwatzt, da er doch nicht bei ihm ist. Wollen wir den Brief in den Kasten werfen und dann Frau Reginchen unsere Huldigung bringen?

Sie verließen zu Dreien das kleine Haus und durchschlenderten erst die sonntäglich stillen Gassen. Niemand, der Lea an Edwin's Arm dahinschreiten sah, hätte geahnt, welche tiefe Schatten sich so plötzlich auf ihr sonniges Leben gelagert hatten.

Aber der kleinen blonden Frau im Nachbarhause entging es nicht einen Augenblick. Sobald die erste Begrüßung vorüber war, bei der auch Papa Feyertag nicht fehlte, zog das Reginchen Lea beiseit; sie fragte, was Edwin zu der großen Neuigkeit gesagt habe, und erschrak sehr, als sie hörte, er wisse noch kein Sterbenswort. Er sei so ermattet heimgekehrt, daß die schönste Freude an ihm verloren gewesen wäre. und heute früh habe Mohr's Besuch es nicht dazu kommen lassen. Das Reginchen schwieg ganz still. Obwohl sie, wie wir wissen, nicht viel »Bildung« hatte, war sie doch mit ihrer feinen Natur sofort im Klaren darüber, daß sich hier unliebsame Dinge ereignet, die ihr vorläufig nicht vertraut werden sollten. Sie war froh, als Reinhold mit Mohr in die Kinderstube kam und nun die Musterung der jungen Brut 226 begann. Lachen mußte sie und stieß ihren Liebsten heimlich an, als der Vater des bedeutenden Knaben sich unverkennbar die beste Mühe gab, auch den Zwillingen und dem sanften Riekchen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, doch aber mit einer herablassenden Milde, wie etwa ein Krösus einem Manne gratulirt, der hundert Thaler in der Lotterie gewonnen hat.

Er mußte dann mit Franzelius die Druckerei, die Lagerräume, das Haus bis in die letzten Winkel besehen, wobei der Schwiegervater den stummen Dritten machte. Edwin war allein vor die Stadt gegangen und kam erst um Mittag zurück, da sie Alle von Reginchen zum Essen geladen waren. Bei diesem freundschaftlichen Mahl ging es nicht übermäßig laut und lustig zu. Der alte Feyertag sprach kein Wort und schien mit seinem Eidam zu schmollen, der nicht that, als ob er es bemerke, jedoch trotz der festlichen Gelegenheit seiner schweigsamen Art nicht untreu wurde. Edwin saß neben Lea, gegen die er sich beständig zärtlich und heiter bezeigte, aber immer noch wie von einem Traum umsponnen, halb abwesenden Geistes, was die feinhörige Seele zuletzt so drückend empfand, daß sie mitten vom Tische weggehen und sich draußen rasch einmal ausweinen mußte. Sie schützte, als sie mit trüben Augen wiederkam, ihre plötzliche Migräne vor, von der sie freilich seit Jahren nichts mehr zu leiden gehabt hatte.

Der Einzige, dessen Stimmung in hohen Wogen ging, war Heinrich Mohr. Ihm war es auch zu danken, daß, als man Abends in Edwin's Hause sich wieder 227 zusammenfand, wenigstens zu Anfang eine frischere Luft durch den kleinen Kreis wehte.

Bei dem Spaziergang nämlich, den die Männer nach Tische um die Stadt machten, hatte er, während Reinhold mit Edwin vorausging, denselben melancholischen Eröffnungen des alten Herrn Gehör geben müssen, mit denen dieser gestern Abend bei Lea kein sonderliches Glück gemacht hatte. Mohr dagegen faßte die Sache beim rechten Zipfel an und war Psychologe genug, mit dem Uebel zugleich das Heilmittel zu erkennen.

Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, werther Herr Feyertag, sagte er, nachdem er den Traum von der Armee der Schuh' und Stiefel mit großem Ernst sich hatte erzählen lassen. Ihre Gemüthsverfassung ist mir höchst interessant, um so mehr, als ich ganz ähnliche Krisen in mir selbst durchgemacht habe.

Sie, Herr Mohr? Sie spaßen.

Durchaus nicht, Verehrtester. Wenn Sie Ihr Lebtag nur für die Füße gesorgt haben, so habe ich die schönsten Jahre meines Lebens damit verschwendet, bloße Köpfe zu machen, nämlich Notenköpfe, und freilich auch recht artige Schwänze daran; aber das Beste fehlte: Hand und Fuß wollten die Spitzbuben nicht kriegen. Sehen Sie, lieber Herr und Freund, ich bin jetzt dahinter gekommen, woran das liegt, und bei Ihnen, wenn ich nicht irre, hat es den nämlichen Haken: wir sind zwei mittelmäßige Menschen, Herr Feyertag. Früher verdroß mich das sehr, und eine schöne Abhandlung, die mir einmal Papa Zaunkönig darüber hielt, daß es auch 228 solche Käuze geben müsse, war gänzlich an mir verloren. Seitdem bin ich etwas klüger geworden. Es ist allerdings fatal, daß wir nichts Besonderes sind und nur so zum Gros gehören, nur so mithelfen, Masse zu machen und den Humus zu bereiten, der dann die eigentlichen hervorragenden Menschengewächse nährt. Aber sehen Sie sich in der Natur um: ist es nicht überall dieselbe Geschichte? Auf Eine tausendjährige Eiche kommen hunderttausend niedrige Knorren, die verfaulen oder verwittern, damit jene historische Repräsentantin der Gattung zu einer ungewöhnlichen Größe heranwachsen kann. Wenn wir uns darüber grämen oder ärgern oder beklagen wollen, so steht uns das natürlich frei. Schade nur, daß gar keine Behörde da ist, bei der wir unsere Beschwerde anbringen könnten. Es hilft nichts, bester Herr, und darum schadet es nur, zunächst uns selbst, da es uns das Blut ansäuert und den Wein vergiftet, und dann unseren Nebenmenschen, denen wir mit unserem Mißvergnügen ihr eigenes bischen Spaß verderben.

Aber der Fortschritt, Herr Mohr, das Streben nach dem Höheren, was man Propaganda nennt –?

Mohr blieb stehen. Wie alt sind Sie jetzt, werther Freund und Gönner? fragte er, indem er aus dem Kornfelde, an dem sie eben hingingen, eine überreife Aehre ausriß.

Neunundfünfzig, Herr Mohr.

Ein schönes Alter, Herr Feyertag, und Sie werden es hoffentlich noch viel höher bringen. Und wie groß sind Sie jetzt – ich meine in Fußen und Zollen? 229

Fünf Fuß drei Zoll, Herr Mohr.

Und glauben Sie, daß Sie noch wachsen werden?

Ich? Mit meinen Neunundfünfzig?

Nun, aber wenn Sie doch gerne möchten, wenn Sie das Streben in sich fühlen, irgend einen Flügelmann über die Achsel anzusehen?

So dumm werd' ich doch nicht sein, Herr Mohr, so was noch zu prätendiren! Aber wenn ich fragen darf –

Warum sollen Sie nicht fragen dürfen, bester Herr? Ich habe Sie ja bloß gefragt, damit Sie fragen möchten. Man nennt das die sokratische Methode. Sehen Sie, Werthester, so wenig Sie jetzt noch leiblich in die Höhe wachsen werden, so wenig wird es mit allem Streben nach dem Höheren Ihnen gelingen, Ihrer geistigen Statur noch eine Elle zuzusetzen. Wir sind von mittlerer Größe, Herr Feyertag, und können allenfalls noch in die Breite gehen, so etwas Fett von Kenntnissen und kleinen Künsten ansetzen, aber das Skelett ist fertig und damit holla! Sie – wenn Sie sich mit mir vergleichen – Sie sind noch immer im Vortheil. Sie sind zwar als Mensch nichts Besonderes, aber als Schuhmacher ein gelernter Meister. Ich dagegen – wenn ich nicht das Glück hätte, als Durchgangspunkt für ein besseres Exemplar zu dienen, gleichsam als Generalprobe für das eigentliche Stück – ich würde aus der Welt gehen, ohne die Nothwendigkeit begriffen zu haben, weßhalb ich überhaupt existiren mußte. Aber sei dem wie ihm wolle, auch wir Unteroffiziere und Gemeine in der großen Armee der Menschheit können uns tapfer halten 230 und Ehre davontragen, und Sie insbesondere, Herr Feyertag – ein Mann in den besten Jahren, mit Vermögen, Sinn und Verstand, – wissen Sie, was ich thäte an Ihrer Stelle?

Was, Herr Mohr?

Ihre liebe Frau will nicht aus Berlin weg. Nun gut, so schlagen Sie ihr einmal vor, Berlin selbst mit ihr zu entdecken.. Gehen Sie jeden Morgen nach dem Frühstück mit ihr aus und besehen irgend Etwas, das Zeughaus, das Museum, kurz, was jeder Engländer sich zeigen läßt, und Abends ins Theater oder in den zoologischen Garten oder was Ihnen sonst gerade pläsirlich scheint. Man kann auch vorwärts kommen, wenn man sich bloß in seinem Kreise tüchtig herumbewegt und die Augen dabei aufmacht. Auf die Art werden Sie von dem Höheren mit der Zeit genug wegkriegen und bleiben nebenbei, was Sie sind, ein Mann, der sein Handwerk aus dem Grunde versteht, und pfuschen nicht auf Ihre alten Tage in das socialpolitische Métier hinein, wo es schon allzu viele Pfuscher giebt, und wo doch nur die souveränen Köpfe aus und ein wissen.

Hm! erwiederte der Meister, das läßt sich hören, das ist eine ganz räsonable Präposition. Mutter wird zwar nicht heranwollen, aber dafür bin ich Herr im Hause, und wenn sie nur erst drin ist – in so 'nem Museum, mein' ich – einen anschlägigen Kopf hat sie immer gehabt und gar keinen schlechten Geschmack. Ich merke, worauf Sie zielen, Herr Mohr: Propaganda ist gut, aber wo man keine Vorstellung davon hat, da hilft 231 auch der Wille nichts, und daß ich noch einmal mit grauen Haaren, wie ein Geselle, der auf die Wanderschaft geht – aber apropos, mein Schwiegersohn – was halten Sie denn von Dem? Soll Der sich auch schon im Kreise herumdrehen und nur Fett ansetzen? Halten Sie Den auch für einen mittelmäßigen Menschen, wie wir Beide sind?

Herr Feyertag, sagte Mohr mit ganz unbeweglichem Gesicht, wissen Sie nicht, daß jeder kluge Arzt sich in Acht nimmt, seine Meinung zu äußern, ob Jemand leberkrank oder schlagflüssig sei, wenn er nicht eigens von dem Patienten consultirt worden ist? Sie haben mich ausdrücklich über Ihr Leiden zu Rathe gezogen, und ich habe Ihnen meine ehrliche Meinung gesagt. Ueber dritte Personen, zumal wenn sie meine Freunde sind, äußere ich mich grundsätzlich nie und bin gern bereit, Jeden für einen großen Mann zu halten, bis der Beweis des Gegentheils unwiderleglich geliefert worden ist. 232



 << zurück weiter >>