Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Siebentes Kapitel.

Nicht eine Zeile an ihn hatte sie zurückgelassen, nicht einen Zettel mit einem Gruß, wenn es denn zu viel Freundschaft war, zu sagen: ich gehe, aus den und den Gründen, da und dahin. So wenig galt er ihr, so ganz unempfindlich war sie für das, was er bei ihrem plötzlichen Verschwinden fühlen mußte! Kein Nomade, der sein Zelt abbricht, verläßt seinen Lagerplatz, ohne einen Blick nach der Feuerstelle zu werfen, an der er sein Mahl bereitet, nach der Quelle, die ihn erfrischt hat, wenn er auch weiß, er findet die wohlthätigen Elemente überall wieder. Und ihn, den sie doch »Freund« genannt –! Welch eine schauerlich kühle Seele, die das Beste so gering schätzen, die uneigennützigste Hingebung so leichtmüthig im Stiche lassen kann, wie ein Fläschchen mit Wohlgeruch, der die Sinne angenehm umspielt, aber in jeder Krambude zu kaufen ist.

Und an ein Wesen von so untiefem Gemüth, so unherzlichem Herzen hatte er sein Sinnen und Denken seit Wochen verschwendet; ja seine Schmerzen, jetzt, wo er entschlossen war, sich von ihr loszureißen, sagten ihm 313 nur zu deutlich, daß es mit dem bloßen Entschluß noch lange nicht gethan sei. Je heftiger er sie anzuklagen sich bemühte, je siegreicher stand das Bild der gescholtenen Freundin, mit ganz argloser Miene, die schwarzen Augen mit ihrem letzten ernsthaften Blick auf ihn gerichtet, vor seiner Phantasie, und er merkte endlich, daß er sie nur schalt, um einen Vorwand zu haben, sich fort und fort mit ihr zu beschäftigen. Er schloß endlich eine Art Waffenstillstand mit seinem leidenschaftlichen Kummer. Es war immer noch möglich, daß sie erst schreiben wollte, wenn sie zur Ruhe gekommen wäre. Hatte sie nicht auch noch ein Buch von ihm, den Daumer'schen Hafis, aus dem er ihr zuletzt bei Tische vorgelesen? Freilich, sie mochte glauben, er habe es ihr geschenkt, wie die kleine Ausgabe von Hermann und Dorothea. Und wenn nicht, was konnte sie der Besitz eines geliehenen Büchleins beunruhigen, da sie gewohnt war, auch Herzen nicht zurückzugeben, in denen sie nur ein paarmal geblättert hatte?

Zum ersten Mal kam er zu Balder, ohne ihm Alles zu sagen, was ihn beschäftigte. Nur daß sie die Wohnung aufgegeben, berichtete er. Sie werde ihm ja wohl anzeigen, wo er sie nun zu suchen habe. – Balder schien über diese Neuigkeit nicht sehr betrübt. Er hütete sich, es zu sagen, aber im Herzen wünschte er fast, dies Abenteuer möchte damit sein Ende gefunden haben. Denn es war ihm, nach Allem, was Edwin selbst von ihr erzählte, immer fraglicher, ob diese Leidenschaft, die den ernsten, selbstgewissen Menschen so widerstandslos gemacht, ihn jemals für alle Opfer seiner Ruhe 314 entschädigen würde. So gern er gewollt hätte, konnte er doch kein Herz zu dem seltsamen Wesen fassen. Was er selbst liebenswürdig fand, war in Allem das Widerspiel dieser blendenden Erscheinung. Er verschwieg das aber; denn er fühlte wohl, daß reden umsonst gewesen wäre.

Während du fort warst, ist ein Briefchen von der Professorin Valentin gekommen, sagte er. Der Zaunkönig selbst hat es unten im Laden abgegeben.

Edwin öffnete es zerstreut und las. Es enthielt die Bitte, womöglich noch im Laufe des Tages sie zu besuchen, da sie in einer wichtigen Angelegenheit mit ihm zu reden habe.

Er warf das Blatt wieder hin, nahm einen Band eines naturwissenschaftlichen Werkes und fing an zu lesen. Balder, der fleißig an seiner Drechselbank war – er hatte Gründe, fleißig zu sein, da es in der letzten Zeit, ohne daß Edwin darauf achtete, um ihre Kasse sehr mißlich stand – sah wohl, daß er nicht ein einziges Mal das Blatt umwendete. Er wagte aber nicht, ihn aus seinen Gedanken herauszureißen. Was hätte er ihm sagen sollen, das ihm tröstlich gewesen wäre.

So wurde es Abend. Das Billet der Professorin schien vergessen zu sein. Erst als Balder daran erinnerte, riß sich Edwin in die Höhe und sagte, er wolle das noch abmachen. Er sei begierig, was ihm Wichtiges von dieser Seite kommen könne.

So ging er, mit einem trockenen »Adieu!« Er pflegte Balder sonst, wie wir wissen, nie ohne einen 315 Scherz oder eine brüderliche Liebkosung zu verlassen. Der Bann der Schwermuth war aber zu mächtig über ihm.

Seit jenem ersten Besuch hatte er die liebenswürdige Dame nur ein paar Mal flüchtig im Atelier des Zaunkönigs gesprochen, wo sie gewöhnlich gleich das Feld räumte, wenn er zur Stunde kam. Sie schien ihm sehr freundlich gesinnt, mit einer mütterlichen Heiterkeit, die ihn manchmal, wenn sie ihren besonders anmuthigen Tag hatte, an seine eigene Mutter erinnerte. Um so mehr fiel es ihm auf, daß sie ihm heute mit sorgenvollem Ernst und einer gewissen Förmlichkeit entgegenkam.

Lieber Herr Doctor, sagte sie, ich habe Sie um Ihren Besuch gebeten, weil ich eine recht ängstliche Herzenssache mit Ihnen zu besprechen wünschte. Wissen Sie, daß Sie mir eine schlaflose Nacht gemacht haben?

Sie sind zu gütig, lächelte er.

Ich meine es ganz im Ernst. Ich müßte Sie weniger schätzen, wenn es mir gleichgültig sein sollte, was ich von Ihnen zu denken habe. Sagen Sie mir, ist es denn wahr? Sind Sie wirklich der Verfasser des Aufsatzes hier, oder haben Sie einen Namensvetter, für dessen Gesinnungen Sie nicht verantwortlich sein können?

Sie nahm ein grünes Heft aus ihrem Schreibtisch, das sie sorgfältig darin verschlossen hatte. Es war eine Nummer eines philosophischen Journals, bei dem Edwin seit einigen Jahren als ein zwangloser Mitarbeiter gern gesehen war.

So viel ich weiß, erwiederte er scherzend, haben meine Eltern nur Einen Sohn Edwin gehabt, der sich 316 auf die Philosophie verlegt. Lassen Sie doch einmal sehen. »Kritik der Beweise für das Dasein Gottes.« Allerdings ist das von mir. Die Fortsetzung sollte folgen. Sie ist mir in der Feder stecken geblieben über meiner thörichten Preisschrift.

Er legte das Heft auf den Tisch und sah jetzt seine Gönnerin an, die mit dem herzlichsten Ausdruck theilnahmvoller Bestürzung vor ihm saß.

Also wirklich! sagte sie. Und diese Ansichten, diese Grundsätze – Sie sind noch jetzt nicht davon zurückgekommen?

Ich weiß nicht, von welchen Grundsätzen Sie sprechen, gnädige Frau. So viel ich mich entsinne, enthalte ich mich jeder eigenen Hypothese und beschränke mich einzig auf eine kritische Untersuchung der Ansichten, die Andere aufgestellt haben.

Freilich! So sieht es aus! Aber wer so kaltblütig die logischen Beweise für eine ewige Wahrheit zergliedern und, nach seiner Meinung, vernichten kann, darf man dem auch nur den Wunsch und die Hoffnung, geschweige die Ueberzeugung zutrauen, diese Wahrheit bestehe dennoch, so schwer es auch sein möchte, Gründe für sie zu finden, Beweise, die ihr unwiderlegliches Dasein auch für den Verstand unumstößlich machten?

Ich könnte das für ein Lob meines Aufsatzes nehmen, sagte er, wenn es auch im Munde einer Frau natürlich das Gegentheil bedeutet. Bei den Männern der Wissenschaft gilt eine Untersuchung für um so zuverlässiger, je weniger Spuren sie trägt, daß ihr Autor 317 mit dem Wunsch, ein bestimmtes Ergebniß zu finden, oder gar mit einer vorgefaßten Ueberzeugung an die Arbeit gegangen sei. Zumal in meiner Wissenschaft wäre man weiter, wenn nicht Leidenschaft und Vorurtheil selbst bei ihren Meistern den reinen Spiegel der Erfahrung und die Klarheit der denkenden Betrachtung getrübt hätten.

Noch weiter? rief die lebhafte Frau und ließ beide Hände wie in plötzlichem Entsetzen in den Schooß sinken. Aber mein Gott, wohin wollen, wohin können Sie denn noch gelangen, nachdem Sie glücklich schon beim absoluten Nichts angekommen sind?

Und wenn ich mir nun zu beweisen getraute, sagte er lächelnd, daß dieses Nichts gerade so fruchtbar ist, wie jenes andere Nichts, aus welchem, wie uns fromme Männer versichern, Gott die Welt geschaffen? Aber ich will hier gar nicht zu philosophiren anfangen. Selbst wenn ich Hoffnung hätte, so in einem kurzen Plauderstündchen Ihnen das nahe zu bringen, woran ich die Arbeit eines Lebens gesetzt habe, selbst dann würde ich lieber schweigen. Sie sind einig mit sich selbst – was können Sie Besseres wollen? Ich selbst, der ich andere Bedürfnisse habe, ein anderer Mensch bin, auch ich bin einig mit mir. Wollen wir es dabei nicht bewenden lassen, daß Jeder den Andern in seinen Grenzen, in seiner eigensten Denk- und Gefühlsweise respectirt? Wozu die Unterschiede ans Licht zerren, über die man sich nie verständigen wird, statt sich des Gemeinsamen zu freuen, das sich so schön von selbst versteht? Es ist so leicht zu streiten, und so schwer sich wieder zu vertragen. 318

Sie halten mich für intolerant, erwiederte sie lebhaft, und ihr hübsches, zart gefärbtes Gesicht röthete sich leicht. Aber mein Schöpfer weiß, ich bin es nicht. Ich glaube zuversichtlich: in unseres himmlischen Vaters Reich sind viel Provinzen. Ich ehre jede echte, tiefe Ueberzeugung, ob sie auch von der meinigen himmelweit unterschieden sei. Meine beste Freundin, Lea's Mutter, war eine Jüdin. Mein täglicher Besucher und Hausfreund, der Candidat –

Herr Lorinser? unterbrach sie Edwin trocken. Ja so, nun verstehe ich!

Was?

Es ist sehr unwichtig; ich kenne meine Leute auch so. Es giebt nämlich Menschen, denen es eine besondere Freude macht, als Denuncianten zu figuriren, natürlich zur größeren Ehre Gottes, der christlichen Liebe und der ewigen Wahrheit.

Sie thun ihm Unrecht; allerdings hat er mir Ihren Aufsatz gebracht, aber in Folge eines Gespräches, in welchem ich zugeben mußte, daß ich über Ihren Standpunkt völlig im Unklaren und auch aus Lea's sehr zurückhaltenden Aeußerungen nicht klüger geworden sei. Glauben Sie nicht, daß ich gegen die Schwächen und großen Fehler dieses ungewöhnlichen Menschen blind sei. Auch theile ich durchaus nicht seine überspannten mystischen Ansichten. Aber selbst seine Irrthümer, die aus einem glühenden Herzen entspringen, sind mir ehrenwerther, oder um mich richtiger auszudrücken, sympathischer, als – 319

Als das ehrliche Bekenntniß eines Menschen: über gewisse Dinge nichts zu wissen?

Wenn es das allein wäre! Aber wer nichts weiß, oder von dem, was Allen, die nach Erkenntniß dürsten, offenbart worden ist, nichts wissen will, muß er sich ein Geschäft daraus machen, Denen, die da wissen, oder zu wissen glauben, ihre Gewißheit zu erschüttern, ihnen den Boden, auf dem sie stehen, wankend machen zu wollen?

Wenn er ernstlich glaubt, der Menschheit damit zu dienen, warum soll er nicht thun, was er für heilsam hält? Ich freilich, ich würde mich dieses Geschäfts nicht unterwinden. Ich habe nicht das Temperament dazu, nicht die humane Zudringlichkeit, noch alle die andern Eigenschaften, die zum Bekehrer nöthig sind.

Sie nicht? Und diese Ihre Abhandlung –

Ist wahrlich nicht für Die geschrieben, die da wissen oder zu wissen glauben, sondern für Solche, die gleich mir die Wahrheit noch suchen, vielleicht zweifeln, ob es überhaupt je möglich sein werde, zu wissen, und einstweilen die Grenzen zwischen Wissen und Glauben zu berichtigen für eine Arbeit halten, die beiden Gebieten zu Gute kommen müsse.

Nein, sagte sie, indem sie plötzlich aufstand, so kommen wir nicht weiter. Sie sind mir an dialektischer Feinheit und Gewandtheit überlegen, und ich sehe, es ist nur ritterlich von Ihnen, wenn Sie den Streit vermeiden wollen. Antworten Sie mir nur schlichtweg auf eine einzige Frage: ist es wirklich wahr, Sie haben nicht nur keinen Gott, weder den geoffenbarten, noch den anderer 320 Philosophen, – Sie haben auch nicht einmal einen Schmerz darüber, nicht das Gefühl des Mangels, der trostlosen Oede und Verlassenheit, wenn Sie sich in einer Welt umsehen, aus der Ihnen der Athem eines persönlichen Schöpfergeistes entschwunden ist?

Und wenn ich wirklich weder Schmerz noch Mangel fühlte und die Welt trotz alledem nicht trostlos fände?

Sie sah ihn mit einem so aufhorchenden Blick an, als müsse sie sich über das Gewicht einer solchen Antwort erst ganz ins Klare bringen. Ihre Augen wurden feucht, sie trat einen kleinen Schritt zurück und sank auf den Stuhl, der beim Sopha stand.

Sie armer, armer Mensch! sagte sie.

Gnädige Frau, versetzte er lächelnd, zwar sind wir übereingekommen, nicht zu philosophiren. Aber auch beim bloßen Plaudern darf ja wohl Einer den Andern an Widersprüche erinnern, in die er sich verwickelt hat. Arm scheint Ihnen Der, der Ihnen eben erklärt, daß er keinen Mangel fühle, keinen Trost bedürfe? Aber sehen Sie wohl, wie übel es mit der Toleranz steht, deren Sie sich gerühmt haben? Sie lassen jedes Bekenntniß gelten, nur das nicht, daß man nichts zu bekennen habe, was einem Credo ähnlich sieht. Der Jude, der Muselmann, der Feueranbeter, der Fetischdiener, der einen Klotz oder Stein für seinen Gott ansieht – alle scheinen Ihnen ehrwürdig und keiner so arm, wie ein redlicher Wahrheitssucher, der in die Natur und sein eigenes Innere blickt und die überschwänglichen Wunder und Zeichen, die er dort gewahrt, nicht erklärt zu haben meint, wenn 321 er eine Formel dafür braucht, die Alles und Nichts bedeutet. Kann Ihnen wirklich daran liegen, daß ich dasselbe Wort ausspreche, wenn es mir etwas ganz Anderes ausdrückt? Fühlen Sie sich jenem Götzendiener verwandt, weil er dem Klotz in seiner Sprache einen Namen giebt, der Ihnen in der Ihrigen den Schöpfer Himmels und der Erden bedeutet? Würden Sie nicht zu ihm, obwohl Sie seine Ueberzeugung ehren mögen, doch vielleicht mit größerem Rechte sagen: Armer, armer Mensch! –?

Selig sind, die da arm an Geist sind! erwiederte sie. Sie werden freilich das Wort nicht gelten lassen. Aber das leugnen auch Sie gewiß nicht, daß jedes religiöse Gefühl aus dem Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit entspringt, daß Der, dem nichts mangelt, der sich selbst genug ist, auch das Beste nicht kennt: die Hingebung an etwas Höheres, Reicheres, Mächtigeres – an das Höchste und Erhabenste, das wir eben Gott nennen. Und so steht der Fetischanbeter gleichwohl meinem Gemüthe näher, als der Atheist. Er theilt mit mir das menschliche Bedürfniß, anzubeten, sich vor etwas Uebermächtigem, Unerforschlichem zu beugen. Kann er dafür, daß seine Vorstellungen von dieser dunklen Macht so eng und trübe sind, daß er, um nur Etwas verehren zu können, vergißt, er selbst habe sich diesen Götzen geschnitzt?

Gewiß nicht, erwiederte Edwin ernst. So wenig Sie dafür können, daß Sie einen Gott anbeten, den Sie sich geschnitzt haben, oder vielmehr von Anderen haben schnitzen lassen. O meine verehrte Freundin, 322 nehmen Sie es mir nicht übel, aber der Unterschied zwischen der armen Puppe, die jener Südsee-Insulaner für den Weltschöpfer hält, und jenem Gott unseres landläufigen Christenthums scheint mir nicht so gar groß, um viel Aufhebens davon zu machen. Sind nicht Beide nach unserem Bilde geschnitzt, der Eine roher, der Andere feiner, Jener behängt mit barbarischem Putz und mit schreienden Farben bemalt, Dieser je nach unserem Zeitgeschmack mit mehr oder weniger Kunst und phantastischem Aufwande, immer aber ein Werk unseres Geistes? Ich rede nicht von jenen wahrhaft Armen, die auch Sie schwerlich selig sprechen und für Ihr Himmelreich besonders befähigt halten werden: von Jenen, die unter den Formeln des Christenglaubens den rohesten Götzendienst, die platteste Bilderverehrung treiben. Aber selbst die Erleuchtetsten, die Geistigsten, die es mit dem Schriftwort »Gott ist ein Geist« am ernstlichsten nehmen, wie bilden sie sich diesen Geist aus oder ein? In heiligem Eifer tragen sie Alles in ihn hinein, was ihnen an ihresgleichen ehr- und liebenswürdig scheint. Und dieses Gedankenwesen, das sie nach ihrem eigenen Bilde geschaffen und nur noch mit den gedankenlos zusammengerafften Attributen der Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart ausgestattet haben, diesen Gottmenschen oder Menschengott setzen sie auf einen Thron irgend wohin, geben ihm die Welt als Reichsapfel und den Blitz als Scepter in die Hand und sind nun völlig überzeugt, daß er in vollster Kraft und Herrlichkeit die Sterne lenken und die Geschicke der sterblichen Menschen mit Gnade und Gerechtigkeit verwalten werde. 323 Und dabei gehen die Leiden der Welt ihren Gang, das Böse regiert und die Ungleichheit der Güter und Gaben besteht, und der Allgütige, Allwissende, Allgerechte und Allmächtige rührt nicht den kleinen Finger, Wandel zu schaffen; seine eifrigsten Anhänger müssen zu sehr gemeinen irdischen Zwangsmitteln greifen, um das Weltwesen nur nothdürftig in den Fugen zu halten; wo aber auch das nicht ausreicht, wo das Ganze den Einzelnen nicht hinlänglich schützen kann, gilt der uralte, höhnische Trost: Hilf dir selbst, so wird dir Gott helfen! Also doch wieder wir selbst? Also doch unsere Kraft, unser Geist, unser guter Wille? Und man verdenkt es ernsthaften Menschen, die gegen das widerspruchsvolle Geschichtchen von der Weltregierung eines nach menschlichen Begriffen gütigen, gerechten Gottvaters ihre Bedenken haben, wenn sie damit Ernst machen, sich auf eigene Hand durch die Welt zu helfen und dabei zu versuchen, ob sie sich den Zusammenhang der Dinge nicht auch ohne Kindermärchen zu reimen vermöchten?

Er war aufgestanden und ging in wachsender Erregung durchs Zimmer.

Sie schütten das Kind mit dem Bade aus, wandte sie kopfschüttelnd ein. Wer leugnet das Unvollkommene unserer Vorstellungen von dem höchsten Wesen? Wer behauptet, mit unseren menschlichen Bildern und Gleichnissen seine wahre Natur bezeichnen zu können? Das sind alles nur Nothbehelfe, gewissermaßen Flugmaschinen, um uns, da uns hier auf Erden die Flügel versagt sind, so nahe als möglich zu ihm emporzuschwingen. Wollen 324 Sie den armen Menschen, die im Staube dahinschmachten, diese Erquickung nehmen?

Ich? Sie vergessen immer wieder, daß ich Niemand seine Religion rauben will, Niemand, der sich begnügt, zu höheren Ansprüchen künstlich aufreizen und auf das hinlenken will, was mir ein Genügen giebt. Mögen sie doch so hoch sich schwingen, als sie wollen und können. Nur sollen sie auch den schlichten Fußgänger, der Schritt für Schritt die schroffen Pfade zu den Gipfeln hinaufklimmt, ruhig seines Weges gehen lassen und aus ihrem Luftballon keine Steine auf ihn werfen.

Wer thut das? Wer, der das Gesetz der Liebe, das heiligste unserer Religion, begriffen hat?

Er trat dicht vor sie hin und ergriff ihre Hand. Sie nicht, meine verehrte Freundin, sagte er lebhaft. Sie werden nicht aufhören, Denjenigen, der Ihnen gesteht, daß er in das »Wir glauben all' an Einen Gott« nicht mit einstimmt, in Ihr Gebet einzuschließen. Vielleicht werden Sie es nur vorziehen, nicht mit ihm umzugehen, wie man auch einen Aussätzigen, bei aller Nächstenliebe, nicht gerade zu seinem Gesellschafter erwählt. Aber fragen Sie sich, wie viele Ihrer Glaubensbrüder und -Schwestern heute schon in der Duldung so weit gediehen sind, daß sie nicht nur Jeden nach seiner Façon selig werden, sondern auch Diejenigen gelten lassen möchten, die überhaupt kein Verlangen nach der sogenannten himmlischen Seligkeit empfinden? die den Kreis ihrer Pflichten und Rechte, ihrer Mühen und Freuden hier auf Erden beschlossen sehen und nicht vollkommener, nicht wissender, nicht 325 unsterblicher zu werden begehren, als man es mit menschlichem Geist und Sinnen zu werden vermag? Noch immer ist das Wort »gottlos« das Härteste, was man einem Nebenmenschen nachzusagen weiß. Noch immer spricht man, wie von Menschlichkeiten, von Neid, Haß, Rachsucht und Tücke. Aber alle Nächstenliebe wird dem armen Nebenmenschen aufgekündigt, der bekennt, daß er sich von einem persönlichen Weltregierer nach menschlichem Zuschnitt keine Vorstellung machen könne, und das eine Wort »Atheist« genügt, um den friedlichsten Bürger, den edelsten Menschenfreund, den redlichsten Forscher ein für alle Mal zu brandmarken. Und wir sprechen vom Jahrhundert der Aufklärung! Wir rühmen uns unserer Gedankenfreiheit, unserer wissenschaftlichen Erfolge, und selbst Männer der Wissenschaft scheuen sich, in ihren Werken, die nicht einmal für die Massen bestimmt sind, ihre geheimsten Gedanken auszusprechen, um ihres Friedens, wenn auch nicht mehr ihres Lebens, sicher zu sein! Was ihre innigste Ueberzeugung ist, das raunen sie wie ein sündhaftes Geheimniß höchstens unter vier Augen Einzelnen ins Ohr, die sie genau geprüft und als geistesverwandt erkannt haben, während kindischer Unsinn, verbrecherische Dummheit sich offen auf allen Gassen spreizen darf und von schlauen Speculanten das Heiligste zu sehr irdischen Zwecken ausgebeutet wird!

Was soll ich Ihnen darauf erwiedern? sagte die Frau mit der Miene tiefer Bekümmerniß. Sie selbst sind edel und rein genug angelegt, um wenigstens ohne Gefahr für Ihre Menschenpflichten das läugnen zu dürfen, was wir Pflichten gegen Gott nennen. Aber die große 326 Mehrheit, die nicht menschlich fein empfindet, der die Andacht, die unbewußte Hingabe an ein Unerforschliches, ja, wenn Sie wollen, die Gottesfurcht ein nothwendiger Zügel ihres sittlichen Wesens ist, wollen Sie die so plötzlich auf sich selber stellen und die Verantwortung für Alles übernehmen, was dann geschehen möchte? Oder den edleren, den tiefer empfindenden Seelen, die ein Bedürfniß nach Heiligung in sich tragen, was haben Sie denen zum Ersatz zu bieten für das zerstörte oder doch getrübte Vertrauen auf die Liebe Gottes? Mein theurer Freund, wenn Sie je die hohe Wonne gekostet hätten, sich als ein Kind Gottes zu wissen, würden Sie das Unklare, das Kindlich-Beschränkte, das vielleicht für die reine Vernunft in dieser Vorstellung liegen mag, gern in den Kauf nehmen und es begreifen, daß man Die als gefährliche Neuerer, wo nicht als Feinde der Menschheit meidet und selbst zu unterdrücken strebt, die ihre Brüder um diesen Trost zu bringen drohen.

Ich begreife es, ich entschuldige es – und doch verlange ich, daß es aufhöre, erwiederte Edwin; denn in der That, die Gefahr, die von den Kindern der Welt den Kindern Gottes drohen soll, ist eine erträumte. Das Aergerniß, das wir geben, ist heutzutage sehr unschädlich. Kein in Ihrem Sinne religiös angelegter Geist wird es ertragen, sich die Welt ohne einen persönlichen Schöpfer zu denken. Keine Verführung kann stattfinden, wo nicht der Keim zum Abfall vorhanden war. Und um diese Unzuverlässigen oder gar Frivolen kann es Ihnen doch nicht so sehr zu thun sein, als um den allgemeinen 327 Frieden und um ein billiges Geltenlassen. Ich vermag die Zukunft nicht zu durchschauen; aber so viel ich ahne, wird nie eine Zeit kommen, wo alle Menschen sich mündig erklären und dieser sie beglückenden Kindschaft entwachsen werden, so wenig die politische Freiheit jemals das Bedürfniß Aller werden wird. Nur höre man endlich auf, Verschiedenheiten der Weltanschauung mit sittlichen Maßstäben zu messen, meine Fähigkeit und meine Bedürfnisse, mir Gott und Welt zurechtzulegen, mir ins Gewissen zu schieben, mich bürgerlich und menschlich zur Rechenschaft zu ziehen für Gedanken, die auf mein Handeln nur einen sehr mittelbaren Einfluß haben. Freilich, Das, was selbst die Freidenker des vorigen Jahrhunderts noch als unveräußerlichen Besitz der Menschheit anerkannten: die Ideen von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, auch das, wenigstens im populären Sinne, hat unsere rücksichtslos vordringende Forschung in Frage gestellt. Ich bin davon überzeugt, wie von meinem Dasein, daß die Zeit kommen wird, wo man es ehrlichen Kindern der Welt ohne Verdächtigung erlauben wird, sich auch dieser Dreieinigkeit zu entschlagen. Und an dieser Zukunft mitgearbeitet zu haben, ist es nicht immerhin des Schweißes der Edlen werth? Dann erst wird das Wort Toleranz seinen Sinn erfüllt haben; dann werden Gespräche, wie das unsrige, geführt werden können, ohne den leisesten Hauch von Heftigkeit oder Bitterkeit, der sich heute doch noch hie und da eingemischt hat, und für den ich zumal, als der Philosoph, der gelernt haben sollte, der Zeit Zeit zu lassen, meine verehrte Freundin aufrichtig um Entschuldigung bitte. 328

Er neigte sich zu ihr hinab, ergriff ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. Sie ließ es zerstreut geschehen, von einem Gedanken beschäftigt, für den sie noch nicht den Ausdruck finden zu können schien. Erst als er schon an der Thür war, sagte sie plötzlich:

Kennt Lea diese Ihre Ansichten?

Er blieb stehen. In dem Augenblick überkam ihn ein dumpfes Mißgefühl, das er sich nicht gleich zu deuten wußte. Wir haben bisher noch nie von diesen letzten Fragen gesprochen, sagte er, oder wie man in der Schule sagt: wir haben das noch nicht gehabt. Wir stehen noch bei den Griechen.

Aber wenn Sie so weit kommen, werden Sie ihr ganz unverhohlen sagen, wie Sie denken?

Ganz unverhohlen, wie ich es Ihnen gesagt habe. – Aber wenn ich es Ihnen nur aus Freundschaft, und weil Sie mich förmlich ins Gebet genommen, nicht verschwieg: meiner Schülerin gegenüber glaube ich damit sogar eine ernste Pflicht zu erfüllen. Sie bedarf das Alles, aus einem tiefen Zuge ihres Wesens, sie wird es zu verarbeiten, in ihr Blut zu verwandeln wissen. Könnten Sie so unduldsam, so mißgünstig sein, diesem trefflichen Mädchen etwas entziehen zu wollen, was ihr eine Wohlthat ist?

Sie schwieg einen Augenblick. Ich muß ganz offen gegen Sie sein, sagte sie dann, und eine liebenswürdige Verwirrung röthete ihr Gesicht. Mein alter Freund, Lea's Vater, hat mich gebeten, Sie um Ihr Glaubensbekenntniß zu befragen. Er hat ein Heft seiner Tochter gefunden, worin einzelne Aeußerungen und Sentenzen 329 ihn stutzig gemacht haben. Er selbst ist ganz ohne dogmatischen Eifer, wie ich Ihnen schon gesagt, aber ein echtes Kind Gottes, und nun erschrocken und betrübt, zu entdecken, daß seine einzige Tochter nichts anderes sein will, als was ihr Lehrer ist: ein rechtschaffenes Kind der Welt. Und darum –

Ich verstehe, unterbrach sie Edwin mit einem bitteren Lächeln. Sie brauchen nichts weiter zu seiner Entschuldigung zu sagen. Grüßen Sie mir den guten Herrn, der seinem Kinde nicht erlauben will, von der breiten Schüssel zu essen, weil ihm selbst der Schnabel danach gewachsen ist, seine Nahrung aus der engen Flasche zu holen. Wie ich das Mädchen kenne, wird auch sie ihre Nahrung finden, trotz dieser Bevormundung, wenn auch etwas mühsamer. Der Einzige, der dabei verliert, bin ich. Diese ernsten, sinnigen Augen haben mir immer wohlgethan. Aber ich hätte wissen können, daß es einmal dahin kommen würde, und darum – ohne Groll – leben Sie wohl!

Sie rief ihm noch etwas nach, was ihn zurückhalten sollte. Er war aber schon durch das Vorzimmer hinaus, ohne Groll, wie er gesagt hatte, aber nicht ohne das Gefühl bitterer Betrübniß. Das sind nun die Besseren unter ihnen! sagte er vor sich hin. Wenn dergleichen am grünen Holze geschieht, wie kann man sich wundern, daß die verstockten, erstorbenen Aeste und Knorren, die nie mehr Blatt oder Blüte treiben, so lustig prasseln, wenn es gilt, einen Ketzer zu verbrennen!

So kam er nach Hause und verbrachte den Rest des 330 Tages in stillen Gesprächen mit Balder, in denen er bald die verlorene Heiterkeit seines Geistes wiederfand, wenn auch von seiner leidenschaftswunden Seele die Schatten nicht weichen wollten. Sie schliefen beide wenig diese Nacht. Als am andern Morgen der Brunnenschwengel erklang, waren sie schon längst aufgestanden, Balder an seiner Drehbank, Edwin im Zimmer herumgehend, hie und da in einem Buche blätternd, beide schweigsam, wie sie immer ihren Tag zu beginnen pflegten.

Das Reginchen brachte mit dem Frühstück ein sorgfältig eingewickeltes Packet herauf und einen Brief. Es sei eben unten für Edwin abgegeben.

Als er die Schnüre und Siegel gelös't hatte, kam ein schöner Porzellanteller zum Vorschein, auf dem ein Feldblumenstrauß gemalt war, Kornblumen, Mohn und Weizenähren; am Rande stand mit Goldbuchstaben die Inschrift: Zum Andenken an eine dankbare Schülerin. Dabei lag ein versiegeltes Heft ohne Adresse. Der Brief aber war von dem alten Herrn und lautete so:

»Mein sehr verehrter Freund, Sie wissen bereits, was ich Ihnen in diesen Zeilen mittheilen möchte und bei der großen Achtung und Liebe, die ich für Sie gehegt, nur schwer aus der Feder bringe. Ich habe mir nie angemaßt, die Wahrheit zu besitzen; aber das Glück meines eigenen Lebens auch meinem Kinde zu sichern, ist mir eine theure Herzensangelegenheit. Wenn sie das ihre nicht auf meinem Wege findet, werde ich es ihr nicht verwehren. Noch aber ist sie wohl zu jung, um den rechten Weg klar zu erkennen, und ich 331 möchte sie lieber darum noch eine Zeitlang ohne Führer lassen, als auf einem Wege sehen, den ich für gefährlich halte. – Ich bin Ihnen gleichwohl für immer Dank schuldig, daß Sie so freundschaftlich sich ihr gewidmet haben. Meine Tochter, die Sie verehrungsvoll grüßen läßt, bittet, die kleine Arbeit von ihrer Hand annehmen zu wollen – die Bezahlung jener Wette, deren Sie sich vielleicht noch entsinnen. Ein Heft, in welchem sie sich selbst Rechenschaft über ihre Fortschritte bei Ihnen abgelegt hat, möchte ich Sie bitten, einstweilen in Verwahrung zu nehmen, da ich wünsche, daß sie fürs Erste zu diesen Studien nicht wieder zurückkehrt, und ich es ihr doch nicht zumuthen mag, diese Blätter, die Werth für sie haben, ganz zu vernichten. Und nun leben Sie wohl, lieber Herr Doctor. Möge es Ihnen wohlergehen und Sie in alter Herzlichkeit gedenken Ihres

dankbar ergebenen

Philipp König.«

In einem besonderen Couvert war eine Summe Geldes beigelegt, an sich unbeträchtlich, aber für die Verhältnisse des Mannes an der Lagune ansehnlich genug. Edwin setzte sich sofort an den Tisch, siegelte das Geld wieder ein und schrieb dazu folgende Zeilen:

»Werthester Freund und Gönner! So sehr ich bedaure, daß der mir liebgewordene Verkehr in Ihrem Hause so rasch ein Ende gefunden hat, muß ich doch Ihre Gründe ehren und sage Ihnen und meiner theuren Schülerin in alter Herzlichkeit Lebewohl und 332 – auf Wiedersehen! Danken Sie Ihrer Tochter aufs Wärmste für das schöne, sinnige Kunstwerk, das mich innig erfreut. Wie Sie aber in meiner Schuld stehen sollen, vermag ich nicht einzusehen. So wenig Sie sich ein Bild, das nur halb fertig geworden, vom Besteller bezahlen lassen würden, so wenig können Sie mir zumuthen, ein Honorar für meine geringen Anfänge anzunehmen.

Mit freundlicher Gesinnung

Ihr

E.«

So! sagte er zu Balder. Auch damit wären wir fertig! Ich kann nun das Fläschchen mit der Veilchenessenz auf meinen schönen Teller stellen – zwei gebrechliche Andenken an allerlei Luxusartikel, die in unserer Tonne nicht am Platze waren. Komm, Kind! Wir wollen wieder an die Arbeit gehen. Alles fließt; sollten denn nicht auch gewisse Erinnerungen den Weg in das große Meer finden?

 


 


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