Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Viertes Kapitel.

Ein paar schlanke sandfarbene Windhunde sprangen ihnen entgegen und machten die Täuschung vollkommen, als ob man in einen Gesellschaftsraum der Rococozeit einträte. Der Saal war hoch und weit, von länglicher Form mit leicht abgerundeten Ecken, im reichsten Geschmack des vorigen Jahrhunderts mit vergoldeten Stuccaturen und hohen Wandspiegeln verziert, die den Kerzenglanz des großen Krystall-Kronleuchters in der Mitte und die schimmernde Pracht des Silbergeschirrs auf der gedeckten Tafel vertausendfacht zurückwarfen. Am andern Ende ging eine hohe Glasthür auf einen Balcon hinaus, und dieser, wie die zwei Fenster zu den Seiten, öffnete sich nach dem Park, der mit prachtvollen Bäumen die langen französischen Hecken und Laubengänge überragte. Nichts erinnerte an die neue Zeit, als ein kostbarer Flügel von dunklem Holz, an dem ein junger Mann saß und über seinen rauschenden Passagen den Eintritt des Hausherrn und seines Gastes überhörte.

Die Anderen, die schon eine Weile gewartet zu haben schienen, wandten sich sogleich dem Eingang zu und 60 wurden von dem Grafen in verschiedener Weise begrüßt und mit Edwin bekannt gemacht. Jetzt brach auch der Klavierspieler plötzlich ab, sprang auf und eilte mit großer Cordialität auf den Grafen zu. Es war ein hübscher junger Mann, dem man trotz seiner Civilkleider den Cavallerieoffizier auf den ersten Blick ansah, und den der Graf als seinen Vetter, Graf Gaston, vorstellte. Er schien sich hier völlig zu Hause zu fühlen, und auch bei Tische, wo er Edwin mit freundschaftlichem Nöthigen wie einen alten Bekannten an seine Seite gezogen hatte, führte er fast ausschließlich die Unterhaltung, die sich in üblicher Weise um Jagd, Frauen und Pferde drehte.

Als der Champagner, der nicht geschont wurde, die Köpfe zu erhitzen und auch den Stilleren von der Gesellschaft die Zungen zu lösen anfing, wandte sich der junge Cavalier zu seinem Nachbarn, der bisher den stummen Zuhörer gemacht hatte, und sagte mit gedämpfter Stimme:

So! Nun habe ich wieder einmal das Meinige gethan, Holzfiguren durch Reiben in ein Feuer zu bringen, das jetzt der Champagner unterhalten mag. Sie haben mich hoffentlich nicht in dem Verdacht gehabt, Verehrtester, daß mir diese insipide Lieutnants-Conversation Vergnügen gemacht hätte. Aber was wollen Sie? Sehen Sie meinen Vetter, den Grafen, an, mit welchem Gesicht, wie der steinerne Gast, er an seiner eigenen Tafel sitzt. Wenn ich mich nicht opfere und Fadaisen schwatze, ist so ein Souper langweilig und still wie ein Leichenschmaus. Und so muß ich denn schon 61 Dinge aufs Tapet bringen, die den Herren amüsant vorkommen, obwohl sie enorm abgeschmackt sind. Aber nun lassen Sie uns Beide erst unsere Bekanntschaft erneuern. Sie entsinnen sich natürlich nicht, daß wir uns vor Jahren in Berlin begegnet sind, auf dem Zimmer eines meiner guten Freunde, des jungen Baron L., dem Sie damals, als er sich auf das Examen zu den höheren Verwaltungsstellen vorbereitete, ein Privatissimum lasen. Er ist jetzt Legationssecretär in Constantinopel und macht dort hoffentlich Ihrer Schule Ehre. Ich – bin noch immer, was ich damals war, ein Mensch, der in keiner anderen Schule etwas lernt, als in der des Lebens. Es muß auch solche Käuze geben, nicht wahr? Aber ich darf mir nachsagen, daß ich in dieser Schule nicht mehr ganz unten sitze und zum Beispiel die Aufgaben, an denen unsere werthen Tischgenossen schwitzen, längst hinter mir habe. Sie sind Ihnen sämmtlich vorgestellt worden, nach der lächerlichen Manier, einen Namen zu murmeln, und damit basta. Erlauben Sie, daß ich Sie ein wenig näher mit den Einzelnen bekannt mache. Mein Nachbar zur Linken, der sich »Herr Oberst« schelten läßt, ist, wie Sie nach seinen prononcirten Backenknochen und dem eigenthümlichen Accent schon selbst gemuthmaßt haben werden, von slavischer Abstammung, wie er sagt, ein Pole aus dem guten alten Geschlecht der Oginsky, wie er sagt, durch Conflicte mit den russischen Behörden dazu genöthigt, in österreichische Dienste zu treten, im italienischen Kriege bis zum Obersten avancirt, dann, wie er sagt, wegen einer Lähmung des rechten 62 Fußes durch eine Schußwunde ehrenvoll verabschiedet. Er hält sich schon einige Monate bei meinem Vetter auf, da, wie er sagt, ihm in Frankreich eine Civilstellung angeboten worden ist und er nur seine polnischen Papiere abwarten muß, um sich drüben vollständig zu legitimiren. Da er Pferdekenner, leidlicher Jäger und in allen Hazardspielen Meister ist, hat mein Vetter keinen Grund, an diesen Papieren zu zweifeln, und ich natürlich noch weniger. Sein Nebenmann, der elegante Herr von ungewissem Alter, ungewissem Blick und gewissen bedenklichen Fingerbewegungen, die eine große Uebung im Volteschlagen vermuthen lassen, ist tout bonnement was man auf gut deutsch einen Escroc nennt, eine Pariser Bekanntschaft meines Vetters, die er sich dort zugezogen hat und jetzt nicht mehr abschütteln kann, so viel ich ihm auch zugeredet habe. Er scheint aber seine Gründe zu haben, diesen Chevalier de Marsan, den Einzigen, mit dem ich hier nie eine Silbe spreche, mit Handschuhen anzufassen, während ich ihm ohne Umstände die Thüre weisen würde. Lieber Doctor, es giebt mehr zweideutige Figuren zwischen Himmel und Erde, als Ihre Philosophie sich träumen läßt. Ein wahres Gegengift gegen diese Sublimatpille, die ich hier täglich schlucken muß, ist der dicke Herr an der anderen Seite meines Vetters, ein bürgerlicher Rittergutsbesitzer, der eine steinreiche Banquierstochter geheirathet hat, Madame nie bei uns producirt, vermuthlich weil er sich ihrer nicht gerade salonfähigen Manieren schämt, übrigens aber, wie Sie sehen, ein wackerer Mann, vorzüglicher Landwirth, 63 großer Jäger vor dem Herrn und Liebhaber alten Rheinweins und alter Anekdoten, – in Summa, für meinen Witz das dankbarste Publikum. Sie haben gehört, wie er lachen kann. Ich habe einmal eine Wette gewonnen, daß ich ihn unter den Tisch amüsiren wollte, bloß mit Geschichten von starken Essern, und richtig, nach einer Stunde lag er keuchend da und wir befürchteten einen Schlaganfall. Neben diesem harmlosen Sterblichen, Ihnen gerade gegenüber, sitzen zwei nicht minder liebenswürdige Geschöpfe Gottes, der aber auf diese Ebenbilder sich schwerlich viel zu Gute thun wird. Haben Sie jemals zwei Menschen gesehen, die sich so zum Verwechseln ähnlich gewesen wären? Wie aus der Pletsche gekommen, nicht wahr? Dieselben kurzborstigen blonden Haare, dieselben kurzen Stirnen darunter, die kurzen Näschen, das kurzgestutzte Bürstchen auf der Oberlippe, der feierliche Ernst, auch wenn Alles ringsumher von Lachen wiederhallt, was anzeigt, daß sie auch hinter der Stirn zu kurz gekommen sind. Wenn sie dann aber aufstehen, sind es himmellange Menschen, und dazu reine Vollblutjunker, diese Gebrüder Thaddäus und Matthäus von der Wende. Selten wohl waren Zwillinge so brüderlich gesinnt, daß Jeder bereitwillig mit der Hälfte der gewöhnlichen Portion Verstand vorlieb genommen und sich sorgfältig gehütet hat, auch hernach klüger zu werden, als der Andere. Wir nennen sie die Siamesen, obwohl sie nicht durch ein körperliches Band mit einander verwachsen sind, und von einem geistigen bei ihnen nicht die Rede sein kann. Uebrigens wohlhabende und anständige 64 Leute, die Niemand im Wege sind. – Dann kommt ein kleiner, etwas hochschultriger Herr in den Fünfzigen, mit weißer Halsbinde und einem verschmitzten subalternen Lächeln, der wenig spricht, viel ißt und Alles hört. Verderben Sie es nicht mit ihm, er ist ein altes Familienmöbel, war Arzt, Vertrauter und so weiter bei der hochseligen Gräfin, heißt Dr. Basler, und ich möchte seiner ärztlichen Kunst eben so gern meinen Leichnam anvertrauen, als meinen Ruf seiner bösen Zunge. Neben ihm sitzt der Amtmann, der morgen mitjagen wird und immer Abends vorher mittrinkt, und der ganz stumme Herr an Ihrer anderen Seite ist der Privatsecretär meines Vetters, ein redlicher, geschickter, leider mit einem Sparren behafteter Mann. Er sucht das Perpetuum mobile. Nun kennen Sie die Insassen dieses alterlauchten Hauses, – bis auf das Kronjuwel, fügte er mit einem Seufzer hinzu, das es leider verschmäht, an andern als großen Galatagen zu glänzen.

Sie sprechen von der Gräfin? Ich habe sie vor Jahren, schon vor ihrer Verheirathung, kennen gelernt.

Und seitdem nicht wiedergesehen? So kennen Sie sie nicht mehr. Ich gestehe Ihnen, sie hat gleich Anfangs einen großen Eindruck auf mich gemacht. Ich war entschieden gegen diese Verbindung, die ich für einen übereilten Streich meines theuren Vetters hielt, im Stil seiner früheren Liaisons. Mesalliancen haben immer ihr Mißliches, obwohl ich natürlich aufgeklärt genug bin, an das blaue Blut nicht mehr zu glauben. Aber man sieht es alle Tage, wie peinlich es für Leute von Welt 65 und bequemen Formen ist, so ein braves Gänschen, das sich »geehrt« fühlt, im Schatten eines hundertjährigen Stammbaums zu wohnen, oder eine prätentiöse Erbin, oder was sonst zum Verlieben gerade gut genug und zum Heirathen zu gut oder zu schlecht ist, unter sich aufzunehmen. Am besten geht es noch mit Schauspielerinnen, Sängerinnen – meinethalben auch Tänzerinnen. Das hat wenigstens Tournure, Chic, Unverschämtheit und kennt uns hinlänglich, um uns – so im Großen und Ganzen – nicht mehr für was Besonderes zu halten. Aber eine Balletmeisterstochter aus einem kleinen Nest – von der Vaterschaft des Fürsten hab' ich erst später erfahren – ich gestehe Ihnen, ich war wüthend. Ich liebe diesen unsern Stammsitz und habe mich hier gern jedes Jahr ein paar Monate von den Aufregungen der großen Stadt ausgeruht. Nun sollte ich's erleben, wie eine solche Roturière hier die Honneurs machte. Aber schon bei der ersten Begegnung war ich wie umgewandelt. Wer auch die Mutter gewesen sein mag, sie hat wenigstens nicht verdorben, was der Vater an diesem Kinde gethan hat. Und doch – damals war noch Alles Knospe gegen die Centifolie, wie sie jetzt voll aufgeblüht ist. Entschuldigen Sie, wenn ich lyrisch zu werden drohe. Die Sache will's, sagt Othello. Denn unter uns gesagt – oder auch nicht unter uns, da es ein öffentliches Geheimniß ist: die unglückliche Leidenschaft für meine schöne Cousine, die so hoffnungslos ist, als wenn ich die Venus von Milo liebte, hat einen so tiefen Einfluß auf meine ganze Entwicklung gehabt, daß ich sagen kann, ich sehe 66 dem Menschen, dem Sie damals bei dem kleinen Baron begegneten, so ähnlich, wie eine jonische Säule einem Zaunpfahl.

Ihre Lyrik, Herr Graf, hat wenigstens den Vorzug einer gewissen Nachdrücklichkeit in der Bildersprache, versetzte Edwin lächelnd. Aber worin besteht, wenn ich fragen darf –

Sie spotten, Verehrtester. Ich scheine Ihnen noch immer Derselbe, ein leichter Lebemann, ein Weltkind, mit dem ein homme sérieux Ihrer Art höchstens einmal bei Tische plaudern mag. Aber lernen Sie mich kennen. Sehen Sie, diese Frau hat mir erst die Augen darüber geöffnet, daß der wahre Reiz des Lebens in etwas ewig Unerfüllbarem, einer stets über uns schwebenden Sehnsucht besteht. Kennen Sie Richard Wagner? Was ich da eben vom Leben sage, hat er in der Kunst angestrebt. Denn worin besteht das Geheimniß der unendlichen Melodie? Nehmen Sie Mozart, Gluck, die Italiener – da rundet sich Alles ab, jede Pièce hat Anfang, Mitte und Ende, ganz wie die gewöhnlichen Liebschaften. Man wird gereizt, man genießt, man ist satt – voilà tout; und wenn die Musik oder das Mädchen schön ist, wird man nach einiger Zeit wieder gereizt, – eine neue Arie, eine neue Orgie – und so ins Unendliche, bis Welt und Haare grau werden. Das ist die ordinäre Lebens- und Kunstanschauung. Aber nun – eine hoffnungslose Leidenschaft, wie ich sie jetzt seit einigen Jahren mit mir herumtrage! Sehen Sie, das ist, wie wenn ich Tristan und Isolde höre – ewiges 67 Schmachten, Girren, Sehnen und Seufzen – vier, fünf Stunden lang, nie Ausruhen, Befriedigung, keine Auflösung der Dissonanzen, dabei ein Taumel der Verzückung in allen Instrumenten, daß uns schließlich wie in einem verliebten Traum Hören und Sehen vergeht und wir vor ewiger Sehnsucht, unendlicher Melodie und wollüstiger Langerweile aus der Haut fahren möchten. Das ist das Geheimniß des Erfolges, den dieser große Mann davongetragen: die bis zur höchsten Erschöpfung aller Kräfte gesteigerte Aufregung, die die armen groben Sinne immer an der Nase herumführt, den Appetit beständig reizt, ohne ihn auf die gemeine Weise zu befriedigen, eine Art pathetischer Cancan, eine musikalische Haschisch-Benebelung. Und auch in der Wahl der Texte, in der Charakteristik der Figuren – wie ist da alles Handgreifliche, alles Einfache und Grobnatürliche mit der ausgesuchtesten Kunst vermieden; Alles, wobei der gewöhnliche Menschenverstand sich etwas Bestimmtes denken kann! Nehmen Sie Don Juan – da wissen Sie gleich überall, woran Sie sind. Vom Bauernkerl bis zum Comthur, vom leichtfertigen Landgänschen bis zur vornehmen Dame – lauter Gestalten, die richtiges Fleisch und Bein und rothes Blut in den Adern haben. Ich kenne sie so genau, wie wenn ich mit ihnen in demselben Hause gewohnt hätte. Dagegen diese Gestalten der Wagner'schen Muse – zehnmal können Sie dieselbe Oper sehen und sind aus diesen Schwanenrittern, Göttern, Tannhäusern und fliegenden Holländern noch nicht klüger geworden, als beim ersten Mal. Ich nenne das die 68 unendliche Charakteristik, als Ergänzung der unendlichen Melodie. Und ein solches unendliches Kunstwerk zu genießen und dabei an seine unendliche Leidenschaft zu denken, eins so hoffnungslos und aufregend, wie das andere –

Das Gespräch, das ebenfalls unendlich zu werden drohte, wurde hier unterbrochen, da der Hausherr aufstand, sich gegen seine Gäste verneigte und sie mit einer höflichen Handbewegung einlud, ihm in den kleinen Salon nebenan zu folgen. Hier standen ein paar Spieltische, eine dampfende Bowle in einer prachtvollen silbernen Schale, Cigarrenkistchen und anderer Rauchapparat. Während der Graf mit dem polnischen Obersten und dem Chevalier sich zu einem Hazardspiele anschickte, an dem theilzunehmen Niemand sonst Lust bezeigte, vertiefte sich der dicke Rittergutsbesitzer in ein ökonomisches Gespräch mit dem Amtmann und fragte den stummen Privatsecretär ab und zu um seine Meinung, die derselbe immer mit demselben ernsthaften Kopfnicken abgab, wobei er beständig aus dem silbernen Gefäß sein Glas füllte. Die beiden unzertrennlichen Brüder Thaddäus und Matthäus hatten sich hinter den Spielenden aufgepflanzt und verfolgten mit feierlicher Ruhe die Zickzacksprünge des Glücks. Graf Gaston war in den Speisesaal zurückgegangen und hatte sich an den Flügel gesetzt, offenbar in der Hoffnung, sein Tischnachbar würde ihm dahin folgen und sich den Commentar zu seiner Kunst- und Lebensweisheit in Tönen geben lassen. Edwin aber mußte auf dieses lehrreiche Vergnügen verzichten. Denn der kleine Mann 69 mit der hohen Schulter und dem klugen alten Gesicht, den ihm Gaston als den Hausarzt vorgestellt hatte, war zu ihm herangetreten und hatte ihn mit seiner höflich leisen Stimme gefragt, ob er nicht der Sohn eines seiner Studiengenossen sei, der die juristische Carrière plötzlich verlassen habe, um eine sehr schöne Frau heimzuführen. Die Aehnlichkeit sei ihm aufgefallen, noch eh er den Namen gehört habe. Als Edwin bejahte, wurde der Kleine sehr zutraulich, und nachdem er sich umständlich nach den Schicksalen seines alten Corpsbruders erkundigt hatte, weihte er den Sohn in seine eigenen Verhältnisse ein.

Als ein ziemlich angejahrter Candidat der Theologie war er in das gräfliche Haus gekommen, um den jungen Grafen erziehen zu helfen, der damals etwa sechs Jahre alt war. Die Gräfin, schon verwittwet, hatte an dem klugen, in allerlei Fächern besser als in der Theologie bewanderten Manne Gefallen gefunden – ein Gefallen, das trotz der unansehnlichen Figur des Hauslehrers sogar einen etwas intimeren Charakter angenommen zu haben schien. Keine Silbe des discreten Erzählers, nur ein gewisser Blick seiner durchdringenden Augen ließ darauf schließen. Da es je länger je übler mit dem eigentlichen Lebensberuf des Candidaten aussah, vielmehr eine alte Neigung zu den Naturwissenschaften sich immer ausschließlicher seiner bemächtigte, gerieth er auf den Einfall, noch einige Jahre nach Berlin zu gehen, studirte dort Anatomie, eignete sich allerlei wundärztliche Handgriffe an und kehrte endlich, da ihn die Gräfin nicht länger 70 entbehren wollte, mit dem ziemlich zweifelhaft erworbenen Doctortitel, aber als unzweifelhaft wohlbestallter Leibarzt in das Schloß zurück, das sein ehemaliger Zögling schon längst verlassen hatte, um auf Reisen seine Bildung zu vollenden.

Er hatte die Kunst verstanden, auch nach dem Tode seiner Gönnerin sich in seiner Stellung zu behaupten, wie es schien, vornehmlich durch eine verspätete Heirath mit der nicht allzu jugendlichen Kammerfrau und Vertrauten der Gräfin Mutter. Er sprach von dieser Verbindung mit einem ironisch überlegenen Lächeln, das Edwin wie manches Andere an dem klugen Manne mißfiel. Dieser schien den Eindruck zu bemerken, den seine vertrauliche Beichte auf den Zuhörer machte. Lieber Herr Doctor, sagte er, Sie sind noch ein junger Mann und waren immer unabhängig. Sie können sich schwerlich vorstellen, wie die Gewohnheit, sich in Andere zu fügen und nicht nur Fünf, sondern Siebzehn gerade sein zu lassen, einen Menschen, der von Hause aus gar kein Lump ist, mit der Zeit herunterbringt. Wenn ich an die Zeit denke, wo ich mit Ihrem seligen Vater noch unseren sogenannten Idealen nachstrebte! Und nun ist er als Rendant gestorben, und ich habe Recepte verschrieben, an die ich nicht glaubte. Je länger man lebt, je mehr kommt man dahinter, daß es nur sehr wenige Glückliche giebt, die sich nicht in einer falschen Stellung befinden, und daß eigentlich, da man doch die Pflicht hat, sein Leben zu erhalten, nur eine einzige Schwäche entehrt, die nämlich, sich mit der Zeit einzubilden, das 71 Falsche wäre echt. Ein Pfarrer, der mit dem Unglauben ins Amt gekommen ist und nach und nach seine Vernunft als unbequeme Mitgabe verleugnet, ein Arzt, der seinen eigenen Pflaster- und Salbenkram zuletzt selber ernsthaft und wichtig nimmt – solche Leute fälschen sich selbst und sind höchst verächtlich. Wer aber in einer Welt, die betrogen sein will, nicht den einzigen ehrlichen Narren macht, sondern im Chorus mitschwindelt, dabei jeden Augenblick bereit ist, einem andern klugen Mann, wie jene römischen Zeichendeuter, ins Gesicht zu lachen, so einer scheint mir seine Rolle als schwacher Mensch ganz leidlich zu spielen. Da war erst gestern ein berühmter Berliner Arzt hier, ein Medicinalrath Marquard, der Ihnen vielleicht dem Namen nach bekannt ist. Der treibt im Großen, was ich hier in meiner gräflichen Praxis im Kleinen treibe, und daß er etwas mehr gelernt hat, ist ihm eher hinderlich, da ihm nun in jedem einzelnen Fall hunderterlei einfällt und zu denken giebt. Uebrigens ein gescheidter Mann, und wir haben uns in der ersten Viertelstunde nichts mehr weiszumachen versucht. Dieser Herr ist mit der jungen Gräfin nicht glücklicher gewesen, als ich, aber sie hat ihn ihre große Geringschätzung nicht so fühlen lassen, wie meine Wenigkeit. Nun, mein Rücken ist, wie Sie sehen, von Natur gewölbter, als der meiner Herren Collegen. Ich kann schon Mehr auf die hohe Schulter nehmen.

Er lachte in sich hinein, schien aber doch betroffen, als Edwin diese überfließende Aufrichtigkeit mit einem kurzen: »Je nun, Jeder hat seine Art!« erwiederte. 72 Während der vorsichtig geflüsterten Rede des Doctors hatte unser Freund seine Augen von Einem zum Andern schweifen lassen und sich im Stillen gesagt: das sind die Menschen, mit denen sie vier Jahre lang hat vorlieb nehmen müssen! Der Gedanke hatte etwas unsäglich Beklemmendes, Trauriges und Empörendes für ihn. Er benutzte eine Pause im Spiel, um an den Grafen heranzutreten und sich für heute zu verabschieden, indem er die Ermüdung durch seine Wanderschaft vorschützte. Der Graf sah ihm einen Augenblick zerstreut, wie einem Fremden, auf den er sich nicht gleich besinnen könnte, ins Gesicht, drückte ihm aber dann mit ausgesuchter Freundlichkeit die Hand und entschuldigte sich, daß er von dem Vergnügen seiner Gesellschaft heute noch so wenig Vortheil gezogen habe. Er hoffe, sich morgen zu entschädigen. Dann winkte er dem Haushofmeister, den Gast auf sein Zimmer zu führen, und wandte sich wieder dem Spiele zu, bei dem das Glück, nach den Haufen Goldes vor seinen Mitspielern zu schließen, ihm wie gewöhnlich den Rücken kehrte. 73



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