Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Viertes Kapitel.

Um dieselbe Stunde saß der Candidat Lorinser in Christianens Zimmer auf dem kleinen Ledersopha, die Kniee halb auf den Sitz gezogen, die langen Arme breit über die Lehne gelegt, wie Jemand, der sich's bequem macht, weil er nicht so bald wieder zu gehen denkt. Obwohl es schon so dunkel war, daß man die Gesichter kaum erkennen konnte, stand doch noch keine Lampe auf dem kleinen Tisch. Nur aus einem der Fenster im Vorderhause blinzelte ein schwacher Lichtschein herüber, der sich manchmal bewegte und den bleichen Kopf des Mannes im Sopha streifte. Man konnte dann sehen, daß irgend eine lebhafte Erregung die stark ausgearbeiteten Züge in Spannung erhielt. Jedesmal, wenn das Licht über Lorinser's Gesicht huschte, erschien das seltsame Lächeln auf den beweglichen Lippen und senkten sich die Augen, die, so lange es dunkel blieb, mit scharfer Sehkraft den Bewegungen des Mädchens folgten, das ruhelos, die Arme nach ihrer Gewohnheit über der Brust gekreuzt, im Zimmer auf und ab ging.

Jetzt blieb sie plötzlich am Fenster stehen, öffnete es 261 einen Augenblick tief aufathmend und wandte sich dann zu dem stummen Mann im Sopha.

Wie man über dem Schwatzen die Zeit vergißt, sagte sie. Ich merke jetzt erst, es ist dunkler Abend geworden. Sie verzeihen, Herr Candidat, meine Zeit ist so regelmäßig eingetheilt –

Sie schicken mich fort, Fräulein Christiane, sagte er und machte gar keine Anstalten, sich aus seiner Lage zu rühren. Wahrhaftig, über Ihren musikalischen Offenbarungen, die mich in ungeahnte Tiefen blicken ließen, habe ich den eigentlichen Anlaß meines Besuchs ganz vergessen. Was also kann ich der Baronin für eine Antwort bringen?

Bedarf es noch einer ausdrücklichen Antwort? fragte sie. Warum hätt' ich Ihnen gesagt, wie intim ich es mit der Musik halte, als um Ihnen zu erklären, daß ich mich zur Abrichterin für den Salon nie hergeben werde, daß ich lieber hungern will, als an der allgemeinen Sünde der klimpernden und stümpernden Profanation dessen, was mir heilig ist, mitschuldig werden?

Und doch verschmähen Sie es nicht, einer Theater-Soubrette Unterricht zu geben?

Woher wissen Sie das?

Weil – je nun, weil ich mich nach Ihnen erkundigt habe. Wen ich empfehle, in Häusern, wie das der Baronin, für den muß ich einstehen können.

Nun denn, so will ich Ihnen gestehen, warum ich mich dieses leichtsinnigen Geschöpfs annehme; aus einem Grunde, der Ihnen sehr einleuchten wird, da Sie sich 262 ja auch mit der innern Mission abgeben: um eine Seele zu retten.

Sie wollen eine Theaterprinzessin, die schon durch so manche Hände gegangen, zu einer Heiligen machen? Sie scherzen.

Christiane lachte, ein kurzes, dumpfes Lachen, das nicht heiter klang.

Wofür halten Sie mich? fragte sie. Jemand zu etwas machen, was ich selbst weder bin noch zu sein wünsche! Und was geht mich ihr Lebenswandel an? Ich lasse gern Jeden auf seine Manier glücklich werden. Was ich nenne: ihre Seele retten, darunter meine ich, ihr einen Begriff von wahrer Musik beibringen. Das Mädchen hat die beneidenswerthesten Anlagen, Stimme, Gehör, Leidenschaft, den echten, natürlichen Musiksinn, daß ihr in allem Componirten gleich das Persönliche des Meisters oder der Rolle aufgeht, daß sie nicht bloß Noten nachbetet, sondern Alles nachspricht, wie eine volle Lebensäußerung. Sehen Sie, das ist selten, selbst bei großen Künstlerinnen, die sich dafür halten und so bezahlen lassen. Und darum ist diese Theaterprinzessin, wie Sie sie zu nennen belieben, für Offenbach zu vornehm, dagegen vollkommen courfähig, Mozart und andere hohe Herrschaften näher kennen zu lernen.

Und wenn es Ihnen dann gelungen ist, glauben Sie wirklich, diese gerettete Seele dadurch glücklicher gemacht zu haben?

Wer kann das wissen? Ich thue einstweilen, was in meiner Macht steht. Glücklich! Wenn Musik allein 263 glücklich machen könnte, wäre ich's wie Wenige. Sie ist aber auch nur ein Surrogat, vielleicht das kräftigste und edelste, aber das wahre, das Glück selbst doch immer nicht. Darüber bin ich ganz klar; ich habe Zeit gehabt, es zu erleben.

Und was halten Sie für das wahre Glück?

Sie schwieg einen Augenblick, nicht als ob ihr die Antwort schwer falle, sondern wie wenn sie sich besänne, ob sie diesem Frager die Antwort schuldig sei.

Dann plötzlich, mit einem Tone kalter Resignation:

Das wahre Glück? Ich kenne es nur daran, weil ich es nie genossen habe. Das wahre Glück kann nichts Anderes sein, als sich hinzugeben, ohne sich zu verlieren, weil man sich wiederfindet in etwas Besserem, als man selber ist; sich selbst zu vergessen in einem Andern, ohne Gefahr, daß man sich dessen zu schämen hat, weil der Andere in demselben Augenblick an nichts Anderes denkt, als an eben das, was man selbst vergißt. Sie werden mich nicht verstehen, es ist auch Nichts daran gelegen. Ich will die Lampe anzünden.

Sie sprechen von der Liebe, sagte er ruhig. Ich verstehe Sie, weil dasselbe Glück, das sie von irdischer Liebe hoffen, uns Kindern Gottes in der Wollust des Ewigen aufgeht. Habe ich Ihnen nicht neulich schon gesagt, daß Sie sich selbst verlieren müßten, um sich in Gott wiederzufinden? daß es keine andere Erlösung giebt? Nun kommen Sie mir auf halbem Wege entgegen.

Die andere Hälfte des Weges werde ich nie zurückzulegen im Stande sein, sagte sie herbe. Ich bitte, 264 kommen wir nicht auf jenes Gespräch zurück. Nochmals – es ist spät. Ich habe zu arbeiten.

Er rührte sich noch immer nicht aus seiner kauernden Lage im Sophawinkel.

Seien Sie nicht kleinlich, sagte er gelassen. Es steht Ihnen nicht. Sie sind eine großangelegte Natur, kein gewöhnliches Frauenzimmer. Warum also diese halben Andeutungen, dieses verschämte, prüde Sichzurückziehen, wo es Ihr Lebensglück gilt? Wenn ich Ihnen nun wirklich helfen könnte?

Sie? Mir kann kein Mensch helfen.

Aber Gott, und der Sie zu ihm führt.

Ich verstehe Sie nicht. Habe ich Ihnen nicht deutlich genug gesagt, daß ich keine Sehnsucht nach Ihrem Gott, nach seiner erlösenden Gnade fühle? Alles, was ich für ihn thun kann, ist, daß ich ihn nicht hasse, obwohl er mich, so wie ich bin, in diese Welt gestellt hat.

So wie Sie sind? Und wie sind Sie denn?

Sie haben es eben selbst gesagt: kein gewöhnliches Frauenzimmer. Ich wüßte nicht, was ein Mädchen Traurigeres sein könnte. Und wahrhaftig: erst seitdem mir das Märchen von einem lieben Gott sehr unwahrscheinlich geworden, seitdem es mir aufgegangen ist, daß wir armen Menschenthiere auch nur so mitlaufen in dem großen Gewimmel der Schöpfung und nicht mehr Anspruch haben auf eine besonders zärtliche Behandlung, als die Disteln auf dem Felde, die der Esel zerkaut, und der Esel, den dann der Müllerknecht prügelt, erst seitdem bin ich etwas ruhiger geworden. Ich brauche es Niemand 265 mehr persönlich übel zu nehmen, daß ich ein freudloses, häßliches, sitzengebliebenes Mädchen mit männlichen Zügen bin, als höchstens meinen Eltern, die lange todt sind und auch nichts dafür können; die Guten wußten ja nicht, was sie thaten, als sie mir das Leben gaben!

Sie hatte das Alles mit einem rauhen, geringschätzigen Ton so hingeworfen, wie man etwas erzählt, über das man sich vor langer Zeit einmal geärgert hat. Dabei war sie beschäftigt, das Lämpchen mit der grünen Glocke anzuzünden, und stellte es jetzt auf den Tisch.

Ich denke, Sie haben nun genug gehört, setzte sie trocken hinzu; Sie werden sich überzeugt haben, Herr Candidat, daß unter der sanftmüthigen Heerde, die Sie weiden, ein so räudiges Schaaf eine schlechte Figur machen würde. Also bitte ich, in Zukunft sich wegen meines zeitlichen und ewigen Heils nicht mehr zu incommodiren.

Freilich habe ich genug gehört, versetzte Lorinser und schlug die Augen so plötzlich zu ihr auf, daß der metallische Glanz des Weißen darin, durch den grünen Lampenschein gedämpft, ihr unheimlich wurde. Obwohl Sie mir im Grunde nicht mehr gesagt haben, als was ich bei Ihrem ersten Anblick wußte. Sie irren, wenn Sie glauben, solche Bekenntnisse seien mir neu, oder stießen mich zurück. Sie gehen immer aus einer besonders kraftvollen Natur hervor, und nur wo Kraft ist, kann Gnade wirken. Die sanften, selbstlosen Seelen haben Nichts einzusetzen und also auch Nichts zu gewinnen. Aber es wäre mir sehr wichtig, da ich über Ihr Inneres vollkommen klar bin, wenn Sie mir so 266 weit vertrauten, um mir nun auch die äußeren Umstände mitzutheilen, unter denen Sie das geworden – nein, das geblieben sind, was Sie von Anfang an waren; ich meine, Ihre Geschichte, Ihre Lebensschicksale.

Meine Geschichte? – Sie lachte kurz auf. Ich habe keine, oder die ich habe, habe ich Ihnen schon erzählt. Mein Gesicht ist meine Geschichte, meine finstern Augenbrauen und der Schatten auf meiner Oberlippe sind mein Schicksal. Mein Vater sah ungefähr auch so aus und galt dabei für einen ganz stattlichen, interessanten Mann. Ich hätte aber weit klüger gethan, mir das Gesicht meiner Mutter auszusuchen, die nicht gerade wegen ihrer Schönheit berühmt war, aber eben das gewesen sein muß, was ich nun gerade gar nicht bin, ein richtiges Frauenzimmer. Wenigstens machte sie noch später allerlei unschuldige Eroberungen. Ich dagegen, obwohl ich auch weder dumm war, noch unweibliche Manieren hatte – ich meine, als junges Mädchen; denn jetzt lasse ich mich ganz ungescheut gehen, wie ein alter Student – obwohl ich früh mit meinem Talent Aufsehen machte unter den Collegen meines Vaters, der ein Mitglied der Hofcapelle war: eine Eroberung hab' ich in meinem ganzen Leben nicht gemacht. Das heißt, zwei- oder dreimal hätt' ich heirathen können; es war aber auch danach. Einer wollte mit mir Concerte geben, ein Anderer, schon ein ältlicher Herr und seines lockeren Junggesellenlebens müde, brauchte gerade eine Haushälterin, und daß sie garstig war, schien ihm ganz bequem. So glaubte er ihrer Treue desto sicherer zu sein und ihrer aufopfernden 267 Dankbarkeit dafür, daß er sie noch unter die Haube gebracht. Der Dritte – aber wozu erzähle ich Ihnen diese ekelhaften Geschichten, die mich erst recht demüthigten? Und während ich aus ihnen hätte lernen sollen, was mir mein Spiegel noch nicht zum Ueberdruß beigebracht hatte, war ich verrückt genug, meinerseits immer die schönsten, angenehmsten und verwöhntesten Männer, die mit keinem Auge nach mir sahen, mir zu heimlicher Anbetung auszusuchen. Ich hatte nun doch einmal Künstlerblut in den Adern; ich mußte mich für etwas begeistern, was liebenswürdig, reizend und vornehm war, und sollte mir das Herz darüber zerspringen. Darüber bin ich vierunddreißig Jahr alt geworden; die Jugend mit ihren thörichten Gelüsten nach Herzweh, Langen und Bangen und Honig, der zu Galle wird, könnte nachgerade ausgetobt haben. Wollen Sie noch mehr Lebensgeschichte? Ich bedaure sehr: von Liebesabenteuern, gebrochenen Eiden, Verirrungen vom Pfade der Tugend habe ich leider nichts zu melden. Leider, sage ich. Es wäre doch eine Abwechslung in dem jämmerlichen Grau meiner Tage und Jahre, ein paar blutrothe Flecken, eine mit tausend Thränen ausgewaschene Stelle. – Statt dessen bin ich eine alte Jungfer in des Wortes jungfräulichster Bedeutung, und Ihr »Zauber der Sünde« hat keine Macht über meinen Bettelstolz. Können Sie sich auch einen lustigen, spannenden, aufregenden Roman denken mit einem solchen Titelkupfer?

Sie deckte plötzlich die grüne Glocke ab und hob das Lämpchen zu ihrem Gesicht hinauf, das sie ihm vollbeleuchtet zuwandte. 268

Das ist Geschmackssache, versetzte er, ohne eine Miene zu verziehen. Ich für mein Theil z. B. habe die charaktervollen Gesichter immer den glatten, unbedeutenden vorgezogen, sie mochten noch so sehr für allerliebst, niedlich und verführerisch gelten. Das gehaltlos Süße widert mir. Kraft, Bitterkeit, sogar eisigen Hohn und Haß im Feuer der Leidenschaft schmelzen zu fühlen, schien mir immer begehrenswerther, als das sentimentale Zerfließen zweier gleichgestimmter Seelen. Das Weib, das mich anziehen soll, muß etwas vom Dämon in sich haben. Stellen Sie die Lampe wieder hin, Fräulein Christiane. Sie beleuchtet Reize, die unter Umständen gefährlich werden könnten, und da ich Ihnen vorläufig ganz gleichgültig bin –

In diesem Augenblick wurde stark an der Klingel draußen gezogen.

Danken Sie dieser Unterbrechung, sagte das Mädchen mit gedämpftem Ton, als ob man draußen sie nicht hören sollte; ich hätte Ihnen sonst eine Antwort gegeben, die Ihnen doch vielleicht allzu unweiblich erschienen wäre. Jetzt entlasse ich Sie ohne Weiteres und zwar –

Die Klingel ertönte zum zweiten Mal. Lorinser hatte die Kniee vom Sopha heruntergeschoben, schien aber seine Ecke noch immer nicht verlassen zu wollen.

Sie warf ihm einen unbeschreiblichen Blick des Staunens und Abscheu's zu. Dann ging sie mit der Lampe in das Vorzimmer, um zu öffnen.

Draußen stand Mohr, sein Gesicht war stark 269 geröthet, seine Augen, sobald die Thüre aufging, drangen spähend in das dunkle Zimmer hinein; seine Haltung aber war völlig sicher, fast förmlich.

Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, mein Fräulein, sagte er, daß ich zum zweiten Mal zu so unpassender Zeit bei Ihnen anklopfe. Aber das Anliegen, das ich habe, wird bei einer Künstlerin für mich sprechen, wenn ich die Form verletze. Ich bitte nur um eine Viertelstunde Gehör. – Sie haben Besuch? fuhr er fort, als bemerke er plötzlich die Männergestalt drüben im andern Zimmer. Um so besser, so wird das Unschickliche der Stunde aufgehoben. Erlauben Sie mir einzutreten? Es ist eine fatale Zugluft auf dieser Hühnerstiege. Oder sollte ich etwa stören?

Nicht im Mindesten, erwiederte das Mädchen, indem sie mit finsterer Miene sich leicht verneigte. Ich habe zwar nicht die Ehre Sie zu kennen –

Als ein Freund Ihrer Hausgenossen droben in der Tonne glaubte ich eine Art Anrecht darauf zu haben, mich bei Ihnen einzuführen. Schon neulich, mein verehrtes Fräulein, machte ich einen verunglückten Versuch, in einer burschikosen Laune, obwohl mein Freund Edwin mich zurückhalten wollte. Sie werden es nicht so schwer genommen haben, wie ich selbst, sobald ich wieder ganz klaren Sinnes war.

Mein Herr, ich entsinne mich gar nicht –

Um so besser. Es war damals schon ziemlich dunkel im Flur. Heute bei Lampenlicht erlauben Sie mir, mich Ihnen vorzustellen: Heinrich Mohr schlechtweg; mir den 270 Doctor zu kaufen, habe ich verschmäht. Eine Auszeichnung muß der Mensch doch haben, der sonst in nichts ausgezeichnet ist.

Wollen Sie mir gefälligst sagen –

Sie stand noch im Vorzimmer, die Lampe in der Hand, als ob sie ihn so rasch als möglich hier abfertigen wollte, während er von Zeit zu Zeit aufgeregte Blicke in das Wohnzimmer warf.

Ich komme sogleich zur Sache, sagte er, sich an einen Schrank lehnend, der nahe an der Thür stand. Was ich Ihnen vorzutragen habe, ist kein Geheimniß und bedarf keiner Vertraulichkeit unter vier Augen. Es ist leider eine ziemlich bekannte Sache unter Denen, die überhaupt von meiner Existenz wissen – aber wollen Sie sich nicht setzen, Fräulein? So im Stehen –

Er machte eine Bewegung nach der Thür des Wohnzimmers.

Ich danke. Ich bin nicht müde.

Ich auch nicht. Was ich also sagen wollte: ich bin leider mit allerlei mittelmäßigen Talenten behaftet. Schon an Einem wäre es genug, einen Menschen, der nebenbei kein Geck ist, sondern einen unerbittlichen Geschmack besitzt, kreuzunglücklich zu machen. In den Künsten ist Pfuscherei noch schlimmer als in der Medicin. Ob ein paar sterbliche Menschen mehr zu Grunde gehen, was liegt daran? Aber den Kunstsinn vergiften oder doch auf den Hund bringen, ist eine Sünde gegen den heiligen Geist. Finden Sie nicht auch, Fräulein? 271

Sie sah ihn mit großen, forschenden Augen an, ohne den Mund zu öffnen.

Nun aber, fuhr er fort, giebt es bekanntlich auch eine falsche Bescheidenheit. Mancher große Mann hätte nie an sich geglaubt, wenn ihn nicht gute Freunde entdeckt hätten. Andere Talente werden gleichsam niedergetrampelt im Gedränge, durch Bosheit und Neid – die Menschen sind sehr neidisch, mein Fräulein, die Deutschen insbesondere – ich meine natürlich den gemeinen Brodneid, der mit dem idealen, hochherzigen Neid nur so verwandt ist, wie der Giftpilz mit der Trüffel – kurz, es ist für jeden Menschen schwer zu wissen, was an ihm ist. Daß es mit meiner Poetenschaft nichts ist, darüber sind mir nachgerade die Augen aufgegangen. Aber die Musik, die Musik! Ich spiele schlecht Klavier und singe mit einer Rabenstimme; was aber die Gabe der Erfindung betrifft, so scheint mir noch immer, daß ich es mit den seichten Walzer-Componisten, den Erzeugern elender Gassenhauer u. s. w. recht wohl aufnehmen könnte. Sie, mein Fräulein – verzeihen Sie, wenn ich Sie belauscht habe; Sie haben Ihre musikalischen Confessionen diesem stillen Hofe anvertraut – ich – ich habe die höchste Verehrung vor Ihrem Talent, vor – wie soll ich sagen? – vor dem genialen Naturell, das sich in Ihrer Art zu musiciren ausspricht. Nun sehen Sie – ich bin gleich fertig – seit Jahr und Tag trage ich mich mit einer großen Composition, die ich einstweilen – es ist eben nur ein Einfall, aber doch mehr als ein schlechter Witz – meine sinfonia ironica genannt habe. Verstehen Sie: bis jetzt ist nichts davon 272 aufgeschrieben, im Kopf aber Alles so gut wie druckfertig – bis auf die Instrumentation. Musiker, denen ich dann und wann etwas davon vorgespielt habe, waren meist ganz einseitige Anhänger dieser oder jener Schule. Ich muß gestehen, daß ich noch Keinem zugetraut habe, sich in den Geist dieses Werkes wirklich zu vertiefen. – Mit Ihnen ist es etwas Anderes. Ich möchte wetten, daß Sie, wenn Sie mir nur einmal eine Stunde schenken wollten –

Mein Herr, unterbrach sie ihn, Sie überschätzen meine Kenntnisse und mein Urtheil. Ich bedaure aufrichtig –

Thun Sie mir nur den Gefallen, mein verehrtes Fräulein, mich nicht ungehört abzuweisen. Ich verlange nichts weiter, als daß Sie wenigstens den ersten Satz, wo die Ironie noch im Stadium der Gebundenheit, des Schmerzes auftritt – C-moll, das nachher in F-dur übergeht –

Ich habe mich in die sogenannte Programm-Musik nie finden können, versetzte sie kurz. Darum wäre es wohl besser, von vorn herein –

Sie stoßen sich am Titel? Gut denn! Ich gebe ihn auf. Es soll eben nur absolute Musik sein, wie andere auch. Ich will verdammt sein, lebenslänglich Wagner zu hören, einen Tag in der Woche durch Offenbach verschärft, wenn nicht gleich die ersten Tacte Ihnen beweisen, daß das Uebrige wenigstens des Anhörens werth ist. Sie müssen mir erlauben, daß ich Ihnen nur einmal die Introduction auf Ihrem Klavier – 273

Er wartete ihre Erlaubniß nicht ab, sondern trat rasch in das Wohnzimmer, so daß ihr nichts übrig blieb, als ihm mit der Lampe zu folgen.

Noch immer saß Lorinser in seiner Sophaecke. Er hatte den Blick gegen die Zimmerdecke gerichtet und schien in Gedanken vertieft, über denen er die Eintretenden nicht beachtete.

Christiane stellte die Lampe so heftig auf den Tisch, als ob sie ihn durch das Klirren der Glocke aufwecken wollte.

Erlauben die Herren, daß ich sie einander vorstelle, sagte sie unfreundlich. Herr – wie war doch Ihr Name?

Heinrich Mohr, mein verehrtes Fräulein. Ein bis jetzt noch ganz abscurer Name, dem Sie vielleicht zu einiger Notabilität verhelfen werden. Im Uebrigen ist eine Vorstellung kaum nöthig. Ich habe die Ehre, den Herrn da bereits zu kennen.

Der Candidat ließ seine stechenden Augen auf dem Gesicht des Andern ruhen und sagte dann mit gleichgültigem Ton: Ich wüßte nicht, daß ich bereits das Vergnügen gehabt hätte.

Sehr natürlich, fuhr Jener fort, indem er dicht an das Tischchen herantrat und die Glocke von der Lampe hob. Die Bekanntschaft war bisher ganz auf meiner Seite. Auch ist sie, bis auf ein flüchtiges Begegnen draußen im Flur, noch sehr jung; sie datirt erst von der gestrigen Nacht.

Lorinser stand auf. Es schien ihm unbequem, dem 274 grellen Schein der Lampe ausgesetzt zu sein. Gestern Nacht? fragte er. Das muß ein Irrthum sein.

Werther Herr, versetzte Mohr mit lebhafter Freundlichkeit, wer ein so ausgezeichnetes Gesicht besitzt, wie Sie, kann davor sicher sein, daß man sich in seiner Physiognomie nicht irrt. Ich habe dieselbe zwar nur durch ein Parterrefenster etwa fünf Minuten beobachtet –

Mein Herr, erlauben Sie –

Aber ich will jeden Schwur vor dem Richter leisten, daß Sie es waren, den ich in recht heiterer Gesellschaft – es war ein Haus in der Königsstadt – Sie werden sich entsinnen – Sie müssen nämlich wissen, verehrtes Fräulein, darin bin ich noch ganz Poet, daß ich die Nacht dem Tage vorziehe. Gewöhnlich flanire ich bis nach Mitternacht planlos durch die Straßen; man beobachtet da die Menschen allerdings nicht immer von ihren Lichtseiten; aber wenn man sie kennen lernen will – und sie sind so unvorsichtig! Sie meinen, wenn die Vorhänge zugezogen sind, könnten sie ganz im Verborgenen ihre kleinen oder lebensgroßen Blößen zeigen. Als ob in Gardinen oder Rouleaux nicht Risse und Spalten sich befänden, als ob nicht ein ganz unscheinbares Löchelchen hinreichte, ein Zimmer zu übersehen, wie oft ein einziges Wort einen Blick in die heimlichsten Abgründe versteckter Seelen thun läßt.

Eine äußerst poetische Liebhaberei, hinter Vorhängen zu spioniren, warf Lorinser hin, indem er seinen Hut ergriff. Leider haben Sie sich diesmal denn doch in der Person geirrt, wofür ich Beweise bringen 275 könnte, wenn an einer solchen Bagatelle etwas gelegen wäre oder das Fräulein sich dafür interessiren könnte. Indessen, da Sie hier Kunst-Exercitien vorhaben, bei denen ich als Laie überflüssig bin –

Er verneigte sich gegen Christiane und ging nach der Thür.

Das Mädchen wandte sich zu Mohr, der den Candidaten mit einem schadenfrohen Blick begleitete.

Ich muß auch Sie bitten, mich für heut zu verlassen, sagte sie. Wenn es mit Ihrer ironischen Symphonie mehr als ein Scherz ist – Vormittags zwischen zwölf und eins finden Sie mich regelmäßig zu Hause. Erlauben Sie, daß ich Ihnen leuchte.

Mohr machte nicht den geringsten Versuch, für sich und seine Composition noch eine kurze Frist zu erlangen. Der musikalische Zweck seines Besuchs schien ihm gänzlich entfallen, die Genugthuung, den Andern aus der Sophaecke vertrieben zu haben, leuchtete ihm aus den Augen. Er verabschiedete sich herzlich aber ehrerbietig von Christianen und folgte dem Candidaten, der stumm auf den Flur hinausschritt.

An der Treppe blieben sie stehen; es schien, daß Lorinser ihm den Vortritt lassen wollte. Bitte sehr, sagte Mohr mit dem verbindlichsten Ton, ich bin hier so gut wie zu Hause. Vielleicht aber ziehen Sie es vor, diese sehr halsbrechende Hühnerstiege nicht zu oft zu betreten. Sie könnten einmal Schaden nehmen. In dem Hause, wo ich Sie gestern gesehen, ist jedenfalls für die Beleuchtung besser gesorgt. 276

Der Candidat wandte sich halb nach ihm um und sagte mit verbissenem Grimm: Sie irren sehr, mein Herr, wenn Sie mit so armseligen Mitteln mich einzuschüchtern denken. Ich leugne, überhaupt zu wissen, wo Sie mich gesehen haben wollen. Aber mir ahnt aus dem Ton, den sie dabei annehmen, daß es nicht die beste Gesellschaft war. Nun, ich gestehe, für einen Mann, der in Gegenwart einer Dame einen Andern denuncirt, ihn als einen Menschen hinstellen möchte, der schlechte Häuser besucht – für einen so hämischen und verleumderischen Spion habe ich nichts als gründliche Verachtung.

Ich danke Ihnen aufrichtig, versetzte Mohr trocken. Wenn Sie mich Ihrer Achtung versichert hätten, würde ich die Sache schwerer nehmen. Uebrigens, mein werther Freund im Dunkeln, eine kleine Leuchte will ich Ihnen noch mit auf den Weg geben: sollten Sie gesonnen sein, Ihre Besuche bei dem Fräulein, das Sie nun wohl hinlänglich kennen gelernt hat, gleichwohl in alter Weise fortzusetzen, so würden Sie mich nöthigen, noch deutlicher mit der Sprache herauszugehen. Ich sehe nicht ein, warum ich mit meinen Denunciationen zurückhalten soll, einem Individuum Ihres Schlages gegenüber, das Arbeitervereine besucht, um dann einzelne ihm mißfallende Redner der Polizei zu denunciren. Ich habe die Ehre, Ihnen gute Nacht und viel Vergnügen zu wünschen!

Er wies mit höhnisch abgezogenem Hut dem Candidaten den Weg über den Hof und folgte ihm erst, als der schleichende Tritt des Anderen, der in ohnmächtiger Erbitterung ihm nur ein grinsendes »Wir sprechen uns 277 noch« zugerufen hatte, draußen im Flur des Vorderhauses verhallte. Dann sah er selbst noch einmal zu Christianens erleuchteten Fenstern hinauf. Diesmal wenigstens haben wir nicht halbe Arbeit gemacht! sagte er vergnügt vor sich hin. Sie wird mir's noch einmal danken. Ein ganzer Kerl, dieses seltsame Frauenzimmer!

Wenn er hätte sehen können, was der Gegenstand seiner Verehrung jetzt in der einsamen Stube that! Sie hatte, nachdem die Männer gegangen, hastig, wie wenn ein von bösen Geistern heimgesuchtes Heiligthum wieder einzuweihen wäre, ein kleines geschnitztes Photographie-Rähmchen aus der Kommode geholt und es wie ein Altarbildchen auf den Tisch gestellt, so daß es hell von der Lampe beschienen war. Dann zog sie einen Stuhl heran, sich davor niederzusetzen und das Bild in stiller Andacht zu betrachten. Aber es wurde ihr unbequem, sich bücken zu müssen. Sie glitt von dem Stuhl auf den Fußboden herab und lag nun auf den Knieen, das Kinn auf die Tischplatte gestützt, die Augen mit schwärmerischer Inbrunst auf das Kärtchen geheftet. Das Bild aber, das ruhig vor sich hin sah und nach keiner Huldigung zu fragen schien, trug die wohlbekannten Züge unseres – Edwin. 278



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