Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Achtes Kapitel.

Er war aber noch nicht weit den Quai hinuntergeschlendert, als diese Bilder plötzlich, wie man ein Licht ausbläs't, in seiner Erinnerung erloschen und an ihre Stelle mit den glänzendsten Farben das Bild seiner Unbekannten aus dem Opernhause trat. Die Empfindung war so jäh, daß er förmlich erschrak und einen Augenblick stehen blieb, um sein Herzklopfen zu beschwichtigen. Wäre sie ihm leibhaft auf der einsamen Straße entgegengekommen, es hätte ihn nicht heftiger überraschen können.

Schlechte Aussichten auf Besserung! sagte er zu sich selbst, und lächelte dabei halb mitleidig halb vergnügt. Er nahm den Hut ab und neigte sich über das Geländer. Unten schwamm der Fluß lautlos hin. Ein halbgerupfter todter Vogel trieb an ihm vorbei neben einem angebissenen Apfel. Armer Bursch, sagte Edwin, du hättst es nun überstanden, und wenn Nichtsein besser wäre als Sein, könnte man dir gratuliren, daß dich kein rothbackiges Naschwerk mehr reizt und nicht mehr der Hunger, wenn du ihm nichts Anderes vorsetzen kannst, an 101 dir selber frißt. Aber die Sonne scheint doch so schön, und Aepfel schmecken süß, und ich glaube, dein schlechtestes Nest war behaglicher, als dieses schmutzige Nichts, das dich nun fühllos mitfortreißt.

Er horchte um sich her. Wenige Leute und gar kein Wagen kamen hier vorüber. Aus der Ferne aber hörte er das Summen und Brausen in den Straßen, durch die der Hauptstrom des Verkehrs sich wälzte. Es that ihm wohl, sich in das dumpfe Gefühl eines tausendfältigen Lebens zu versenken und dabei in der Einsamkeit sich recht durchsonnen zu lassen. Zuletzt freilich wurde es ihm doch des Guten zu viel. Er trat in den Schatten zurück und ging nun langsam, immer dem Fluß entlang, nach der Gegend zu, wo man durch ein paar kurze Seitenstraßen unmittelbar in den Thiergarten gelangt.

Auch hier war es in dieser Mittagszeit einsam, und er kannte aus alter Gewohnheit, da er seinen Problemen gern im Spazierengehen nachzusinnen pflegte, alle Wege, wo man am sichersten war, keinem Menschen zu begegnen. Heut aber dachte er nicht daran zu philosophiren. An seinem Lieblingsplatz, der Halbinsel unfern von dem marmornen Königsstandbild und der Louiseninsel, wo er noch vor wenigen Wochen seine besten Gedanken für die Preisschrift ausgebrütet hatte, warf er sich unter dem dichten Schatten der großen Blutbuche ins Gras und schloß die Augen, um völlig ungestört seinem hoffnungslosen Liebestraum nachzuhängen.

Es war ihm trotz seiner neunundzwanzig Jahre gerade so zu Muth, wie Andern bei ihrer ersten 102 Schülerliebe: das Gefühl, sich zu verlieren, hingerissen zu sein, Gewalt zu erleiden, ist noch so stark und entzückend, daß es alle anderen Regungen und Triebe verschlingt und der Gedanke des Besitzes, ja selbst der Wunsch der Erwiederung kaum daneben aufkommen kann. Vollends nicht in den ersten Stadien und in einer so jungfräulichen Seele, wie die unseres Philosophen. Gerade das Unabsehliche, Ziellose und Unvernünftige dieses Erlebnisses war ihm, der sich in strenger Arbeit an lauter scharfkantigen Begriffen übermüdet hatte, wie ein Bad in einem uferlosen Meer, wo er sich über der unergründlichen Tiefe auf dem Rücken liegend von den Wellen schaukeln ließ.

Eine heisere Drehorgel, die in nächster Nähe plötzlich den »Prinzen von Arcadien« anstimmte, weckte ihn unsanft aus seiner welt- und zeitvergessenen Stille. Eilig sprang er auf und suchte den frechen, seelenlosen Tönen zu entrinnen. In einer bescheidenen Gartenwirthschaft, wo nur einige Spießbürger Kaffee tranken, aß er hastig zu Mittag und brach dann, da die Bänke sich mit Nachmittagsgästen zu füllen anfingen, rasch wieder auf, er wußte selbst nicht, wohin; nur daß er sich heute heimlich schämte, dem Bruder, dem er in der Nacht unbedenklich gebeichtet hatte, am hellen Tage in so hülflosem Zustande wieder vor die Augen zu kommen.

So schritt er quer durch das Gehölz und ließ seine Blicke, ohne etwas zu suchen, umherschweifen, als er auf einmal, in eine breitere Allee hinaustretend, still stand und mit einem Ausruf der Ueberraschung in die Ferne spähte. Es war nichts Auffallenderes als eine roth und 103 weiß gestreifte Sommerweste, die, gerade von der Sonne beschienen, hell zu ihm herüberleuchtete. Aber in ihr steckte eine kleine Figur, die ihm sehr wohl bekannt war, ein etwa vierzehnjähriger Knabe mit hohen Vatermördern und steifer Cravatte, einem lederfarbenen Livreejäckchen und Kniehosen von gleichem Zeuge. Das Jüngelchen saß in drollig altväterischer Haltung auf einer Bank, hatte den blanken Wachstuchhut mit der Kokarde neben sich gestellt und war angelegentlich beschäftigt, sich mit einem Bürstchen den blonden Scheitel zu frisiren, wobei er von Zeit zu Zeit in einen kleinen Handspiegel sah.

Unter einem ganzen Heere von Lakayen in Miniatur hätte Edwin diesen wiedererkannt. Er hatte aber nicht Zeit, sich lange mit ihm zu beschäftigen. Denn wie er eben einige Schritte auf ihn zu that, fest entschlossen, ihn über seine Herrin auszuforschen, erhob sich von der nächsten Bank, die durch einen tiefhängenden Kastanienzweig verdeckt worden war, eine schlanke Gestalt in leichtem Sommerkleide und breitem Florentiner Strohhut, warf einen Blick nach dem Knaben zurück und ging dann rasch, ein Buch, in dem sie gelesen, in der Hand, ein Sonnenschirmchen leicht über die Schulter gelegt, der großen Hauptallee zu, die vom Brandenburger Thor mitten durch den Thiergarten läuft.

Sie eilte so sehr, daß der kleine Mann mit den großen Kamaschenschuhen Mühe hatte, ihr nachzukommen, und selbst Edwin mußte große Schritte machen. Als er bei der Bank vorbeikam, wo sie gesessen und gelesen, sah 104 er ein helles Band am Boden liegen, das sie bei dem hastigen Aufbruch verloren zu haben schien. Er hob es auf; ein Buchzeichen, ein weißes Atlasband mit kleinen Goldfranzen an den Enden, auf dem in blau und schwarzen Perlen ziemlich unbeholfen die bekannten Symbole von Glaube, Liebe und Hoffnung gestickt waren. Der Fund hielt ihn einen Augenblick auf. Inzwischen war die Besitzerin schon zu dem eleganten Wagen gelangt, der draußen auf der Chaussee ihrer gewartet hatte, der kleine Groom hatte den Schlag geöffnet, die Dame stieg ohne seine Hülfe ein, dann zogen die Pferde an, und in raschem Trabe rollte das leichte Gefährt der Stadt zu.

Heut aber sollte Edwin nicht nur besseres Glück als gestern haben, sondern auch den nöthigen Verstand, es beim Schopf zu fassen. Eine leere Droschke kam schläfrig des Weges, er warf sich hinein und versprach dem Kutscher das doppelte Fahrgeld, wenn er den Wagen noch einholen und nicht aus den Augen lassen würde.

Sie fuhren durch das Thor, die Linden hinunter, rechts umbiegend in die Friedrichsstraße hinein, dann wieder links in die Jägerstraße, wo die Equipage vor einem hübschen neuen Hause hielt. Der kleine Bediente kletterte wie ein Aeffchen vom Bock, öffnete den Schlag und folgte der Dame, die leicht hinausgesprungen war, ins Haus, worauf der Wagen ohne Aufenthalt davonfuhr.

Edwin hatte seine Droschke schon an der Straßenecke verlassen und ging nun mit klopfendem Herzen auf 105 der anderen Seite ein paarmal auf und ab, die offenen Fenster drüben betrachtend, ob nicht an einem derselben das reizende Gesicht sich zeigen würde. Es war aber nichts zu sehen, als in einem Zimmer der Bel-Etage ein Blumentisch mit prachtvollen Palmen und anderen Blattpflanzen, am Fenster daneben ein großes Vogelhaus mit glänzend vergoldetem Drahtgitter. Da also wohnte sie. Den triftigsten Vorwand, sich bei ihr einzuführen, hatte er in der Tasche. Dennoch konnte er sich lange nicht das Herz fassen, ins Haus zu treten und die Treppe hinaufzusteigen.

Als er es dennoch endlich gethan, zögerte er auch oben an der Thür noch eine Weile und suchte sein ziemlich eingerostetes Französisch hervor, für den Fall, daß sie wirklich kein Deutsch verstände. Dann schämte er sich dieser knabenhaften Schüchternheit und zog mit einem so herzhaften Ruck an der Glocke, daß der Schall das ganze stille Haus durchdröhnte.

Sogleich wurde die Thür geöffnet, die gestreifte Weste erschien, und ihr Inhaber starrte mit einem mißbilligenden Blick seiner runden wasserblauen Augen den lärmenden Besucher an.

Habe die Güte, mein Sohn, sagte Edwin, deinem gnädigen Fräulein zu melden, daß Jemand sie zu sprechen wünsche, um ihr etwas Verlorenes zurückzubringen.

Wen habe ich die Ehre –? fragte der wohlabgerichtete Zwerg.

Der Name thut Nichts zur Sache. Bestelle nur, was ich dir gesagt. 106

Der Kleine verschwand, kehrte aber nach einer kurzen Pause, in der sich Edwin sein Französisch überhörte, zurück und sagte: Das gnädige Fräulein lassen bitten, einen Augenblick hier einzutreten.

Er öffnete die Thür nach einem kleinen Vorzimmer, wo nur einige elegante Rohrsessel herumstanden und auf einem zierlichen Marmortisch ein Buch und ein Fächer lagen.

Wie heißest du, mein Sohn? fragte Edwin den Kleinen, indem er sich mit möglichster Unbefangenheit auf einem der Sessel niederließ.

Mein eigentlicher Name ist Hans Jacob. Die Herrschaften nennen mich aber Jean.

Ist dies nicht dein erster Dienst, kleiner Jean Jacques? Du scheinst ein frühreifes Genie zu sein.

Ich war vorher schon bei einem Baron, da habe ich reiten gelernt und mußte die Zügel halten, wenn er aus dem Cabriolet stieg, denn er fuhr selber. Jetzt haben wir bloß einen Lohnkutscher.

Und wie lange bist du schon bei dem gnädigen Fräulein?

Erst vierzehn Tage. Sehr leichter Dienst, alle acht Tage meinen Sonntag; wir haben auch noch eine Kammerjungfer.

Kannst du auch Französisch sprechen, Jean Jacques?

Der Kleine wurde roth. Edwin schien eine wunde Stelle seines Ehrgeizes getroffen zu haben.

Das gnädige Fräulein sprechen Deutsch, erwiederte er. Aber da klingeln sie. Ich muß hinein. 107

Edwin griff mechanisch nach dem Buch, das auf dem Tischchen lag. Balzac! sagte er. Père Goriot. Am Ende eine vagabundirende Russin oder Polin, die alle Sprachen spricht. Die sollen ja den Balzac mit der Muttermilch einsaugen.

Er stand auf und warf einen Blick in die anstoßenden Zimmer. In dem kleinen Salon nebenan war das Licht, das durch schwere, granatfarbene Vorhänge fiel, noch durch die Palmen gedämpft, die ihre Fächer weit ausbreiteten. Ein Papagei schaukelte sich vor dem Spiegel in seinem Ring, ohne einen Laut von sich zu geben. Die Wände waren dunkel, die Decke mit einer braunen Holzvertäfelung verkleidet, auf dem Sims des Kamins von dunklem Marmor stand eine schwere Uhr von grüner Bronce. Desto lichter und lustiger erschien das folgende Cabinet, in das er nur, so weit die Thüre offen stand, hineinblicken konnte. Eine zeltartige Tapete mit leichtvergoldeten Stäben, ein Stück eines zierlichen Buffets mit blitzendem Silbergeräth, in der Mitte, gerade der Thür gegenüber, ein gedecktes Tischchen – so viel er sehen konnte, nur Ein Gedeck. Dazu das unermüdliche Durcheinanderschwatzen und Flattern der Vögel in dem großen Vogelhause.

Edwin hatte Gelegenheit genug, da er jungen Adligen Unterricht gab, die Möblirung der »Tonne« mit dem Luxus großstädtischer Einrichtungen zu vergleichen. Der Abstand war ihm niemals drückend gewesen. Heut zum ersten Mal schien er sich selbst, als er sich zufällig im Spiegel erblickte, wie der Hirt im Märchen, der sich 108 in ein Feeenschloß verirrt hat. Den Versuch, seinen Anzug etwas aufzustutzen, gab er von vornherein als hoffnungslos auf. Eben wollte er wenigstens die Handschuhe hervorholen, die er in der Rocktasche zu tragen pflegte, als die andere Seitenthür des Vorzimmerchens sich aufthat und das schöne verzauberte Wesen, von dem Kammerzwerg gefolgt, hereintrat.

Sie blieb dicht an der Schwelle stehen, mit der Geberde unmuthiger Ueberraschung. Dabei wandte sie sich halb zu dem Kleinen um und schien ihm einen Vorwurf zu machen, gegen den er sich flüsternd vertheidigte. Edwin hatte indessen Zeit, sie zu betrachten und sich von seiner eigenen Verwirrung zu erholen.

Wirklich war sie von so seltener Schönheit, daß sie auch einem verwöhnteren Frauenkenner, als unser Philosoph war, das Concept verrücken konnte. Er hatte sie in der Nacht dem Bruder ziemlich richtig beschrieben, aber heut in der Tageshelle war sie ihm selbst wieder eine ganz neue Erscheinung, die Farben blühender, der Ausdruck der Augen noch seltsamer, eine stille, gleichgültige Vornehmheit, wie man sie bei Kindern findet, die sich um Nichts kümmern, Nichts lieben oder hassen. Dabei stand ihr das leichte Kleid, das sie wie eine Wolke umgab, ausnehmend gut, und das Haar und die wohlbekannten Löckchen am Halse erschienen dagegen um so dunkler.

Sie begrüßte den Fremden mit einer kaum merklichen Bewegung des Kopfes. Mein Herr –? sagte sie und sah ihn fragend an. 109

Verzeihen Sie, mein Fräulein, versetzte er mit einer unbefangenen Miene, die er ziemlich geschickt zu heucheln wußte, ich habe es mir nicht versagen können, die Gunst des Zufalls zu benutzen und mich als den ehrlichen Finder in Person Ihnen vorzustellen. Ueberdies – ich dächte, ich wäre Ihnen nicht mehr ganz fremd.

Sie? mir?

Ich hatte gestern Abend einen Akt lang das Vergnügen, Ihr Nachbar in der Loge zu sein.

Ein rascher Blick aus ihren verwunderten Augen überflog seine Gestalt. Ich entsinne mich nicht, sagte sie kurz.

Nun, ich muß es eben leiden, lächelte er. – Es war ihm ordentlich lieb, daß sie ihn mit solcher Kälte behandelte. Sein Stolz, der sich von ihrer Schönheit hatte einschüchtern lassen, erwachte plötzlich und half ihm seine ganze Ruhe und Heiterkeit wiederfinden.

Sie haben mir etwas zurückzubringen? sagte sie jetzt in ziemlich ungeduldigem Tone. Ich vermisse freilich gar Nichts, aber darf ich Sie wohl bitten, mein Herr, mir zu sagen –

Er zog das Atlasstreifchen aus der Tasche und hielt es ihr hin. Plötzlich verwandelte sich ihre kühle Haltung. Sie trat auf ihn zu, und eine kindliche Freude leuchtete ihr aus den Augen. Ah, das! rief sie, ja wohl, das gehört freilich mir. Es muß mir vor einer Stunde erst entfallen sein, so daß ich es noch nicht vermissen konnte. Ich danke Ihnen, mein Herr, ich danke Ihnen sehr. Es ist ein Andenken. 110

Sie nahm es ihm aus der Hand und gönnte ihm dabei den ersten freundlichen Blick. Dann machte sie ihm eine Verbeugung, die einer Entlassung ähnlich sah, und trat wieder einen Schritt zurück, der Thüre zu.

Er blieb aber unbeweglich auf derselben Stelle.

Sie wissen, mein Fräulein, sagte er, der ehrliche Finder hat auf eine angemessene Belohnung Anspruch. Würden Sie es unangemessen finden, wenn ich Sie nur um die Beantwortung einer Frage bitte?

Und welcher?

Ob Sie das Buchzeichen selbst gestickt haben.

Warum wünschen Sie das zu erfahren?

Aus einer freilich sehr unbescheidenen Neugier: weil ich allerlei Schlüsse daraus ziehen würde auf den Charakter der schönen Besitzerin. Sie wissen, mein Fräulein, der Stil ist der Mensch, und bei Denen, die nicht schriftstellern, muß man sich an das halten, was sie sticken.

Sie sah ihn ruhig an, als halte sie es unter ihrer Würde, sich nur merken zu lassen, daß sein scherzender Ton sie verdroß.

Ich habe es nicht selbst gemacht, erwiederte sie; es wäre mir sonst sehr gleichgültig, es verloren zu haben; es ist nicht einmal geschmackvoll. Aber es kommt von meiner jüngeren Schwester, die es mir zu meiner Confirmation in mein Gesangbuch geschenkt hat.

Seltsam! sagte er wie für sich.

Was ist daran seltsam?

Daß auch Buchzeichen, wie Bücher, ihre Schicksale haben. Aus dem Gesangbuch in den Balzac! 111

Balzac? Woher wissen Sie –

Ich bitte um Entschuldigung, mein Fräulein; während ich wartete, habe ich das Buch da aufgeschlagen. Lesen Sie mit Vorliebe französische Sachen?

Sie ließ wieder ihre verwunderten Augen auf ihm ruhen. Dieser fremde Mensch, der offenbar nur Vorwände suchte, sie auszuforschen oder sich ihr aufzudrängen, wurde ihr unheimlich. Aber seinem ruhigen Blick gegenüber fand sie das Wort nicht, ihn kurz abzufertigen.

Allerdings, sagte sie. Ich habe es mir von meinem Vater angewöhnt, der zwar selbst ein Deutscher war, aber lange in Paris gelebt hat. Er fand in diesen Büchern seine Erinnerungen wieder.

Und diese Bücher gefallen Ihnen? Der Père Goriot zum Beispiel?

Er interessirt mich wenigstens. Es ist so gutes Französisch und – so guter Ton. Manches freilich empört mich wieder. Diese herzlosen Töchter, die es ruhig annehmen, daß der alte Vater sich für sie ruinirt – es ist abscheulich.

Ich danke Ihnen, mein Fräulein, sagte er lebhaft. Es freut mich, daß Sie so urtheilen. Guter Ton, aber schlechte Musik. Aber es ist merkwürdig, was ein geistreicher Autor uns Alles bieten kann. Wenn wir solchen Menschen im Leben begegneten, ich glaube, wir würden uns dafür bedanken, mit ihnen umzugehen. In Büchern lassen wir uns die fatalste Gesellschaft gefallen.

Sie schien etwas erwiedern zu wollen. In diesem 112 Augenblick trat eine Kammerjungfer herein und sagte ihr leise ein paar Worte.

Ich komme schon, nickte die junge Herrin. Dann, zu Edwin gewendet: Ich bedaure, mein Herr, ich werde abgerufen. Nochmals meinen besten Dank. Jean, begleite den Herrn hinaus.

Der Kleine trat dienstbeflissen vor. Edwin aber schien es nicht zu bemerken.

Ich hätte noch eine Bitte, sagte er.

Mein Herr –?

Ich habe einen Blick durch die Thür in Ihre reizende Wohnung gethan. Es scheint für Alles darin gesorgt, was die verwöhnteste Phantasie sich nur wünschen kann. Nur Eins habe ich nicht gesehen, was gerade mir zu den Lebensbedürfnissen gehört.

Sie meinen?

Eine kleine Bibliothek. Auch den Balzac, wie ich sehe, haben Sie aus der Leihbibliothek holen lassen. Verzeihen Sie meine Offenherzigkeit, mein Fräulein, aber ich begreife nicht, wie so schöne Hände ein Buch anfassen mögen, das schon auf so vielen Tischen gelegen und durch Hände von sehr fragwürdiger Sauberkeit gegangen sein mag.

Er sah, wie sie erröthete und einen fast bestürzten Blick nach dem Buch auf dem Marmortischchen gleiten ließ.

Ich bin noch nicht lange hier, erwiederte sie, und habe nicht daran denken können, mir Bücher anzuschaffen.

So erlauben Sie mir, sagte er, Ihnen meinen 113 kleinen Vorrath zur Verfügung zu stellen. Er ist zwar gerade in französischer Literatur nicht sehr ausgiebig. Aber wenn Sie nicht überhaupt gegen deutsche Bücher eine Abneigung haben –

Ich kenne noch so wenig, erwiederte sie mit sichtbarer Verlegenheit, die ihre Züge noch viel reizender machte, als die frühere vornehme Kälte. Im Hause meiner Eltern wurde nicht oft von Literatur gesprochen. Denken Sie, daß ich sogar von Goethe noch so gut wie Nichts gelesen habe.

Um so besser, so stehen Ihnen noch die herrlichsten Freuden bevor. Wenn Sie Nichts dagegen haben, werde ich so frei sein, Ihnen morgen einige Bände zu bringen.

Sie schien nachzudenken.

Ich kann es unmöglich annehmen, daß Sie sich für eine ganz Unbekannte bemühen. Ich werde zu einem Buchhändler schicken.

Fürchten Sie, daß ich Sie wieder in Person belästigen werde? sagte er, indem er an der Thür stehen blieb. Mein Wort darauf, gnädiges Fräulein, ich will mich nur als Ihren Commissionär betrachten und die Bücher draußen abgeben. Oder haben Sie, weil ich Ihnen vorhin ehrlich meine Neugier gestanden, nun kein Vertrauen mehr zu meiner Discretion?

Sie sah ihn einen Augenblick forschend an. Dann sagte sie: Nun wohl, so bringen Sie mir, was Sie wollen. Ich werde Ihnen dankbar sein. Adieu!

Damit verneigte sie sich leicht gegen ihn und 114 verschwand im Nebenzimmer. Es blieb Edwin Nichts übrig, als ebenfalls den Rückzug anzutreten.

Draußen im Hausflur, als die Thür hinter ihm zugefallen war, blieb er stehen und schloß die Augen, wie um sich wieder zu sammeln. Er sah sie noch immer vor sich stehen in ihrer Schönheit und kühlen Unbefangenheit, und eine große Traurigkeit, er wußte selbst nicht warum, übermannte ihn. So wenig er von dem Leben der großen und »halben« Welt kannte, so viel stand ihm fest, daß es mit dieser verzauberten Prinzessin nicht ganz geheuer war, daß sie nur wie ein seltener Vogel im vergoldeten Käfich wohne und sich selbst nicht mehr angehöre. Dann dachte er wieder an ihre ruhigen, erstaunten Kinderaugen und den kleinen stolzen Mund, den sie wie schmollend zu rümpfen pflegte, wenn sie sich auf eine Antwort besann, und wieder war es ihm undenkbar, ein Hohn auf jedes unmittelbare Gefühl, daß an diesem geheimnißvollen Leben eine leichtsinnige Schuld oder gar niedrige Verworfenheit haften sollte.

Seine eigene Leidenschaft war in diesem Augenblick ganz verschlungen von dem selbstlosen Antheil an ihrem Schicksal. Und noch war er freilich nicht viel klüger, als vor einer Stunde. Nicht einmal ihr Name stand an der Thür. Und bei wem sollte er ihr nachforschen, auch wenn er nicht einen natürlichen Widerwillen gegen alle krummen Wege gehabt hätte?

Da kam der Zufall ihm auf dem geradesten Wege entgegen.

Eine behäbige Frau in mittleren Jahren, in Hut 115 und Shawl und ein Körbchen am Arm, stieg langsam die Treppe herab und stutzte offenbar, als sie den Fremden auf dem Flur herumzaudern sah. Sie fragte mit einer Miene, als ob sie für die Ordnung im Hause einzustehen habe, zu wem er wolle. Er antwortete, daß er im Begriff zu gehen sei, da er dem Fräulein drinnen nur einen gefundenen Gegenstand zurückgebracht habe. Dann ein paar Stufen vor ihr stehen bleibend, während sie ihm auf dem Fuße folgte: Schade drum! warf er so verloren hin.

Die Frau stand ebenfalls still und stemmte einen Arm in die Seite. Warum schade? fragte sie. Was wissen Sie, mein Herr, von meinen Miethsleuten, daß Sie sich so eine mitleidige Aeußerung erlauben dürfen? Ich muß sehr bitten, mein Herr, in meinem Hause wohnt Niemand, um den es schade wäre.

Nun, sagte er treuherzig, ich habe mir gar nichts Schlimmes dabei gedacht. Aber das Fräulein scheint, der ganzen Einrichtung nach, von vornehmer Familie zu sein, und dabei so einsam leben zu müssen, wer weiß aus was für traurigen Gründen –

Er ging dabei wieder einige Stufen hinunter, die Frau aber blieb ruhig stehen, lehnte sich an das Geländer und schien der Versuchung nicht widerstehen zu können, ihre überlegene Weltkenntniß an den Mann zu bringen.

Vornehm? sagte sie mit einem leichten Achselzucken. Du meine Güte! Das steckt Alles bloß in den Kleidern, und wie lang die Herrlichkeit dauert, mag Gott wissen. Sie denken wohl, die schönen Möbel und das 116 Silberzeug und die seidenen Gardinen – das gehörte alles ihr? Ja Prosit, mein bester Herr! Nein, nicht einmal mir selber gehört es, denn ich habe niemals Chambres garnies vermiethet, da sei Gott vor, man kommt so leicht um sein bischen guten Namen mit Leuten, die nicht mal ihr eigenes Bett haben. Zehn Jahre besitze ich nun schon dieses Haus, ich heiße Sturzmüller, müssen Sie wissen, und bin eine Wittwe, und mir kann kein Mensch etwas nachsagen, und was das vornehme Fräulein da oben betrifft, wenn's mit der nicht bald klar wird, so werde ich ihr ein Licht aufstecken, daß sie sich wundern soll. Ich kann keine Miether gebrauchen, über die die Leute den Kopf schütteln und »schade drum« sagen.

Damit stapfte sie kräftig die Treppe hinunter an Edwin vorbei und schien ihr letztes Wort gesprochen zu haben.

Nun aber war die Reihe, stehen zu bleiben, an ihm.

Also auch Sie wissen nicht, was Sie aus der wundersamen Erscheinung machen sollen? fragte er mit geheucheltem Erstaunen, während ihm das Herz vor Erregung schlug. Nun, wenigstens ihren Namen wird sie Ihnen nicht verschwiegen haben.

Die Frau drehte sich nach ihm um und schien sich ihren Mann noch einmal ansehen zu wollen, ob er wirklich so unschuldig sei, wie seine Fragen, oder ein schlauer Spion, der sie ausholen wolle. Seine schlichte Miene, auch wohl der vernachlässigte und doch anständige Anzug schienen sie zu beruhigen.

Ihren Namen! brummte sie. Was thue ich mit 117 einem Namen? Toinette Marchand – kann sich nicht Jede so nennen und doch eigentlich ganz anders heißen? Auch geht mich das gar nichts an, ob meine Miether Hinz oder Kunz heißen, wenn ich nur sonst weiß, woher und wohin. Die aber – glauben Sie wohl, daß ich seit vierzehn Tagen noch nicht klüger aus ihr geworden bin, ob ich wirklich was Reputirliches vor mir habe, oder nur so plattirte Waare, Sie verstehen mich? Denn eigentlich habe ich das Quartier in der Beletage an den Herrn Grafen – ich darf Ihnen den Namen nicht nennen – vermiethet, der hat die Zimmer auch erst so einrichten lassen, für eine Cousine, sagte er. Nun, was das für Cousinen zu sein pflegen, weiß man. Aber wir werden die Welt nicht verbessern, lieber Herr, und wenn ich meiner Miethsleute Hüterin sein wollte, da hätt' ich viel zu thun. Also gut, endlich ist Alles fertig, so blank wie in einer Puppenstube – eine schwere Menge Geld hat der Graf sich's kosten lassen, aber wer ihm ein Schnippchen schlägt und ihn damit sitzen läßt, war die Cousine. Eine von der Oper, sagte mir später der Kammerdiener, ein leichter Flügel soll es gewesen sein, die war ihm eines schönen Tages mit einem Russen durchgegangen. Nun, mir konnt' es tuttegal sein, ich bekam vierteljährlich richtig meine Miethe, so wie so, konnte, wenn ich Lust hatte, auf den schönen Plüschteppichen in der leeren Wohnung spazieren gehen und brauchte nicht einmal übers Moralische, was einem doch auch nicht gleichgültig ist, durch die Finger zu sehen. Eines schönen Vormittags aber – ich begoß gerade die Palmen im Blumentisch 118 – kommt mein Herr Graf doch noch richtig mit einem schönen Frauenzimmer angezogen, aber nicht die Cousine, sondern – ja wer? das ist eben die Frage. Er benahm sich sehr respectirlich zu ihr, aber während sie sich Alles besah, wisperte er mir zu, daß ich thun sollte, als wär's eine Chambre garnie, kostete aber doch nicht mehr, als monatlich zwölf Thaler. Nun, mir konnt' es recht sein, wenn sie's partout noch einmal bezahlen wollte, und ein Spottgeld ist's ja ohnehin für solche fünf Zimmer und Küche und Keller. Auch gefiel es dem Fräulein ganz erschrecklich, und sie blieb gleich da und ließ sich ihren Koffer von der Eisenbahn abholen. Eine Aufwärterin mußte ich ihr besorgen, die ihr das Essen aus der Restauration holt; die Jungfer und das Jüngelchen von einem Lakayen miethete sie selbst – na und sehn Sie, seitdem, obwohl ich manchmal angefragt habe, ob ich ihr Nichts besorgen könnte – nicht zwanzig Worte habe ich mehr mit ihr gewechselt. Haben Sie davon eine Vorstellung? So hochmüthig und verstockt bei der Jugend?

Und der Graf? preßte Edwin hervor.

Das ist nun erst gar das Verdächtigste. Seit jenem ersten Tag, wo er auch gleich wieder ging, hat er keinen Fuß mehr über ihre Schwelle gesetzt. Nicht einmal der Kammerdiener hat sich blicken lassen, daß man von dem etwas erfahren könnte. Was da passirt sein mag, ob sie sich gleich zu Anfang verzürnt haben – unser Herrgott mag es wissen. Uebrigens, Kummer scheint es ihr sehr wenig zu machen. Wenigstens läßt sie sich Nichts 119 abgehen, Wagen und Pferde, die schönsten Toiletten, jeden Abend im Theater – ja, mein lieber Herr, wir Beide bezahlen's nicht, also kann es uns gleich sein. Aber daß es nicht mit rechten Dingen zugeht, steht fest. Denn aus Nichts wird Nichts, und so was ist mir noch nicht vorgekommen. Glauben Sie, daß sie nur eine Sterbensseele, was Mannspersonen sind, über ihre Schwelle läßt? Zu keiner Tages- und Nachtstunde, sage ich Ihnen. Denn obwohl ich im dritten Stock wohne, ich weiß jede Katze, die ein- und ausgeht, und ihre Jungfer hat auch kein Schloß vorm Munde. Nun bitte ich Sie, so jung, und bildhübsch ist sie ja auch, und so viel Geld, und doch immer allein, wenn da nicht was dahinter steckt, so was für den neuen Pitaval, Sie verstehen mich – nein, nein, das lasse ich mir in meinem Hause nicht bieten: immer die Karten auf dem Tisch und seine Honneurs bekannt, das ist mein Wahlspruch, denn wofür hat man sein bischen Reputation, wenn einem eines schönen Tages die Polizei ins Haus kommen soll? Uebrigens werden Sie keinen Gebrauch davon machen. Es hat mir jetzt gerade von der Seele gemußt, und meine Worte und Thaten brauchen auch das Licht nicht zu scheuen. Ja, ja, lieber Herr, es ist viel von Gottes Wort zu sagen!

Damit machte sie, in vielfachen Absätzen unten an der Hausthür angelangt, Edwin ein verbindliches Compliment und steuerte quer über die Straße einem Laden zu.

Auch er entfernte sich. Er hatte nicht den Muth, erst noch von drüben nach ihren Fenstern zurückzusehen; sie konnte es auffallend finden, daß er noch immer das 120 Haus umschlich. Und doch – wie viel hätte er darum gegeben, wenn nur ein flüchtiger Blick von ihr ihn getroffen und die dichten Nebel des Argwohns und der Trauer zerstreut hätte, die während des Geschwätzes der Wirthin immer beklemmender sich um seine Brust gelegt hatten. 121



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