Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Dreizehntes Kapitel.

Stoßen Sie sich nicht an den ersten Eindruck, setzte sie halblaut hinzu. Auch ich habe erst etwas zu überwinden gehabt; aber es ist nicht allen Bäumen Eine Rinde gewachsen. Die Gaben dieses Mannes liegen in der Tiefe.

Der so Angekündigte trat jetzt mit einer leichten Verbeugung herein, warf einen raschen, seltsam bohrenden Blick auf Edwin und küßte dann mit einer linkischen Manier, wie ein Knabe, der es zum ersten Mal einem Erwachsenen nachmacht, der Professorin die Hand. Als sie ihm Edwin's Namen nannte, verbeugte er sich mit gesuchter Höflichkeit, warf sich aber dann wie in großer Erschöpfung auf das Sopha und nahm weiter keine Rücksicht auf den neuen Bekannten. Vielmehr fing er an, sich sehr zwanglos gleichsam seines Hausrechts zu bedienen, eine enge schwarze Binde, die ihm den starken Hals umschnürte, abzureißen und ein Glas südlichen Weins, den ihm die Professorin einschenkte, mit sichtbarem Behagen auszuschlürfen, wobei er beständig mit halblauter, unmelodischer Stimme von allerhand 181 Laufereien und Besorgungen erzählte, die er im Auftrag der Professorin trotz der heißen Mittagsstunde noch ausgeführt hatte.

Edwin hatte Muße, ihn zu betrachten. Er fand die Warnung, durch den ersten Eindruck sich nicht völlig abschrecken zu lassen, sehr nöthig. Wäre er seiner Stimmung gefolgt, so hätte er keine Minute länger die Luft mit diesem wunderlichen Heiligen getheilt. Nun blieb er und beschloß, ein Studium aus ihm zu machen.

Wer diese stark ausgeprägte Stirn, die breite Nase, den großen, beständig regsamen, zuckenden und schmeckenden Mund näher betrachtete, mußte das Gesicht bedeutend, in den seltenen Augenblicken der Ruhe sogar anziehend finden. Buschiges, ungepflegtes Haar hing um die gewölbten Schläfen, der Bart war sorgfältig rasirt und die Wangen bläulich davon gefärbt. Am abstoßendsten fiel es Edwin auf, daß der Candidat die Augen entweder fest an den Boden heftete, oder gegenstandslos an der Zimmerdecke schweifen ließ, ohne die Menschen umher anders als mit kurzen Seitenblicken zu streifen. Dabei war ein stehendes bitteres Lächeln, wenn er schwieg, um die spielenden Mundwinkel zu sehen, das sofort verschwand, wenn er zu reden anfing. Dann lagerte sich ein fast schwärmerischer Ernst auf seine schwarzen Brauen, eine heftige Entschlossenheit und herrische Unerbittlichkeit, auch wenn er das Sanfteste und Menschenfreundlichste äußerte.

In seiner schwarzen, ganz weltlichen Kleidung war nichts Auffallendes, als daß er Schuhe trug, mit denen 182 er fast unhörbar auftrat, und einen braunen Strohhut mit handbreitem schwarzen Bande.

Nachdem er eine Weile von Kranken- und Armenbesuchen berichtet und dabei ein zweites und drittes Glas geleert hatte, sah er nach einer unförmlichen silbernen Uhr, die er aus der Brusttasche seines schwarzen Rockes zog, und stand rasch auf, mit dem Vorgeben, seine Minuten seien ihm heute zugezählt. Auf den gutmüthigen Scherz der Professorin, es sei seltsam, daß Jemand, der, wie er, stets im Ewigen lebe, niemals Zeit habe, antwortete er nicht einmal mit seinem gewöhnlichen Lächeln. Erst an der Thür, nachdem er bisher kein Wort an Edwin gerichtet, sagte er plötzlich: Es wird mir eine Ehre sein, Sie zu begleiten, Herr Doctor, wenn Sie nur so lange zu verziehen belieben, bis ich noch ein Wort mit unserer vortrefflichen Freundin unter vier Augen gesprochen habe. Geschäftssachen! fügte er, seine Gönnerin ruhig anblickend, hinzu. Diese schien dergleichen erwartet zu haben. Sie ging ohne jedes Zeichen der Neugier in das Studierzimmer des seligen Mathematikers voran, und Lorinser folgte ihr.

Edwin's Mißempfindung war so stark geworden, daß er sich schwer überwand, auf die Begleitung des Candidaten zu warten. Er konnte kein Wort von dem verstehen, was drinnen verhandelt wurde. Nur so viel war zu hören, daß die Professorin sich ereiferte, Lorinser sie aber bald zu beschwichtigen wußte; dann wurde ein Kasten aufgeschlossen und Geld auf einen Tisch gezählt. Gleich darauf erschienen Beide wieder im Wohnzimmer, 183 die Professorin sichtbar verstimmt und mit gerötheten Wangen, Lorinser hinter ihr in der unbefangensten Haltung. Er küßte wieder die hübsche Hand der Wittwe und flüsterte ihr ein Wort zu, das Edwin nicht verstand, litt aber nicht, daß sie mit hinausging.

Draußen saßen die Näherinnen still bei ihrer Arbeit. Die Jüngste darunter war eine schlankgewachsene Brünette mit dickem, glänzendem Haar und prachtvollen schwarzen Augen. Als Lorinser an ihr vorbeiging, glaubte Edwin zu bemerken, daß das Mädchen erröthete und das Gesicht tiefer auf ihre Arbeit bückte. Der Candidat aber schien sie so wenig zu beachten wie die Anderen.

Dann auf der Straße, als sie ohne zu reden eine Strecke neben einander hin gegangen waren, stand Lorinser plötzlich still, nahm den Hut ab und sagte, einen verlorenen Blick in die Wolken richtend: Sie müssen mich nicht falsch beurtheilen. Diese Art praktischer Religionsübung, dieses geschäftige Sich-den-Himmel-verdienen-wollen, indem man sich um die irdischen Geschöpfe verdient macht, widerstrebt mir von Grund der Seele, und wenn ich mich dabei zum Werkzeuge brauchen lasse, geschieht es nur, um wenigstens Methode in den Wahnsinn zu bringen. Denn dies Thun mag Alles sein, was man will, warmherzig, nützlich, für gewisse Naturen ein Bedürfniß: von dem, was wahrhaft Religion ist, ist es so himmelweit verschieden, wie jeder Menschendienst vom echten Gottesdienst.

Ich kenne die Professorin erst seit heute, versetzte Edwin. Aber sie hat mir nicht den Eindruck gemacht, 184 als ob sie zu Denen gehörte, die durch ihre guten Werke auf einen Platz im Himmel zu pränumeriren hoffen. Sie kann sich eben Dienst, also auch Gottesdienst nicht ohne Thätigkeit denken.

Damit sprechen Sie ihr das Urtheil, sagte der Andere, indem er seinen Blick aus der Höhe wieder zur Erde lenkte. Thun ist ein zeitliches Ding; Sein, Schauen, Sichergeben – nur dadurch gelangen wir schon hier, wenn auch unvollkommen, zum Genuß des Ewigen. Es ist möglich, daß in einer reineren und sensibleren Hülle, als wir sie jetzt tragen, uns auch Organe wachsen, mit denen wir thätig an der unaussprechlichen Energie der Gottheit Theil nehmen, gewissermaßen Mitarbeiter Gottes werden. Hienieden ist das Höchste, was wir erreichen können: eine ekstatische Empfindung davon, daß wir Gott erleiden. Alles, was uns darin irre macht, unsern Kräften einen behaglichen Spielraum schafft, uns, so zu sagen, aus dem Beruhen in Gott hinauslockt, um uns auf uns selbst zu stellen, ist, mag es weltlich betrachtet noch so verdienstlich scheinen, eine Sünde gegen den heiligen Geist, ein Verbrechen an unserer eigenen Seele. Ich weiß nicht, wie weit Ihre Philosophie Sie befähigt, mir zu folgen.

Bis zu den äußersten Consequenzen Ihrer Weltanschauung, die auf den sehr wohlbekannten mystischen Quietismus hinauslaufen, erwiederte Edwin mit ruhigem Lächeln. Es ist nicht das erste Mal, daß ein so gemischtes Temperament – auch Sie sind ohne Zweifel phlegmatisch-cholerisch – mir begegnet, und meine 185 Psychologie ist um die Formel dafür nicht verlegen. Nur das ist mir neu und nicht eben verständlich, wie Jemand mit dieser Gesinnung Geistlicher werden mag, ein Amt annehmen als Diener einer Religion, die sich die Religion der Liebe nennt.

Sie haben völlig Recht. Auch bin ich ein zu ehrlicher Mensch, um in die armseligen Compromisse und Gewissensränke einzuwilligen, die, aus anderen Ursachen, die meisten Geistlichen zeitlebens mit sich schleppen, wie entsprungene Galeerensclaven die Kette, die ihnen ins Fleisch gewachsen. Ich will auch mit der sogenannten Staatsreligion nichts zu schaffen haben und verabscheue oder bemitleide überhaupt den Wahn: Religion lasse sich massenweise betreiben, wie ein Actiengeschäft, über dessen Bedingungen ein Gesellschaftsvertrag errichtet ist. Nie hat es eine Offenbarung gegeben, die ein für allemal als die allgemeingültige vom Himmel auf die Erde gekommen wäre. In jedem Augenblick offenbart sich die Fülle der göttlichen Gnade neu, stirbt der Menschensohn neu, erlös't der gottinnige Mensch sich neu durch das Blut des Heilands. Aber davon wissen und ahnen nur Die etwas, die das Gold ihrer Gottesliebe nicht in die Scheidemünze der sogenannten Nächstenliebe auswechseln lassen, um dann Bettler zu sein, wenn Gott Opfer fordert. Wir haben nur Einen Nächsten, das ist Gott. Unser Leben ist nichts als ein Gnadenact des Schöpfers, uns durch die zeitliche Entfremdung von ihm den Wunsch, die Begierde, die Leidenschaft der Wiedervereinigung und damit zuerst den bewußten Genuß des Zurücksinkens in 186 das Ewige zu gewähren. Die Seelen, die dazu nie gelangen, sind gleichsam nur die trüben Elemente in dem gediegenen Gotteswesen und werden in dem großen Schmelzofen der Zeit wie Schlacken aus dem lauteren Erz ausgeschieden und an den Rand geworfen.

Sprechen Sie nur weiter, sagte Edwin nach einer Weile, als Jener verstummte. Ich erwiedere Nichts, weil ich es als ganz fruchtlos erkannt habe, einer solchen phantastischen Seelenstimmung gegenüber mit Begriffen zu operiren. Aber es interessirt mich immer von Neuem, diesen seltsamen Zustand sinnlich gesteigerten Tiefsinns zu beobachten, der nicht ruht, bis, auf seiner höchsten Stufe angelangt, die übermenschlich angespannte Kraft in eine wollüstige Ohnmacht umschlägt.

Lorinser blieb wieder stehen und warf seinem Begleiter einen jener schiefen Blicke zu, die seine Züge unheimlich entstellten.

Ich sehe, daß Sie theoretisch der Sache ziemlich nahe gekommen sind, sagte er. Vielleicht sind Sie auch dem Erlebniß selbst näher, als Sie denken. Wie unbefriedigend die gewöhnliche verstandesmäßige Zersetzung der Lebensprobleme ist, muß Ihnen, wie jedem redlich Strebenden, längst klar geworden sein. Aber die Meisten sind, wenn sie dahin kommen, wo ihre Welt mit Brettern vernagelt ist, bescheiden genug, hier die Grenze aller menschlichen Erkenntniß zu sehen und wie fromme Schaafe, die sich den Kopf an ihrer Hürde stoßen, umzukehren. Mein werther Herr, der Zaun ist nicht so hoch, daß man ihn mit dem rechten Anlauf nicht 187 überspringen könnte, und dieser Sprung ist so wenig ein salto mortale, daß das eigentliche wahre Leben erst jenseits anfängt. Gott ist überschwänglich. Sollen wir ihm nahe kommen, müssen wir uns zu ihm hinüberschwingen.

Und Sie glauben, es komme bei diesem Sprung nur auf unsern guten Willen an?

Nicht ganz. Nicht Jeder, auch wenn ihm das Ungenügen an der Seele frißt, hat die sinnlichen Kräfte erhalten, seinen Geist zu beschwingen. Es giebt Gemüther, wie eben unsere gute Professorin, denen die dazu nöthige elastische Schnellkraft fehlt. Aber wo sie überhaupt vorhanden ist, kann sie, wie jede Kraft, geübt und gestählt werden.

Sie würden mich sehr verbinden, lächelte Edwin, wenn Sie mir gelegentlich zu dieser Gymnastik nähere Anleitung geben wollten. Hier aber bin ich an meinem Hause angelangt. Ich darf Sie wohl nicht einladen, sich mit hinauf zu bemühen. Die alte Treppe ist dunkel und steil, und man muß Stufe für Stufe sich hinauftasten, für einen Dialektiker meines Schlages eine leichtere Operation, als für den, der sich ohne Vermittelung durch alle sieben Himmel schwingt.

Lorinser schien den Scherz zu überhören. Seine Augen folgten unverwandt einer weiblichen Gestalt, die kurz vor ihnen von der anderen Seite sich dem Hause genähert hatte und mit leichtem Gruß gegen Edwin hineingetreten war.

Wer ist die Dame? fragte er. 188

Unsere Hausgenossin, eine sehr talentvolle Musiklehrerin, die ganz zurückgezogen lebt, so sehr, daß ich Ihnen nichts weiter über sie zu sagen weiß.

Erlauben Sie, daß ich mich noch einen Augenblick bei Ihnen umsehe, versetzte Lorinser und trat Edwin voran in den Hausflur. –

Balder sah erstaunt von seinem Buche auf, als Edwin mit dem wunderlichen Gesellen eintrat. Er ließ eine Weile seine sanften, seelenvollen Augen auf dem unheimlichen Gesichte ruhen, schien dann aber Alles gesehen zu haben, was ihm irgend daran merkwürdig sein konnte, und vertiefte seine Blicke beharrlich in das stille Sonnenlicht auf dem Akazienwipfel.

Desto anziehender war offenbar die Erscheinung des Jünglings für den Candidaten. Sofort lenkte er das Gespräch auf seine mystischen Erfahrungen, Offenbarungen und Gottesgenüsse, wie er sie nannte, zurück und behauptete, indem er sich unverhohlen schmeichlerisch gegen Balder wandte, gerade er scheine ihm von der Natur besonders gnadenreich dazu ausgerüstet, um in die Tiefen dieser Geheimnisse einzudringen. Er wolle ihn, wenn ihm daran liege, zu anderen Auserwählten bringen, wo ihm Erleuchtungen zu Theil werden sollten, gegen die sein bisheriges Verhältniß zu Welt und Leben ihm schaal und unersprießlich erscheinen würde. Edwin begnügte sich, dann und wann eine sarkastische Frage einzuwerfen, die Lorinser nur mit einem Achselzucken beachtete. Balder aber, der seinem Dringen eine unerschütterlich kühle Ruhe entgegensetzte, entschuldigte sich kurz, er pflege nicht auszugehen und 189 fühle überdies gar keine Sehnsucht nach anderen Wundern, als die sich ihm durch seine offenen Sinne und ein stilles Sinnen offenbarten.

Sie werden anders darüber denken, wenn Sie tiefer eingeweiht sind, versetzte der Candidat. Ich glaube dreist behaupten zu können, Sie sind, ohne es noch zu ahnen, in ungewöhnlichem Maße ein Kind Gottes. Die Stunde wird kommen –

Hier unterbrach ihn der Eintritt Reginchens, die den Brüdern das Essen brachte. Lorinser würdigte sie nur eines sehr flüchtigen Blicks, und auch die Gerichte, die sie auftrug, schienen ihm nicht »auserwählt« genug, um ihn zu längerem Bleiben einzuladen. Er bat um die Erlaubniß, bald wiederzukommen, und entfernte sich mit einem vertraulichen Lächeln gegen Balder, das diesem entging, da er eben im Zimmer herumhinkte, um dem Reginchen beim Tischdecken behülflich zu sein.

Herr du meine Güte, sagte das blonde Kind, als die huschenden Tritte draußen über die Treppe glitten, was ist das für ein sonderbarer Herr! Ich möchte lieber, daß Mutter mich einen halben Tag lang auszankte, als eine halbe Stunde die ausgestorbene Stimme hören und das Schleichen wie auf Filzsocken. Zum Glück sieht er keinem Menschen recht in die Augen. Denn wenn er es thäte, kein Mensch könnte es aushalten, ich wenigstens nicht. Haben Sie wohl bemerkt, Herr Walter: das Weiße in seinen Augen ist wie von Perlmutter, oder wie das Quecksilber in unserm Thermometer. Es sieht ganz spukhaft und unmenschlich aus. 190

Du ahnungsvoller Engel du! rief Edwin lachend. Aber fürchten Sie sich nicht vor ihm, Reginchen. Dieser gottselige Teufel kommt sobald nicht wieder; er hat gesehen, daß er über unsere armen Seelen keine Gewalt hat, und auch unser Fleisch – ich meine das vortreffliche Stück, das uns Ihre Mutter heut aufgetischt – hat seinen Appetit nicht gereizt.

Ich wollte, du hättest Recht, sagte Balder. Aber ich fürchte, wir werden diesen trüben Gast nicht so bald wieder los; er lauert nur auf eine günstigere Gelegenheit, sich wieder einzuschleichen, wenn ich auch nicht begreife, was er hier zu finden hofft.

Wir wollen's abwarten und nöthigenfalls unser Hausrecht brauchen. Da hat er uns seine Karte zurückgelassen: Unter den Linden Nr. 10. Natürlich in der vornehmsten Gegend. Die Kinder Gottes, die nicht säen noch ernten, da ihr himmlischer Vater sie doch ernährt, können sich allen Luxus gestatten, während wir Kinder der Welt – aber Sie haben Recht, Reginchen, das Essen wird kalt. Komm, Kind, laß dir ein Glas Wein einschenken. Ich aber bitte mir ein Glas Wasser aus, um meinen Aerger über den falschen Propheten niederzuschlagen. 191



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