Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Siebentes Kapitel.

Aus Lea's Tagebuch.

Seit ich die alten Hefte verbrannt habe, in denen ich so gewissenhaft von all meinen inneren Kämpfen vor und nach der Confirmation mir selbst Rechenschaft gab, habe ich ein Grauen vor allem Schreiben gehabt. Aber, ist es nicht, als ob ein Mensch, der die Blattern gehabt hat und sich zum ersten Mal wieder im Spiegel sieht, das unschuldige Glas zerschlagen wollte, das ihm sein wahres Gesicht zeigt? – Ich wollte doch, ich hätte jene Tagebücher nicht verbrannt. Sie enthielten freilich eine Krankheitsgeschichte; aber hat man sich zu schämen, wenn man das Fieber bekommt und in ängstlichen Träumen phantasirt?

»Und was mich damals befiel – ich müßte mich sehr täuschen, oder nur Wenige entgehen dieser Entwickelungskrankheit, und diese Wenigen nur, weil ihre Natur zu schwach und ihr Blut zu träge ist.

»Bedenk' ich es aber recht, so war es nicht die Scham, daß ich so kindische Qualen leiden mußte, um zur Klarheit durchzudringen, was mich die alten 292 Schreibereien vernichten ließ; es war die nagende Reue, daß ich schon so klar sein konnte und dennoch nicht den Muth fand, für meine Ueberzeugung offen einzustehen. Nicht einmal die Ausrede hatte ich, daß mein ungläubiges Gemüth mit sich selbst nicht völlig im Reinen gewesen sei und, als die Lippen das Bekenntniß nachsprachen, nur dunkel sich dagegen aufgelehnt habe. Ich wußte ganz unzweifelhaft, daß ich eine große Lüge sagte; meine eignen stillen Bekenntnisse, schwarz auf weiß, straften das laute Bekenntniß in der Kirche Lügen; und zu der ersten Feigheit beging ich noch die zweite, diese stummen Zeugen zu vernichten, als ob ich dadurch mein Bewußtsein hätte ersticken können! – –

»Ich weiß noch, wie es mich damals überlief, wie ein eisiger Todesschauer, als ich, einen nach dem andern, alle die Hauptsätze der Confession, die mein starrer Kopf seit Monaten umsonst zu fassen sich bemüht hatte, so laut durch die Kirche schallen hörte, und auf jeden schrie eine Stimme in mir Nein! und immer Nein! und dann kam dennoch das Ja! von meinen Lippen, und ich fühlte mich plötzlich wie entseelt, da ich mein eigenes Wesen verleugnet hatte, so öffentlich und so feierlich. Mir war, als hätte ich mein Dasein selbst abgeschworen, das Intimste und Eigenste für etwas Fremdes und das ewig Fremde für mein Vertrautestes ausgegeben. O diese Beschämung, diese Betäubung, in der ich nach Hause kam und mir gratuliren lassen mußte zu meiner Schmach und Entwürdigung! – Monatelang habe ich kein Herz wieder zu mir selber fassen, nicht wieder vertraulich mit 293 mir umgehen können, so tief war ich mit mir selbst zerfallen.

»Damals fielen mir auch gar keine Milderungsgründe ein, nicht meine schüchternen sechzehn Jahre, nicht das Entsetzen, das rings durch den feierlichen Raum gegangen wäre, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte, ja nicht einmal an das dacht' ich, was doch im Grunde den Ausschlag gab: an den Kummer, den ich meinem lieben Vater durch einen so unerhörten Auftritt gemacht hätte. Ich hörte immer nur meine eigne Stimme eine Lehre bekennen, von der mein Herz nichts wußte, die ich mir selbst so klar bestritten, so unumwunden abgelehnt hatte, und nun dennoch als den Inhalt meines tiefsten Denkens und Fühlens bekannt! Wie ein Meineid lag es mir auf dem Gewissen! – Da verbrannte ich die Hefte. – –

»Warum habe ich jetzt ein neues angefangen? Was hab' ich denn mit mir selbst zu besprechen? Ach, ich bin vor lauter Stummsein, wozu ich mich aus Angst vor dem Klang meiner eigenen Gedanken gewöhnt, zuletzt dahin gekommen, daß die Gedanken überhaupt mir untreu werden, daß mir auch die Natur und die Welt und mein eigenes Herz verstummt. Freilich, ich habe Niemand, dem ich gerade das Eigenste in mir sagen könnte. Mein Vater würde erschrecken, wenn er meine Seele an so tiefen Abgründen hinschreiten und so einsame Höhen erklimmen sähe. Tante Valentin spricht eine andere Sprache. Und sonst – wer so durchs Haus geht und mich für ein wunderliches, nicht sehr liebenswürdiges 294 junges Mädchen hält, das wenig Entgegenkommendes habe –

»Es ist auch einerlei. Im Grunde ist Schweigen viel beseligender; aber mit sich selbst zu sprechen soll man nicht verlernen. Ich will es wieder üben. Bis jetzt bin ich noch immer gut mit mir ausgekommen, bis auf jenes eine tiefe Zerwürfniß.

»Und daran – das habe ich jetzt klar erkannt – ist die Unsitte Schuld, junge Menschen, gerade wenn sie anfangen, den Werth der Worte zu ahnen, die Schwere der Welträthsel, die Tiefe der Lebensabgründe – gerade dann sie in den Fall zu bringen, mit ein paar auswendig gelernten Antworten auf die geheimnißvollsten Fragen sich zu begnügen! Es ist grausam, sie zu nöthigen, entweder sich leichtgemuth aller Zweifel zu entschlagen, auf das ehrliche Gesicht eines braven Mannes hin, der von Amtswegen nicht zweifeln darf, oder den ungeheuren Muth zu haben, vor eine ganze Gemeinde hinzutreten und seine innerste Seele mit ihrem verhüllten Leben preiszugeben!

»Was ich während des Unterrichtes an Einwendungen äußerte, wurde so glücklich alles widerlegt – aus jener theologischen Selbstgenügsamkeit und Allweisheit, mit der überhaupt nicht zu streiten ist, da sie jeden geistigen Zweifel dem armen Grübler ins Gewissen schiebt und statt aller wirklichen Gründe nur die unergründliche Abfertigung hat: man müsse um den rechten Glauben Gott bitten, der ihn dann schon verleihen werde. Heißt das nicht, wenn ich Hunger habe und um Brod bitte, 295 mir einen Schlaftrunk reichen, daß ich mein Bedürfniß vergesse und von vollen Schüsseln träume? Gedanken machen mir zu schaffen, und um ihrem Streit zu entgehen, soll ich um Gedankenlosigkeit beten?

»Aber sie sind glücklich dabei und gönnen und wünschen auch Anderen das gleiche Glück. Wenn nur Eine Speise Alle sättigte und nährte! –


Am 10. Mai.

»Mit Tante Valentin durch die Stadt gegangen, allerlei eingekauft. Dabei hat sie die Gelegenheit wahrgenommen, wieder an meiner armen Seele zu arbeiten, da ich schon dachte, sie habe es als hoffnungslos aufgegeben. Aber sie liebt mich wirklich, und so ermüdet sie nicht, mich immer von Neuem auf das, was sie selbst beglückt, hinzuweisen. Ich hab' ihr wenig erwiedert. Es war so viel Geräusch und Frühlingsgewühl auf den Straßen, seit Langem wurde mir wieder ganz hell und heiter zu Muth, warum sollte ich mir die schöne Sonne verderben mit Streiten und Michvertheidigen? Nur zuletzt, als wir schon wieder unser Häuschen sahen, bemerkte ich, um sie nicht in falsche Hoffnungen zu wiegen, daß ich freilich wohl erlös't zu werden bedürfte und mich oft mit Schmerzen danach sehnte. Aber ein Heiland, der auf meine Fragen nicht antworte, die trüben Stimmungen und Gedankenqualen in mir nicht kenne und als ein sündloser, vollkommener Gottmensch vor mir stehe – wie solle ich zu dem ein Herz fassen? Die mystische That 296 eines göttlichen Erlösertodes für die irrende Menschheit sei mir ewig dunkel geblieben. Nur einzelne schöne warme Strahlen seines Wesens hätten mich aus seiner Lehre erwärmt; aber ich bedürfe nicht nur erwärmt, sondern auch erhellt zu werden, ich hätte außer Herzensbedürfnissen, mit denen ich nie im Unklaren wäre, andere, die der Katechismus mir nicht stille, und die ich mit keinem Machtspruch – sie seien überflüssig oder gar vom Uebel – beschwichtigen könne.

»Mein lieber Vater begegnete uns, der eben ausgehen wollte, und schnitt der Tante die Antwort ab. Vor ihm wird nicht theologisirt, er hat es sich feierlich verbeten. Sein Verhältniß zu Gott und Allem, was »nicht von dieser Welt« ist, erfüllt so sein ganzes Wesen, daß er selbst sagt, es sei ihm wie eine zweite Gesundheit. Wenn man davon rede, sei man schon halb krank, da man sie sonst gar nicht spüre. Ich beneide ihn um die heitere Gewißheit des steten Verkehrs mit seinem Gott, der ihm so gegenwärtig ist, als ob er ihn mit Augen sehen und mit Händen fassen könnte. Ich dagegen fühle mich immer allein mit mir, meinem Menschenherzen, meinen Menschengedanken; die Tante nennt es gottlos; ich nenne es gottverlassen. Aber daß es so ist, ist es meine Schuld? Habe ich nicht redlich nach ihm gesucht, mit Thränen und in heller Verzweiflung, je näher die Zeit kam, wo ich mich öffentlich zu ihm bekennen sollte? – Und er hat sich nicht finden lassen! 297


Abends.

»Ich habe noch eine Arbeit fertig machen müssen, eine Vase, die zu einem Hochzeitsgeschenk bestimmt ist, Rosen und Myrtenzweige und die verschlungenen Buchstaben der beiden Namen in der Mitte. Ich begreife wohl, daß mein Vater so »in seinem Gott vergnügt« ist. Er hat ein viel bescheidneres Herz, ihm genügt auch seine Kunst, während mich mein Halbtalent beschämt. Auch das ist Sache des Bluts. Ein unmöglicher Gedanke, daß man wünschen (darum beten!) soll, gegen seine eigenen Mängel die Augen zu verschließen, sich zufrieden zu geben mit dem Geringen. Nicht murren, ja wohl; hinnehmen, was nicht zu ändern ist. Aber sein Urtheil selbst verfälschen, der sogenannten Zufriedenheit zu Liebe – davor erschrecke ich, wie vor einer schweren Sünde.

»Vielleicht, wenn ich ein großes Talent hätte oder sonst eine hohe, schwere Lebensarbeit, die mich beständig in Athem hielte, vielleicht entschlüge ich mich dann eher des Nachsinnens über unerforschliche Dinge. Wer etwas schafft, an das er selber glauben kann, verliert vielleicht mit der Zeit die Neugier oder das ängstliche Bedürfniß, über das Erschaffene um ihn her klar zu werden. Er weiß, oder bildet sich ein zu wissen, warum er lebt. Jeder Tag scheint es ihm zu beweisen. Ich dagegen – wenn ich meinem Vater nicht nöthig wäre –

Zwei Tage später.

»Ich habe vorgestern zu schreiben aufgehört, weil es mich plötzlich trieb, einmal wieder im N. Testament zu 298 lesen. Ich hatte es nicht wieder aufgeschlagen, seit so mancher unbegreifliche, drohende und verdammende Spruch darin mein Herz befremdet und ganz auf sich selbst zurückgewiesen hat. Jetzt, da ich die kindische Furcht verloren, als erschalle darin die Stimme eines unfehlbaren Geistes, eines Allwissenden, seit ich die Geschichte eines der edelsten und wunderbarsten Menschen darin erblicke, jetzt habe ich viel darin gefunden, was mich sehr erquickt hat. Nur die gedämpfte Stimmung des Ganzen hat mich zuletzt wieder beklommen gemacht. Was haben wir Menschen Befreienderes, Holderes, Tröstlicheres, als die Freude, die Freude an der Schönheit, an der Güte, an der Heiterkeit dieser Welt! Und während wir diese Schrift lesen, wandeln wir immer im Halbdunkel der Erwartung und Hoffnung, das Ewige ist nie erfüllt, sondern soll erst anbrechen, wenn wir uns durch die Zeit hindurchgerungen haben, nie erglänzt ein voller Schein der Fröhlichkeit, kein Scherz, kein Lachen – die Freude dieser Welt ist eitel – wir werden in eine Zukunft verwiesen, die alle Gegenwart werthlos macht, und die höchste Erdenwonne, uns in einen reinen, tiefen und liebevollen Gedanken zu versenken, soll uns auch verdächtig werden, da nur Derer das Himmelreich sein soll, die arm an Geist sind. –

»Ich bin es, aber es macht mich unselig, daß ich es fühle und zugleich fühle, wenn ich diese Beschränkung durchbrechen könnte, würde ich nicht mehr Die sein, die ich bin, also meiner Erlösung und Beseligung doch nicht 299 gewahr werden. Denn was über mich hinausgeht, ist doch nicht mehr mein. – –

»Und dann, daß dieser sanfte, gottbewußte Mensch, um der ganzen Menschheit anzugehören, mit so seltsamer Härte sich den Seinigen abwandte, daß er familienlos wurde – es hat wohl sein müssen – aber es erkältet meine Empfindung. Alles Große, was ich sonst liebgewonnen habe, war traulich, heiter, mitten in der Majestät durch die Fäden menschlicher Bedürftigkeit mit meinem Wesen verbunden. Wenn ich Goethe's Briefe lese – Schiller's enge Häuslichkeit – von Luther und den Seinigen – von Aelteren noch, bis zu Sokrates' böser Frau – immer spüre ich einen Hauch von dem Mutterboden, aus dem die Pflanze ihres Geistes gewachsen ist, der auch meinen so viel geringeren nährt und trägt. Aber die Weltlosigkeit ängstet und entfremdet mich, und zur Entschuldigung dafür habe ich freilich nicht den guten Glauben, daß das Alles, als bei einem Gott, ganz in der Ordnung sei. –


»Ich habe mir oft gewünscht, ich möchte witzig sein. Ich dachte, witzige Menschen wären gewiß sehr glücklich, da sie sich mit einem plötzlichen Sprung der Phantasie über allerhand Abgründe von Zweifeln hinweghelfen, an denen der ruhig Nachdenkende, dem kein glänzender Einfall plötzlich Flügel ansetzt, stehen bleibt und rathlos hinüberstarrt. Aber dann wieder möchte ich um keinen Beifall Anderer oder meiner selbst – da ich Witz sehr goutire – die ehrliche Arbeit hingeben, wenn sie auch 300 langsam vorrückt oder gar nicht zum Ziele kommt. Es ist das meine Frömmigkeit, da es mir an anderer fehlt. Und Witz und Andacht schließen sich doch wohl aus. Ohne das Gefühl aber, in stiller, redlicher Hingebung sich in das Räthsel des Lebens zu vertiefen, wäre das bischen Leben überhaupt nicht der Mühe werth. – –

Ende Juli.

»Ich habe Ernst gemacht mit meinen Naturstudien; ich denke, diese fleißigen Monate, die meine Mappen gefüllt haben, sollen mir zu Gute kommen; denn ich glaube nun meiner eigenen Anschauungs- und Darstellungsmanier auf der Spur zu sein und mich vom Angelernten, bei dem mir nie wohl war, nach Möglichkeit befreit zu haben.

»Darüber ist freilich das Tagebuch ins Stocken gekommen. Ich habe gemalt, bis mir nicht nur Hören und Sehen, sondern auch alles Denken verging. Wenn das Versinken in Natur und Kunst mich befriedigen könnte, hätte ich ein paar ganz erwünschte wunschlose Monate erlebt. –

»Tante Valentin hat uns einen jungen Mann ins Haus gebracht, auf den sie große Stücke hält, einen Maler, der der nazarenischen Schule angehört, gar nicht ohne Talent und auch sonst nicht unliebenswürdig ist, aber trotz seines Johanneskopfes, wie die Tante ihn nennt, mir sehr wenig gefährlich werden wird.

Am 2. August.

»Wenn ich mir vorstelle, ich sollte einem Manne angehören, so erschrecke ich immer, so sehr ich das 301 Bedürfniß habe, zu lieben, mein Herz hinzugeben, ja in seinen Tiefen Vieles sich entfesseln zu fühlen, was wie verborgene heiße Quellen eines Tages noch hervorbrechen wird. Aber ich weiß, daß ich nur dann mein ganzes Leben einem Menschen in Wahrheit überliefern kann, wenn er das ist, was ich in den Büchern vergebens gesucht, in Wahrheit mein Erlöser, wenn er an Kraft, Güte und Klarheit so über mir steht, daß ich immer von ihm empfange, so oft ich bitten mag. Geben soll seliger sein als Nehmen. Aber in der Ehe, dünkt mich, soll das Weib, wenn es sein Alles hingiebt, mehr als sein Alles zurückempfangen. – Es mag sein, daß dies Träumereien sind, wie sie ein müßiger Mädchenkopf sich ausspinnt, und daß in Wirklichkeit überhaupt eine solche Auflösung Zweier in Eins nicht möglich ist. Wenigstens meine eignen Eltern, so musterhaft sie nebeneinander standen, und die gute Tante und was ich sonst von glücklichen Ehen habe beobachten können, entsprach Alles nicht diesem Ideal. Indessen, es wird noch Zeit sein, sich davon abdingen zu lassen, wenn es sein muß. – –

Am 3ten.

»Die Tante hat nun geradezu mit mir über N—r gesprochen, daß er mich sehr hoch halte, sehr liebe und sich glücklich schätzen würde, wenn er meine Neigung und mich zum Weibe gewinnen könnte. Ich habe es kommen sehen und war um so unbefangener bei der Antwort, je weniger ich diese Gefühle erwiedere.

»Der mein Erlöser? der nicht von fern ahnt, wie 302 es in mir aussieht, und es nicht von fern begreifen würde, wenn ich ihm auch Alles sagte?

»Wir seien zu verschiedene Naturen, sagte ich einfach. Er täusche sich, wenn er glaube, ein Wesen, wie ich, könne ihn glücklich machen. – Die Tante widersprach lebhaft. Er wisse, wie es um mein Christenthum stehe, und gerade das habe den Ausschlag gegeben. Er fühle nun doch, wie viel er mir zu geben habe, da seine Bescheidenheit ihn sonst verzagt gemacht hätte. – Wir haben lange darüber hin und her geredet, ob auf die Möglichkeit der Bekehrung, der späteren Verständigung hin zwei so Verschiedengläubige es mit einander wagen dürften. Lieber Himmel, sie glaubt es, weil sie es wünscht! Dieser Grund zum Glauben fällt für mich weg, da ich nicht einmal wünsche, ihn zu mir heranzuziehen.

Eine Natur, wie er, die von allem Unbestimmten geängstigt wird, die Ruhe um jeden Preis sucht, selbst um den der Wahrhaftigkeit – ich meine, der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst – eine solche friedensselige Seele würde in dem Gedankensturm, der mein Element ist, sich auf den Tod erkälten. Es gehört Courage dazu, auf so einem einsamen Posten Schildwach zu stehen und nicht einmal zu wissen, wann man abgelös't wird – – und ob überhaupt! –

Mittwoch, den 6. früh.

»Diese Nacht bin ich wach geworden und habe der Hitze wegen nicht wieder einschlafen können. Ich stand endlich auf und setzte mich ans Fenster, wo die Nacht mit zahllosen Sternen zu mir hereinsah. Da hatte ich 303 plötzlich, wie Alles um mich her so stumm und beruhigt und dabei so groß und wundervoll war, eine Empfindung, als hörte ich deutlich meine eigene Seele zu mir sagen: Nein, es ist kein Herz in dieser unermeßlichen Weite, das den Schlag des deinen mitfühlte. Aber fürchte dich darum nicht. Wir athmen und regen uns und wollen und schauen nach ewiger Nothwendigkeit und sind selbst in der Oede der Mitternacht nicht einsam! – Und wie ich das zu mir sagte, hörte ich nebenan die friedlichen Athemzüge meines lieben Vaters und schlich leise in sein Zimmer. Da lag er, so liebevoll im Schlaf lächelnd, daß ich unwillkürlich neben ihm auf die Kniee glitt und leise seine Hand küßte, ohne daß er es merkte. – Dann habe ich mich wieder niedergelegt und so süß geschlafen, wie nie. – –

»Früher wenn es mir einmal einfiel, das, was sie Gott nennen, sei ein Bild nach ihrem Bilde geschaffen, überlief mich jedesmal ein abergläubischer Schrecken, als müsse ich für diese Verwegenheit irgend wie bestraft werden. Aber das ist kindisch, zu glauben, wenn wirklich ein bewußtes, allumfassendes, allerhaltendes Wesen die Welt in seinem Schooße trägt, würden unsere Zweifel oder unser Nichtbegreifen ihn aufbringen, ihn beleidigen, wie ein irdischer König es übel nimmt, wenn eine Schildwache ihm nicht die Honneurs macht. Dazu sind wir nun aber nach und nach durch die kindischen Spielereien und kleinen Komödien gelangt, die wir täglich mit dem höchsten Wesen aufführen sehen und selbst mitspielen, bis wir ernsthaft werden. Diesen ihren Gott, den sie 304 allgütig und allweise nennen, glauben die Menschen in katholischen Ländern zu kränken, wenn sie an einer Kirche vorbeigehen, ohne den Hut abzuziehen oder ein Kreuz zu schlagen, und in vielen protestantischen Häusern stillen sie ihren Hunger nicht, ohne den Erlöser mit zu Tisch zu laden. Das sind Spiele für Kinder und recht unschuldig und sogar anmuthig, wenn man nur über diesen kleinen, frommen, symbolischen Verrichtungen nicht so leicht die Fähigkeit verlöre, sich in die ungeheure Höhe und Tiefe eines Gottesbegriffs zu versetzen, wie er überhaupt der ungeheuren Welt würdig sein könnte. Aber sie machen aus ihm, was sie selber sind, ein empfindliches, launisches, durch Schmeicheleien zu lenkendes Wesen, das es nicht gut vertragen kann, wenn ein Mensch in der Freude über ein seltenes Glück dasselbe »beruft«, sondern diesem Armen sofort den Spaß wieder verdirbt, wenn es nicht durch die ausdrückliche Bitte, es doch ja nicht zu thun, noch einmal wieder begütigt wird; ein Wesen, daß zu all seinen großen Weltzwecken auch noch den im Auge behält, keinen Sperling vom Dache fallen zu lassen, ohne daß es zu dessen Besten diene, geschweige einen armen Schieferdecker, der Weib und Kinder unversorgt zurückläßt.

»Gut; sie mögen sich ihren Hausgott zurechtmachen, wie sie wollen und können. Aber warum wüthen sie mit Feuer und Schwert oder doch mit bösen verdammenden Worten gegen alle Diejenigen, die sich die erhabene Schöpfung mit einem so menschlich gearteten Schöpfer nicht reimen können, die für die Widersprüche 305 und Räthsel, die Härten und Unbilden des Lebens eine andere Versöhnung suchen, als die Belohnung und Vergütung in einem Jenseits? Warum soll ein Mensch, der Niemand mit seinem Irren und Suchen lästig wird, sich nicht auf eigne Hand durchschlagen dürfen, sondern immer nur den großen Heerweg gehen, wo beim Schein der privilegirten Lichter so Vieles geschieht und gutgeheißen wird, was ihn abstößt? – –


Später.

»Auch der Vater hat nun – in seiner zarten und gütigen Weise – bei mir angeklopft, wie ich über N—r denke. Ich habe ihm meine volle Gleichgültigkeit nicht verhehlt und ihn gebeten, den guten Menschen davor zu warnen, daß er sich keine Illusionen machen möge. Du weißt, sagte ich, ich bin immer ein schrecklich eigensinniges Kind gewesen, und nur Ein Mensch hat so viel Geduld mit mir, wie ich brauche – der Eine bist du. Ich wäre ja eine Thörin, wenn ich von dir ginge, um mich mit einem Andern zu zanken, der noch dazu gar nicht hört, was ich spreche, sondern von vornherein mich für ein verirrtes Schaf hält. – Er hat dann gelacht und gesagt, er wolle mich auch gar nicht hergeben, ich müsse ihm geradezu weglaufen, bis er sich darein fände, und übrigens habe er nur einmal sehen wollen, wie ich dächte; ihm sei die Sache gleich unwahrscheinlich vorgekommen.

»Ich merkte wohl, die Tante steckte dahinter, der er nichts abschlagen kann. Aber mit all seiner Weichheit 306 und Milde giebt es doch einen Punkt, wo er felsenfest wird und wir uns völlig verstehen: ein Mensch, dem es an echter Vornehmheit und innerer Größe fehlt, kann ihm nicht wahrhaft nahe treten, trotz der besten Eigenschaften. Und darum –


»Was ich oben schrieb, gestern Nachmittag, ist seltsam schnell bestätigt worden.

»Die Tante unterbrach mich und bewog auch Vater, die Arbeit ruhen zu lassen und das schöne Wetter im Thiergarten zu genießen. Es war ein Concert beim Hofjäger, zu einem wohlthätigen Zweck. Als wir hinauskamen, fanden wir richtig, wie ich vermuthet hatte, N—r schon dort, er hatte, da es sehr voll war, Plätze für uns belegt, so saßen wir ganz bequem und sahen die vielen eleganten Damen und Kinder um uns herumschwirren und hörten allerlei Ouverturen und Tänze, die ihren wohlthätigen Zweck an meinen Ohren wenigstens verfehlten. Aber die Luft war wirklich wie Balsam, durch den Regen heute früh ganz staublos und milde, und mitten in dem Concertlärm kam eine Stille und Fröhlichkeit über mich, daß ich der Tante sehr dankbar wurde, mir dies Vergnügen verschafft zu haben. Sie sah allerliebst aus – ich finde überhaupt, daß sie eigentlich nicht altert, sondern trotz ihrer schweren dogmatischen Studien etwas unschuldig Kindliches in den Zügen behält; – mein Vater war sehr heiter, sein neuer Rock stand ihm ordentlich elegant, und er mußte sich damit 307 necken lassen; auch N—r gefiel mir heute besser als sonst. Unter all den blasirten, leeren oder frivolen Gesichtern nahm sich seine ernsthafte, bescheidene Miene doch wie ein Menschengesicht unter lauter Masken aus.

»Auf einmal, gerade in einer Pause, hören wir an einem benachbarten Tische, wo einige Offiziere saßen, ein paar laute Worte, die uns galten, oder vielmehr mir selbst. Ein sehr übermüthig blickender junger Lieutenant fing an, ganz im Detail seinen Kameraden auseinanderzusetzen, warum er mich hübsch fand. Ich will es hier nicht wiederholen, aber, obwohl es nicht beleidigend gemeint war, war es doch gegen alle gute Sitte, zumal allerlei Späße, Geschichten und Anzüglichkeiten sich daran reihten, wie sie unter leichtfertigen jungen Leuten Ton sind. Vater wurde blaß und sah die Professorin an. Wir sollten weg gehen, sagte die Tante; das ist unerträglich. – Wir sollten es uns verbitten, erwiederte der Vater und warf einen Blick auf N—r. – Wir wollen doch lieber Streit und Aergerniß vermeiden, äußerte Der und wagte dabei nicht aufzusehen. Warum sollen wir nicht friedfertig bleiben und diese Kinder der Welt ihr Wesen treiben lassen, das uns nicht angeht? – Uns? sagte mein guter Vater und stand auf. Ich dächte, da wir hier um Einen Tisch sitzen, ginge es uns Alle an, wenn sich Jemand ungezogen gegen Einen von uns benimmt. Ich will doch einmal sehen, ob man diesen Schwätzern nicht den Mund stopfen kann. – Sie wollten –? rief N—r ganz betroffen. Aber der Vater hörte ihn schon nicht mehr. Er war an den Tisch 308 getreten, hatte höflich an den Hut gegriffen und sagte dann einige Worte mit so leiser Stimme, daß ich sie nicht verstand; die Aufregung machte, daß es mir vor den Ohren saus'te. Ich sah nur sein liebes, sanftes, redliches Auge von einem ungewöhnlichen Feuer erglänzen und eine Röthe seine Wangen überfliegen, und ein so fester Muth lag in seinen Zügen, daß selbst die hochfahrenden jungen Offiziere ganz kleinlaut wurden und keiner ihn unterbrach. Wie er fertig war, wartete er einen Augenblick, ob man noch etwas zu sagen hätte, dann, als sie alle schwiegen und nur der Hauptheld ein paar confuse Worte hervorstotterte, lächelte er ganz verbindlich, nahm seinen Hut wieder ab und verneigte sich gegen den ganzen Tisch. Indem fing das Orchester wieder an, und als das Stück zu Ende war, brachen unsere Nachbarn auf, vor meinem lieben ritterlichen Vater sehr höflich an die Mütze greifend, wobei der Redner von vorhin mich nicht einmal anzusehen wagte.

»N—r saß tiefbeschämt. Der Vater aber that, als wenn nichts vorgefallen wäre. Als wir hernach zu Dreien mit der Tante nach Hause fuhren – mein friedfertiger Bewerber hatte sich unter einem Vorwande verabschiedet – brach der Vater es aber doch vom Zaun, der Tante zu sagen, sie möchte in Zukunft diesen seltsamen Kauz nicht mehr aufmuntern, unser Haus zu besuchen. Ich weiß sehr wohl, sagte er, daß man seine rechte Backe hinhalten soll, wenn man auf die linke geschlagen worden ist. Aber wenn ich auch bei Insulten, die mir selber gelten, sehr wünschte, immer gleich zum Verzeihen 309 geneigt und fähig zu sein: sobald es einen Andern betrifft und vollends eine Dame, müssen Sie mir schon erlauben, mich zu wehren und Den, der dazu entweder nicht das Herz hat, oder nicht die Galle, für einen Schwachmaticus zu halten, mit dem ich lieber nichts zu thun haben mag.

»Wie wir dann zu Hause unter vier Augen waren, bin ich meinem lieben, herrlichen Papa um den Hals gefallen und habe ihn herzlich abgeküßt, bis er ganz außer Athem war und zu schelten anfing und dabei die Thränen in den Augen hatte vor Vergnügen.

»Von N—r ist nicht mehr die Rede zwischen uns gewesen. Ich glaube, ich werde ihn nicht wieder zu sehen bekommen.


»Wie die Tage so wenig bringen, was wirklich bis ans Herz dringt! Manchmal ist diese Leere in mir gar nicht drückend. Es ist dann wie ein Nebel über meinem Wesen, der schon anfängt, oben sich zu lichten, sich vergolden zu lassen von den ersten Strahlen der Sonne, die ich selbst noch nicht sehen kann. Eine liebliche, gelinde Spannung durchdringt dann mein Gemüth, wie die Erwartung sehr glückseliger Erlebnisse, Erfahrungen und Erleuchtungen, die gewiß bald eintreffen werden. Aber wenn dann wieder ein Tag in einförmigem Thun und Warten vergangen ist, leg' ich mich doch mit recht schwerem Herzen zu Bette und denke – wenn überhaupt Nichts käme? wenn all dein Hoffen und Harren dich zum 310 Narren hielte? Denn daß wir aus unsern Wünschen keinen Anspruch auf ihre Erfüllung, aus unsrer Sehnsucht kein Recht herleiten können, habe ich längst begriffen. – Wir streben alle ins Vollkommene, und bleiben darum doch alle in unserer Unzulänglichkeit.

»Aber daß es so viel Schönes, Tiefes und Beglückendes giebt, was selbst in meinen Schranken mir zugänglich wäre – und ich erreiche es doch nicht – ich bleibe ihm doch immer fern – das allermöglichste Glück ist mir unerschwinglich – –


»Ich bin heute lange an einem Buchladen stehen geblieben, wo medicinische und philosophische Werke im Schaufenster ausgestellt waren. Hätte ich nur so viel Geld, ich wagte es wahrhaftig und kaufte mir Alles zusammen, dessen Titel mich irgend reizt, und läse auf gut Glück mich hindurch, wie Jener im Märchen durch den Pfannkuchenberg sich durchaß und drinnen fand er märchenhafte Schätze. Aber das Wenige, was ich mit Malen verdiene –

»Darüber bin ich wieder einmal an unsern Bücherschrank gerathen, den ich schon in- und auswendig kenne. Was ich gerade suche und brauche, finde ich auch in unsern großen Dichtern nicht. Mechanisch nahm ich dann einen Theil von Becker's Weltgeschichte heraus und habe ein Stück hineingelesen. Wenn ich nur irgend ein Verhältniß zu diesen längstvergangenen Kriegen, Staatsumwälzungen und Welthändeln hätte! Aber die glückliche 311 Verlobung unserer kleinen hübschen Nachbarin, der Tochter unseres Hauswirthes, ist mir wahrhaftig in diesem Augenblick wichtiger, als daß Ninus die Semiramis geheirathet und Kleopatra mehrere Männer gehabt hat. Ist es nicht unter andern Namen, in anderen Ländern und mit anderen Kostümen so ziemlich immer dieselbe Komödie, über deren Woher und Wozu wir nicht klüger werden, auch wenn wir all diese vierzehn Bände durchgelesen haben?


»Und doch, wenn wir klug daraus würden, könnten wir dann das Leben noch ertragen? Ist nicht vielleicht die Einbildung, etwas sehr Wichtiges, Nöthiges und Erfolgreiches damit zu thun, daß man existirt – ist dieser Wahn nicht vielleicht das Beste am Dasein überhaupt? Im Theater soll man doch möglichst vergessen, daß die Menschen hinter den Lampen geschminkt sind und statt auf die Stimme ihres Herzens auf den Souffleur horchen. –

»Ich habe aus meiner Kinderzeit immer noch im Sinn, wie mir zu Muth war, Abends, wenn ich auf dem Wassertreppchen über dem Canal saß und auf den kleinen Fleck starrte, den der dünne Sonnenstrahl zwischen den hohen Dächern hindurchschleichend vergoldete. Jedesmal griff ich danach und meinte, ich müsse das Goldwasser in die Hand bekommen. Da war's wieder nur so trübe und schmutzig, wie überall in unserer Lagune. Aber ich hatte mir eingebildet oder irgendwo gelesen: 312 wenn man das Zauberwort wisse, werde es nicht wieder gewöhnliches Wasser, sondern flüssiges Gold bleiben. Ja, wer das Zauberwort wüßte! –


»Mein guter, prächtiger, immer liebevoller, immer für mich sorgender Vater! Heute hat er mir eine Freude gemacht, wie noch nie. Er hat einen Lehrer für mich gefunden und ihn gleich mitgebracht. Schon die ersten Worte, die ich mit dem Herrn Doctor gesprochen, haben mich überzeugt, daß er ganz anders ist, als alle Andern, daß er weiß, was ich bedarf, was ich in Büchern nicht gefunden und von Menschen bisher nicht erfragt habe.

»Wenn ich den ganz wundersamen Eindruck schildern sollte, den dieser Mann und unser erstes Gespräch« – –


Hier brach es plötzlich unten auf einer Seite ab. Die folgenden Blätter schienen mit einem feinen Scheerchen ausgeschnitten zu sein – wie viele, ließ sich nicht errathen. Dann begann in klarer, gleichmäßiger Schrift, während alles Frühere die Spuren des aufgeregten Moments getragen hatte, eine förmliche Ausarbeitung alles Dessen, was Edwin in den Stunden vorgetragen hatte. Er staunte, da sie in seiner Gegenwart kaum einmal einen Namen oder eine Jahreszahl aufgeschrieben, mit wie sicherer Klarheit hier der wesentliche Inhalt seines Vortrags wiedergegeben war, ganz ohne Mißverständniß, und doch durchaus mit eigenen Worten, so daß 313 dem Gedächtniß nur das geringere Verdienst davon zukam. Keine Aufzeichnung persönlicher Stimmungen oder Erlebnisse unterbrach den ruhigen Fluß dieser Gedanken. Nur manchmal ein Strich oder Fragezeichen am Rande, ein hingeworfener Satz, der bewies, daß der Geist der Schreiberin hie und da bis zur letzten Tiefe noch nicht durchgedrungen war und sich mit hartnäckigem Bemühen hineinzugrübeln suchte. – Man könnte es nur gerade so, wie es da steht, drucken lassen, als eine Geschichte der Philosophie für Frauen! rief Edwin, als er das Letzte gelesen hatte. Welch ein Kopf! Und ich, der ich dachte, wenn sie mit ihren großen Augen so träumerisch vor sich hin sah: wo sie nur wieder sein mag? – und da war sie vielleicht mehr, als ihr Lehrer, mitten in der Sache.

Schade, daß es schon aus ist! Ich möchte gern sehen, wie sie sich auch bei den Späteren aus der Affaire gezogen haben würde. Aber da ist ja noch mehr Geschriebenes.

Er hatte das Blatt umgeschlagen und las nun Folgendes:

»Das scheint mir das Schwerste im Leben und Diejenigen die Glücklichsten oder Genialsten, denen es am leichtesten wird, im Zwiespalt verschiedener Pflichten immer klar zu erkennen, welche die höhere ist. Wenn das Gute ganz einfach wäre, was wäre erfreuender, als immer gut zu sein? Aber daß der Verstand da mitreden muß, wo es sich um Herzenssachen handelt, daß man über das Sittliche nachzudenken hat und oft keine reine Entscheidung findet, das ist traurig, weil es einem das 314 Zuverlässigste, das eigene Gewissen, verdächtigt und – man mag wählen, was man will – einen Stachel, etwas zu Bereuendes in der Seele zurückläßt.

»Daß es unsere Pflicht ist, Niemand zu kränken, davon sind wir tief überzeugt. Das ist eben so wohl das Gesetz des Evangeliums, wie unserer tiefsten Empfindung, die alles Leiden der Welt solidarisch macht und jeden Einzelnen daher an der Verminderung des Weltelends mitarbeiten läßt durch Schonung der Andern. Und nun wieder strebt jeder Einzelne nach der Vervollkommnung, nach vollem Auswachsen und Aufblühen seiner Kräfte, und kann es doch selten durchsetzen, ohne Anderen zu schaden; wie ein Baum mitten im Walde nur so viel Licht und Luft hat, als seine Nebenbäume ihm einräumen. Und darüber verdorrt und verkümmert mancher und weiß es, und sieht das Ende voraus, und soll doch stillhalten –

»Und stillhalten sogar, wenn er Niemand damit zu Schaden brächte, wenn nur ein Vorurtheil es bestimmt, daß über eine gewisse Höhe und Breite hinaus zu wachsen nicht schicklich sei, oder daß Solche, die es sich dennoch herausnehmen, vom Blitz getroffen würden. O warum muß – –

(Hier waren einige Zeilen ausgestrichen. Dann, auf einer neuen Seite, ein Brief:)

»Ich habe nie geahnt, daß ich dieses Heft je aus den Händen geben würde, am wenigsten, daß es Ihnen, mein hochverehrter Lehrer, vor Augen kommen könnte. Aber Vater wünscht, daß der Unterricht, dem ich so 315 unaussprechlich viel zu danken habe, aufhöre, daß ich meine Gedanken überhaupt für eine Zeitlang von alle Dem abwenden möchte, was der Gegenstand Ihrer Lehrstunden war. Er hat mich gebeten, auch diese Blätter zu vernichten. Dazu aber kann ich mich noch nicht entschließen und habe es von ihm erlangt, daß er mir erlaubt hat, das Heft einstweilen Ihnen in Verwahrung zu geben. So kommt nur zu Ihnen zurück, was von Ihnen ausgegangen. – Die früheren Aufzeichnungen werden Sie, ich bitte darum, nicht belächeln, wenn Sie überhaupt dazu kommen, einen Blick hineinzuwerfen. Ich soll nun das entbehren, was in den letzten Wochen mein ganzes Sinnen und Denken erfüllt hat, und wofür ich Ihnen nie genug danken kann! Wie sehr mich das betrübt, kann ich nicht sagen, und fühle doch, daß dies der einzige Dank wäre, den ich Ihnen darbringen könnte, wenn ich Ihnen, verehrter Herr Doctor, völlig klar zu machen vermöchte, wie viel ich nun entbehren werde. Sie würden daraus erkennen, wie viel Sie mir gegeben haben, und daß ich Alles, auch was vielleicht noch zu hoch für mich war, mit dem bedürftigsten und redlichsten Willen entgegengenommen habe. Das wenigstens muß ich noch aussprechen, daß die Unvollkommenheit meines Verstehens und Ahnens mich in Zukunft nie mehr so ängstigen wird, wie früher, da ich nun weiß, es giebt klare Erkenntnisse, und auch ein ungelehrtes, einfaches Mädchen kann, wenn es sich zusammennimmt und den rechten Führer findet, wenigstens so weit kommen, die 316 Größe der Aufgabe zu verstehen und seine Kraft daran zu üben.

Leben Sie wohl, verehrter Herr Doctor. Nehmen Sie das kleine Erinnerungszeichen, das ich Ihnen zu schicken wage, freundlich auf, und gedenken Sie nachsichtig

                Ihrer innig dankbaren

Schülerin L. K.« 317



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