Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Zweites Kapitel.

Sein erster Gang war zu einem Hutmacher, der zweite in einen Kleiderladen. Als er dann, obwohl die Octobersonne warm herabschien, in dem neuen Winterpaletot seinen Weg nach der Kurfürstenbrücke fortsetzte, mußte er über seinen Schatten lachen, den er in dem stattlichen Umriß fast nicht wiedererkannte. Er stopfte sich dann noch die großen Taschen mit Apfelsinen voll, die Balder sehr liebte, kaufte allerlei andere Kleinigkeiten für ihn ein und kam sich dabei nicht wenig tapfer und mannhaft vor, da er es über sich gewann, den langen Weg in die Rosenstraße durch so vielfachen Aufenthalt noch zu verlängern. Es schien ihm jetzt sogar, als hätte er es überhaupt völlig in seiner Gewalt, ob er sie wiedersehen wolle oder nicht. Wenn er endlich doch an ihre Thüre klopfe, sei es vielmehr ein Beweis seines Muthes, da er der Gefahr so unbefangen entgegengehe.

Das dritte Haus gleich rechts um die Ecke – nun stand er davor. Daß es noch so früh am Tage und keine schickliche Besuchsstunde war, kümmerte ihn nicht. Doch ließ er sich gern von Mohr, der ihm zufällig gerade vor 20 dem Hause begegnete, noch eine Strecke weit mitschleppen und hörte geduldig dessen höhnische Kritik eines neuen Trauerspiels mit an, das gestern Abend Furore gemacht habe und eine armselige Mißgeburt sei, mit gestohlenen Lappen nothdürftig zurechtgestutzt. Was war ihm in diesem Augenblick »die Entartung der deutschen Bühne«, was selbst die Hoffnungen des Freundes, endlich seine Sinfonia ironica zur Anerkennung zu bringen, da ein sehr urtheilsfähiger Musiker – er verrieth nicht, daß es Niemand anders war, als Christiane – sich aufrichtig dafür interessire. Auf der andern Seite der Straße sahen sie Franzelius in eifrigem Gespräch mit einem schmutzigen Kerl in einer blauen Blouse. Auch er bemerkte sie, drückte aber die Mütze ins Gesicht und sah weg. Mohr wollte eben anfangen, die erste Nummer des »Volkstribun« zu recensiren, die er bei sich trug und für ein unfehlbares Mittel gegen jede Melancholie erklärte. Edwin aber machte sich plötzlich los, und unter dem Vorwande, er habe in jenem Hause eine Lection zu geben, eilte er, nun mit hastigen Schritten, als müsse ein schweres Versäumniß eingeholt werden, den Weg wieder zurück und ohne Zögern die Treppe hinauf.

Das Herz klopfte ihm noch viel heftiger, als damals bei dem ersten Besuch. Er versuchte oben ein paarmal halblaut, ob er Athem genug habe, guten Tag zu sagen. Erst nachdem er zehn Minuten lang den Klingelzug betrachtet hatte, fühlte er sich soweit gefaßt, um die Glocke ziehen und die alte Dame, die öffnete, nach Fräulein Toinette Marchand fragen zu können. 21

Sie wohne allerdings hier, war die Antwort, habe aber noch nicht Toilette gemacht; es sei ja noch so früh.

Für einen alten Freund wird sie wohl zu sprechen sein, versetzte Edwin rasch, und ohne die abwehrende Bewegung der Dame zu beachten, trat er an ihr vorbei über die Schwelle. In demselben Augenblick öffnete sich eine der Thüren, die auf den Corridor hinausgingen, und das schöne Gesicht, im Helldunkel unter einem spitzenbesetzten Morgenhäubchen noch um Vieles reizender, als es seiner Erinnerung vorgeschwebt, blickte ihm plötzlich entgegen.

Sie hatte ihn auf der Stelle erkannt; eine unwillkürliche Wendung des Kopfes sagte ihm, daß ihr erster Gedanke war, sich lieber verläugnen zu lassen. Gleich darauf schien sie sich anders zu besinnen.

Sie sind es! sagte sie, ohne irgend ein Erstaunen im Ton der Stimme zu verrathen. Ich habe Sie halb und halb erwartet; ich weiß, Niemand entgeht seinem Schicksal. Kommen Sie da herein. Sie werden ja an meinem Nachtmützchen keinen Anstoß nehmen.

Er folgte ihr stumm in ein sauberes, zweifenstriges Zimmer. Seine Bewegung war so mächtig, daß er vergebens nach irgend einem gleichgültigen Worte rang und, als wäre er von einem weiten Wege erschöpft, sich in einen der Sessel neben ihrem Sopha niederließ. Auch sie schien nicht gleich zu wissen, welchen Ton sie anschlagen sollte. An einem Blumentischchen stehend, das freilich keine tropischen Gewächse, wie jenes in der Jägerstraße, enthielt, fing sie an, die gelben Blätter 22 abzustreifen und eine überhängende Ranke an den Stock zu binden.

Er hatte Zeit, sie zu betrachten. Sie war in einem bequemen Morgenkleide, das ihre schmiegsame Gestalt noch vortheilhafter zeigte, als ihr gewöhnlicher Anzug. Dabei gab ihr das Häubchen auf den leichtgeringelten braunen Haaren etwas frauenhaft Hausmütterliches, das zu dem blassen Kindergesicht in einem allerliebsten Widerspruche stand. –

Nicht wahr, ich habe mich hier sehr verschlechtert? sagte sie, immer noch mit den Blumen beschäftigt. Diese Plüschmöbel und Trümeaux – es soll nach einer eleganten Einrichtung aussehen, aber gegen den wahrhaft vornehmen Zuschnitt, wie in der alten Wohnung, ist es nur Trödelkram. Dafür aber kann ich dieses Quartier bezahlen und wohne bei anständigen Leuten. Aber sagen Sie nur, wie haben Sie mich aufgefunden? Ich glaubte, da ich die Equipage abgeschafft und den Kammerzwerg, der mich himmelhoch bat, ihn zu behalten, nicht mehr in Livree gehen lasse, nun könnte ich hier im tiefsten Incognito leben – so lange es eben dauert. Sie waren mir böse, nicht wahr, daß ich so plötzlich verschwand? Sehen Sie mir ins Gesicht und sagen Sie mir aufrichtig, ob Sie mir böse waren oder nicht?

Sie hatte sich rasch nach ihm umgewendet und sah ihn mit so schalkhaft bittenden Augen an, als zweifle sie so wenig an ihrem Unrecht, wie daran, daß er schwach genug sein würde, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

Liebes Fräulein, sagte er und versuchte zu lächeln, 23 da Sie mir leider nie erlaubt haben, Ihnen gut zu sein, habe ich mir auch nicht die Freiheit nehmen dürfen, Ihnen böse zu werden. Ich hatte mich Ihnen aufgedrängt, Sie haben mich bei der ersten Gelegenheit wieder abgeschafft – das ist so natürlich, daß man nicht Ihr »weiser Freund« zu sein braucht, um es zu verstehen.

O nein, sagte sie nachdenklich, ganz so ist es denn doch nicht. Wissen Sie, daß ich schon mehr als einmal ein Billet an Sie angefangen hatte, um Ihnen zu sagen, wo ich ein Ende genommen? Hernach zerriß ich es wieder. Es schien mir besser für uns Beide, für mich, um mich beizeiten von dem allergefährlichsten Luxus zu entwöhnen, einen Freund zu haben; für Sie, weil Sie es doch einmal müde werden könnten, mein weiser Freund zu sein, und dann nähme freilich die Sache ein Ende mit Schrecken, was ich Ihnen gern ersparen möchte. Sie lächeln. Um so besser, wenn Sie keine Gefahr dabei finden. Uebrigens wäre es jetzt auch zu spät; Sie haben mich wieder aufgefunden, wahrscheinlich hat der Doctor, Ihr Freund, der mich gestern am Fenster sah, geplaudert. Ich bin es sehr zufrieden, daß Sie da sind. Sie glauben nicht, was für böse Stunden ich gehabt habe, fast beständig entweder Kummer oder Langeweile. Um ein Haar hätten Sie mich gar nicht mehr angetroffen.

Wohin hätten Sie sich wenden wollen?

Ja wohin? Das war eben die Frage. In meine spießbürgerliche Misère zurück – hu! mir lief es kalt über den Rücken bei dem Gedanken, als sollt' ich mit gleichen Füßen in einen Sumpf springen und bis an 24 den Hals darin versinken. Hier in der Stadt, wo ich als große Dame gelebt, mich unter ein Gouvernantenjoch ducken – auch das schien mir jämmerlich. Also noch ein paar Wochen so fortgehaus't und dann, wenn der letzte Louisd'or hinausgeflogen, die Augen zugedrückt und den Sprung gewagt – hinüber in das große Nichts. Oder glauben Sie, daß es doch ein Etwas sei?

Nein, versetzte er ruhig. Und eben deßhalb scheint es mir eine Thorheit, das Etwas, das man hier in Händen hat, vorschnell wegzuwerfen.

Vorschnell? Wie lange soll man denn warten? Wann würden Sie es einem Menschen, der dieses Etwas durchaus nicht der Mühe werth findet, erlauben, sich in das Nichts zu retten?

Wenn er daran verzweifeln muß, im Leben noch Etwas zu sein, sich oder Andern noch zu nützen oder Freude zu machen.

Nun dann – dann könnten Sie mir unbedenklich den Paß zur Abreise visiren. Denn daß ich ein Nichts, ein völlig unnützes Geschöpf bin und höchstens dem kleinen Jean-Jacques eine kleine Freude machen kann, wenn ich ihm fünf Groschen schenke, um sie in einem Kuchenladen zu vernaschen –

Die Thränen, die sie vergebens zurückzudrängen suchte, unterbrachen sie. Sie wandte sich aber nicht von ihm weg, sondern stand an dem kleinen Tisch vor dem Sopha, die beiden schlanken Hände auf die blankpolirte Platte gestützt, als ob sie sich daran festhalten 25 wolle. Dabei quollen ihr große Tropfen aus den schwarzen Wimpern.

Er betrachtete sie mit dem innigsten Mitleiden. Er mußte gewaltsam an sich halten, um nicht aufzuspringen und sie in seine Arme zu ziehen, wie ein trostbedürftiges Kind.

Wenn Sie mich nur nicht bloß um meiner Weisheit willen duldeten, sagte er möglichst gelassen, so würde ich Ihnen jetzt die thörichtsten Beweise dafür geben, daß Ihr Dasein noch Jemand anders, als Freund Jean, ein Lebensbedürfniß, eine Wohlthat, eine Quelle freilich nicht ganz ungetrübter Freude ist. Aber alle Thorheiten beiseite: es darf nicht so fortgehen, Toinette. Sie haben ganz Recht: wer so in den Tag hineinlebt, lebt sich am Ende aus dem Tage hinaus, in die Nacht hinein, die keinen Morgen hat. Ich sehe, ich bin gerade zur rechten Zeit gekommen. Liebes, armes Kind, wie herzlich wünschte ich, ich könnte Ihnen erst wieder Freude an sich selbst einflößen, dann würden Sie merken, wie sehr Sie fähig sind, auch Anderen zur Freude zu leben. Courage, Kind, Courage! Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie das Leben, das Sie wegwerfen wollen, noch gar nicht kennen. Nein wahrhaftig, fuhr er fort, als sie ihn durch ihre Thränen mit einem verwunderten Blick ansah, der sagen sollte: ich habe doch schon genug erlebt! – Sie kennen nur Noth und Ueberfluß; dazwischen aber liegen tausend Stufen, auf denen sich ein vernünftiger Mensch sehr bequem niederlassen und sich die Welt gefallen lassen kann. Freilich, Eins muß er 26 dazu mitbringen, um es überhaupt irgendwo erträglich zu finden.

Sie meinen: ein genügsames Herz.

Bewahre, liebe Freundin! Es darf ein recht verwöhntes, ein sehr anspruchsvolles Herz sein; glauben Sie z. B., das meinige nähme so leicht vorlieb? Aber darauf kommt es gar nicht an, wenn das Herz nur überhaupt bedürftig ist und reich zugleich, – eben jener wunderlich widerspruchsvolle Zustand, den man Liebe nennt, wo man nicht weiß, was seliger ist, Geben oder Nehmen, wo man sich nie im Geben und Nehmen genügt und über dieser lächerlich lieblichen und toll gescheidten Beschäftigung gar keine Zeit behält, die übrigen irdischen Dinge, Plüschmöbel oder Holzstühle, so wichtig zu nehmen, weil die ganze Frage, ob Reich oder Arm, in ein anderes Gebiet gerückt ist.

Er schwieg und beobachtete sie gespannt, wie seine Worte auf sie wirken möchten. Ihre Thränen waren wieder versiegt, sie sah zerstreut und träumerisch vor sich hin.

Ich verstehe Sie nicht, und Sie können mich nicht verstehen, erwiederte sie mit einem schwermüthigen Kopfschütteln. – Wie oft soll ich Ihnen sagen, daß ich kein Talent zu dem habe, was Sie Liebe nennen! Da sich nun in der Welt, im Leben wie in Romanen, Alles um diese eine Hauptsache zu drehen scheint, so müssen Sie wohl begreifen, daß ich in eine solche Welt nicht passe. Nein, lange kann das nicht so fortgehen. Und wahrlich, wenn ich nicht so feige wäre und den 27 Schmerz fürchtete, – aber das hält mich immer wieder zurück, bis es noch unerträglicher wird, bis das Gefühl der Oede und Leere sich endlich auch zu einem wirklichen körperlichen Schmerz steigert, der mich alle anderen verachten läßt.

Er stand auf und ergriff ihre Hand. Liebe Toinette, sagte er, Sie sind in einem krankhaft überreizten Zustand und müssen Ihrem Freunde erlauben, daß er Sie in die Cur nimmt. Wollen Sie sich mir anvertrauen? Sie sollen keine bitteren Tränkchen schlucken, auch sich das Herz nicht herausschneiden lassen, damit wir sehen, was diesem eigensinnigen Muskel etwa fehlt, um seine Schuldigkeit zu thun, wie tausend andere. Ich will Ihnen die Welt ein wenig zeigen, wie sie so im Durchschnitt beschaffen ist, die Menschen, wie sie sich darin behelfen und womit sie sich die Leere, über die Sie klagen, an Wochen- und Feiertagen ausfüllen. Morgen ist gerade Sonntag. Ich dächte, wir machten es, wie neun Zehntel unserer Mitbürger, und benutzten das schöne Wetter zu einer kleinen Landpartie.

Gern. Aber wohin?

Das ist meine Sache. Ueberhaupt muß ich bitten, mir das Arrangement zu überlassen. Sie haben zum Glück Ihren Lohnkutscher schon abgedankt. Auch die gestreifte Weste werden Sie zu Hause lassen.

Der arme Junge! Warum gönnen Sie ihm nicht auch ein Vergnügen?

Weil Privatdocenten nicht in der Lage sind, sich »mit Gefolge« amüsiren zu können. Statt dessen will 28 ich meinen Bruder bereden, mitzukommen. Sie haben hoffentlich nichts dagegen.

Ich! Habe ich Ihnen nicht längst gesagt, wie neugierig ich bin, zu sehen, was gerade Sie für einen Bruder haben?

Sie werden da einen sehr liebenswürdigen Menschen kennen lernen, und ich warne Sie im Voraus, lassen Sie sich's nicht gar zu sehr merken, daß er Ihnen weit besser gefällt, als Ihr pedantischer Freund. Ich stehe nicht dafür, daß ich bei aller brüderlichen Liebe nicht doch eine gewisse Eifersucht empfände. Manches aber, was Sie an mir weise finden und nicht verstehen, wird Ihnen vielleicht klarer, wenn Sie einen Menschen wie Balder gesehen haben. Im Uebrigen – keine große Toilette, nicht wahr? Ich hoffe, Ihnen zu beweisen, daß man sich desto königlicher amüsirt, je weniger herzogliche Ansprüche man mitbringt.

Sie lächelte. Sie sind ein guter Mensch, sagte sie, daß Sie sich mit einem armen, unheilbaren Geschöpf so viel Mühe geben. Thun Sie, was Sie wollen, Sie haben unbeschränkte Vollmacht, mich zu bessern, so viel Sie können.

Morgen Vormittag also, um zehn Uhr! Auf Wiedersehen, meine durchlauchtige Freundin!

Sie sind in Gnaden entlassen, werther Freund und Hofmarschall.

Sie gab ihm lustig mit einer feierlich gnädigen Verbeugung die Hand, die er mit lächelnder Ehrerbietung 29 an die Lippen drückte. Und bis morgen weder Gift noch Dolch! rief er, schon in der Thüre, mit dem Finger zurückdrohend.

So lange werde ich es ja noch aushalten, erwiederte sie heiter. Schon aus Neugier auf Ihren Bruder. 30



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