Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Sechstes Kapitel.

Zartgestimmte Seelen pflegen die Verbindung von Geist und Körper eine unebenbürtige, eine Mißheirath zu schelten. Und doch könnten gute und böse Tage sie eines Bessern belehren, ihnen zeigen, daß, wie man auch über den Unterschied der Herkunft denken mag, der staubgeborene Theil in gewissenhafter Erfüllung aller Pflichten dem anderen, der sein Herr sein soll, sicherlich nicht nachsteht. Wie lange würde es dem reinen Geiste gelingen, das Gefühl der Freude zu genießen, wenn sein treuer Lebensgefährte ihm nicht mit all seinen Sinnen zu Hülfe käme, von den Freuden zu schweigen, die auch für den Uebersinnlichsten gerade aus diesen Sinnen entspringen. Und wenn uns im reinen Aether geistigen Genusses vor unserer Gottähnlichkeit bange werden müßte, wie würden wir erst in Seelenqualen vor unserer Wurmähnlichkeit erschrecken, wenn nicht wiederum der Leib uns beistünde und, sobald die Noth auf den Gipfel gestiegen ist, den Kampf in das Gebiet der Sinne hinüberspielte, die Seele gleichsam ablösend von einem verlorenen Posten, bis sie 275 neue Kräfte und neue Waffen zum Austrag des Streites auf ihrem Gebiet gesammelt hat!

So erbarmte sich die schwere Krankheit, in die Edwin verfiel, seines tieferschütterten Gemüths. Wochenlang lag er besinnungslos im hitzigen Nervenfieber. Er erkannte keinen seiner Pfleger, weder Franzelius, der, nachdem er mit einer nachdrücklichen Verwarnung seiner Haft entlassen war, die Nächte regelmäßig in der »Tonne« zubrachte, auf Balder's Bett ein wenig schlummernd, wenn nach Mitternacht auch der Kranke ruhiger wurde, noch den getreuen Mohr, der bei Tage den Krankenwärter machte und, wenn der Dienst nicht gerade streng war, seine ganze Erholung darin fand, an Balder's Drechselbank sitzend zahllose Partieen Selbstschach zu spielen. Marquard hatte gleich zu Anfang dafür gestimmt, Edwin ins Krankenhaus zu bringen, wo er seine Pflege sicherer und bequemer geleitet haben würde. Aber davon wollten weder die beiden anderen Freunde noch Madame Feyertag etwas wissen. Und diese gute Frau ließ es sich, auch als die Krankheit Wochen und Monate dauerte, nicht einen Augenblick gereuen, den langsam Genesenden unter ihrem Dach behalten zu haben. Ihr Herz und ihr Leinenschrank, ihre zwei Hände und die ihrer alten Magd waren stets offen und in Bereitschaft, wo man ihrer bedurfte. Werther Freund, sagte zu ihrem Manne der Zaunkönig, der täglich in eigner Person sich erkundigte, wie die Nacht gewesen war, Ihre Theorie von dem Knalleffect wird glänzend widerlegt und dagegen die alte Weisheit des Predigers Salomonis bestätigt: Ein braves Weib 276 ist ein köstliches Gut u. s. w. – Und dabei lächelte er still vor sich hin und sah auf den Flor an seinem weißen Hut.

Der Meister zuckte die Achseln. Der »Wille« ist gut, sagte er, nur mit der »Vorstellung« sieht es meist schwach aus. Da ist zum Exempel meine Tochter Reginchen! – Na, ich will sie nicht loben, aber was ihren Knalleffect betrifft, hat der Schopenhauer mal wieder Recht. Gott weiß, wo sie's her hat; ihre Mutter machte nicht halb so viel Effect, wie sie noch jung war. Aber ihr Vorstellungsvermögen, Herr König, da kann kein Mensch daraus klug werden. Sie wissen, daß sie mit dem Herrn Franzelius versprochen ist. Hat sie sich nicht zuerst gehabt, als ob sie lieber ins Wasser gehn würde, wenn sie den nicht kriegte? Er ist ja auch so weit ein ganz reputirlicher Mensch, und wenn er sich die radicalen Flausen abgewöhnt, wird er mal sein Auskommen haben; denn Bildung und was man Charakter nennt, ist ihm nicht abzusprechen, und mit den paar Groschen, die sie ihm zubringt, kann er sich setzen und selbst eine Druckerei anfangen. Na, weil ich nur das eine Mädchen habe – man ist schwach, Herr König, als Vater und Mann von Humanität. Aber nun stellen Sie sich vor: seitdem der junge Herr da oben gestorben ist, trägt das dumme Ding Schwarz, wie wenn's ihr Bruder gewesen wäre, und mit der Brautstands Herrlichkeit ist's rein aus. Nichts als Abends, wenn er kommt, zehn Minuten lang sich die Hände gedrückt und die Köpfe hängen lassen, wie zwei Trauerweiden, und den ganzen übrigen Tag sitzt sie und lies't Ihnen Schiller's Gedichte, und wenn ich frage, 277 wie's mit der Aussteuer vorwärts geht: »Es hat ja noch Zeit, Vater.« Ja, ja, Herr König, wie ich sage: der Wille ist gut, denn sie will ihn noch immer; aber was sie sich dabei vorstellt, daß sie plötzlich auf Schillern verfallen ist, wo Leibwäsche und Bettzeug ihr viel näher liegen sollten, – wenn ich davon eine Vorstellung habe, will ich nicht mehr Rinds- und Kalbleder unterscheiden können. Apropos, was macht denn Ihr Fräulein Tochter? Die habe ich nun eine ganze Ewigkeit nicht mehr die Ehre gehabt –

Der kleine Maler, der mit sichtbarer Theilnahme zugehört hatte, wurde bei dieser Frage so betrübt, daß er erst nur mit einem schweren Seufzer antworten konnte. Dann sagte er: Der liebe Gott prüft uns Menschenkinder zuweilen hart, Herr Feyertag. Mich hat er lange mit Gnaden überschüttet, ich war glücklich in meinem Hause und in meiner Kunst, und wahrhaftig, ich habe immer an mir gearbeitet, daß ich bei so viel Gnaden nicht übermüthig würde. Auch wie ich Hofmaler geworden bin, hab' ich mein Herz geprüft und jede Faser von Stolz ausgejätet. Denn am Ende, es giebt viel Verdientere und Talentvollere, als ich, und sie bringen's im Leben zu Nichts, während ich mit meiner bescheidenen Specialität – Aber nun bin ich doch gezüchtigt worden an Dem, was mir das Liebste ist. Meine Lea schwindet nur so hin, kein Mensch weiß, wie ihr zu helfen wäre, auch der Doctor Marquard kann nichts sagen, als daß es mit der bessern Jahreszeit – und wenn wir erst reisen können – aber jetzt sind wir im Februar. Wer 278 weiß, wie es im April oder Mai mit uns steht. O werther Freund, ich habe in all meinen Tagen an dem Trost festgehalten, daß unser himmlischer Vater uns züchtigt, weil er uns lieb hat; aber wenn ich das erleben sollte –

Er brach plötzlich ab und verließ, ohne dem Meister wie sonst eine Empfehlung an Madame Feyertag aufzutragen, hastig den Laden.

Um diese Zeit war Edwin schon seit Wochen aus aller Gefahr und selbst ein Rückfall nicht mehr zu befürchten. Auch gedieh er körperlich zusehends; nur die geistige Klarheit und Frische kehrte unsäglich langsam zurück. Er konnte stundenlang am Fenster sitzen mit einem heiteren Gesicht, ohne nach irgend einer Unterhaltung oder Beschäftigung zu verlangen. Erst als die Vorfrühlingstage kamen und es möglich wurde, in die Mittagssonne hinauszufahren, lös'te sich der Nebel, der seinen Geist starr und zähe umsponnen hatte. Am langsamsten erstarkte das Gedächtniß. Wenn von Ereignissen der letzten Monate vor Balder's Tode die Rede war, hatte er große Mühe, die abgerissenen Fäden wieder zu verknüpfen.

Auch nachdem es zur Pflege nicht mehr nöthig war, behielt Franzelius dennoch seine Schlafstelle in der Tonne bei. Edwin hatte ihn selbst darum gebeten, weil er fühlte, wie viel dem treuen Gesellen daran lag, auf diese Weise zu erfüllen, was er Balder versprochen. Auch war es ihm lieb, wenn er über Tag allein geblieben war, da Mohr seit einiger Zeit die Einsamkeit suchte, Abends das treuherzige Gesicht zu sehen und in stillem Geplauder 279 den Schlaf heranzulocken. Es fehlte freilich auch an anderen Besuchen nicht. Der kleine Maler kam und die Professorin, die wieder, so viel es die Eifersucht der Madame Feyertag erlaubte, mit Fruchtsäften, Kraftbrühen und allerlei zartem Geflügel die Reconvalescenz gefördert hatte. Je mehr aber die Kräfte wuchsen, je länger blieb der Genesende sich selbst überlassen und schien es auch ganz wohl zufrieden zu sein.

Längst war die Nachricht gekommen, die ihm angebotene Professur habe inzwischen ein Anderer erhalten. Edwin hatte es aus einer Zeitung erfahren und die gescheiterte Hoffnung mit großem Gleichmuth hingenommen. Was lag ihm jetzt an seiner Carrière? Er war glücklich, daß er wieder die Kraft fühlte, an neue Arbeiten denken zu können, und las begierig, was inzwischen Wichtiges erschienen war.

Toinettens Name kam nicht über seine Lippen. Er fragte nur einmal, ob Marquard nicht einen Brief gesehen habe, den er kurz vor seinem Erkranken erhalten und jetzt mit allem Suchen nicht wiederfinden könne. Die Magd wird längst mit ihm eingeheizt haben, warf Marquard trocken hin; war es etwas Wichtiges? – Er wollte ihm das verhängnißvolle Blatt, das er sorgfältig aufgehoben hatte, erst zurückgeben, wenn jede Gefahr beseitigt wäre, daß die alte Wunde wieder aufbrechen könnte.

Aber diese Gefahr schien in der That schon jetzt verschwunden zu sein. Eines Tages, als Marquard wieder vorsprach, zeigte ihm Edwin mit ganz ruhiger 280 Miene ein Billet, das er vor einer Stunde erhalten hatte, und bei dessen Anblick der Freund sein Erschrecken kaum verbergen konnte.

Es ist nun doch wahr geworden, sagte Edwin lächelnd, aber mit einem leichten Erröthen. Ich hab' es mir gleich gedacht, daß die Leimruthe den Vogel nicht wieder loslassen würde. Nun, möge ihr der vergoldete Käfich geräumig genug sein, um sich darin im Freien zu glauben.

Darf ich lesen? fragte Marquard.

Gewiß. Ich habe leider niemals Geheimnisse mit ihr zu verhandeln gehabt. Und so wie sie sich hier giebt, kennst du sie längst.

Das Billet lautete:

»Sie haben mich so plötzlich abgeschafft, lieber Freund, daß ich, wenn ich empfindlich wäre, nun auch stumm bliebe. Aber da ich es von Anfang an eben so ernsthaft mit meiner guten Freundschaft gemeint habe, wie Sie mit Ihrer leidigen Liebe, so ist mein Gefühl für Sie dauerhafter, als das Ihre, auch schonender und rücksichtsvoller. Ich möchte es Sie nicht zufällig durch die Zeitung erfahren lassen, daß Ihre arme Herzogin sich zu einer Mesalliance entschlossen hat und in wenigen Tagen Gräfin heißen wird. Warum dieser Entschluß? Wenn Ihre Philosophie keine Antwort darauf hat, werden Sie von einer desperaten Thörin noch weniger eine erwarten. Warum ist man überhaupt auf der Welt? Vielleicht hat mich nur die Neugierde, ob sich doch noch einmal ein Grund 281 dafür entdecken ließe, zu diesem Schritt bewogen, den Sie mir wahrscheinlich übel nehmen. Glauben Sie mir, es ist eigentlich nur eine Vorübung zu dem äußersten und letzten Schritt, dem Schritt ins Nichts. Ich bin mir übrigens nicht untreu geworden. Ich habe ihm Alles gesagt, auch daß ich ihn durchaus nicht liebe. Aber da er genügsamer ist, als gewisse Leute, und nichts von mir verlangt, was ich nicht geben kann, so denk' ich, wir werden recht gut mit einander fertig werden, wie man überhaupt mit Denen am besten fertig wird, mit denen man nie angefangen hat. Mit Ihnen – ich fühle es an diesem Brief, der kein Ende finden kann – wäre es mir nie geglückt. Aber das ist nun so. Es giebt recht abgeschmackte Verhängnisse. Nicht wahr, lieber Freund?

Noch immer trotz alledem

»Ihre«

Toinette.

N. S. Der kleine Jean empfiehlt sich Ihnen. Schon seinetwegen habe ich mich entschließen müssen, den Grafen zu heirathen. Er wäre lebenslang unglücklich gewesen, wenn er die gräfliche Livree nicht hätte anziehen dürfen, die grün mit Silber gestickt ist und ihm den Anstrich eines ehrbaren Zeisigs in Gala giebt.

Bei alledem wollte ich dennoch, ich wäre« –

Diese letzte Zeile war ausgestrichen, die Worte aber noch leserlich. – Marquard legte den Brief schweigend auf den Tisch. 282

Was sagst du dazu? fragte Edwin, indem er das Blatt langsam wieder in das Couvert steckte.

Nichts. Ueber die zahllosen Spielarten der großen Species »Frauenzimmer« etwas zu sagen, hab' ich mir längst abgewöhnt. Ich hasse unwissenschaftliches Gerede und suche daher nur jedem einzelnen Fall eine praktische Seite abzugewinnen. Gelegentlich möchte ich allerdings hören, was du dazu sagst. Dich hat der Fall von Anfang an nicht bloß theoretisch interessirt.

Ich werde dir's sagen, wenn ich erst die Formel dafür gefunden habe. Bis jetzt ist es nur ein gedankenloses Staunen.

Ueber ihren Entschluß? Nun, ich dächte –

Nein, über die Wirkung auf mich selbst. Wirst du glauben, daß ich diesen Brief so ohne jedes Herzklopfen gelesen habe, wie wenn darin stände, die Sixtinische Madonna sei von Dresden nach München verkauft worden? Es scheint, mit dem alten Blut, das die Krankheit in mir verzehrt hat, ist auch die Bezauberung von mir gewichen. Gräfin Toinette – ich kann das so gelassen sagen, wie Reginchen Franzelius.

Marquard sah ihm mit unerschütterlicher Ruhe steif ins Gesicht. Bravo! sagte er. Du sollst einen rothen Zettel haben, »als geheilt entlassen«. Heute also einen kleinen Spaziergang, dann zu Mittag – aber darüber werde ich mit Madame Feyertag conferiren.

Er schüttelte ihm die Hand, deren Temperatur ihm nicht ganz zu gefallen schien, und ging. Auf der Treppe begegnete er Mohr. Du wirst die Güte haben, ihn 283 heute möglichst genau zu beobachten und nicht lange allein zu lassen, raunte er ihm hastig zu. Seine alte Flamme hat nun doch mit ihrem Grafen vorlieb genommen. Er behauptet, es lasse ihn ganz kalt. Aber diesen Idealisten ist nicht zu trauen. Gieb auch Franzel die Parole für die Nacht. Ich sehe morgen wieder nach.

Diesmal hatte der kluge Leib- und Seelenarzt sich dennoch getäuscht. Als er am andern Vormittag wieder kam, fand er das Aussehen seines Patienten um Vieles frischer und klarer und den Puls völlig normal. Er ließ sich von dem gestrigen Ausgange erzählen, der Edwin zum ersten Mal wieder das volle Vertrauen auf seine Kräfte gegeben habe, von der schönsten Märzsonne begünstigt. Heute habe ich mir, mit deiner Erlaubniß, vorgenommen, einen Besuch zu machen, sagte er. Ich will mich einmal nach meinem kleinen Freunde und Gönner im venezianischen Palast umsehen. Seit acht Tagen ist er nicht mehr in der Tonne erschienen. Sollte das Kind Gottes mit dem Kinde der Welt nur als barmherziger Samariter zu schaffen haben wollen?

Du bist sehr im Irrthum, versetzte Marquard und sah ungewöhnlich ernst vor sich hin. Unser Zaunkönig hütet das Nest, weil es um seine Brut recht miserabel aussieht.

Lea? Krank? Und schon seit länger? Und davon höre ich heute das erste Wort?

Wozu aus einer Krankenstube in die andere plaudern! Ich wollte nur, ich wäre dort so an meinem Platz, wie hier. Aber es giebt Fälle, wo man sehr unsanft an seine Grenzen erinnert wird. 284

Du kannst aus ihrer Krankheit nicht klug werden?

Klüger als mir lieb ist. Ich weiß, daß der Sitz des Uebels die Seele ist. Auch getraute ich mir mit einer Nadelspitze die kranke Stelle zu bezeichnen. Aber was will das helfen, wenn das Specificum, das ich auch kenne, in keiner Apotheke zu kaufen ist?

Eine Gemüthskrankheit?

Nein: ein simples Zehrfieber bei voller Geistesklarheit. Kurz und gut:

Die Engel nennen es Himmelsfreud',
Die Teufel nennen es Höllenleid,
Die Menschen nennen es Liebe!

Liebe? Das arme Mädchen wäre –

Verliebt, und zwar lebensgefährlich. O mein Bester, diese stillen Wasser!

Und wer in aller Welt – Aber freilich, wie ich sie kenne, wird sie dir nicht gebeichtet haben, dir und keiner lebenden Seele.

Der rechte Hausarzt bedarf auch keiner Ohrenbeichte in solchen Fällen. Wir haben ganz andere Mittel, so ein fieberndes Herzchen zu percutiren und zu auscultiren, ganz stille geräuschlose Mittel. Anfangs freilich war ich auf sehr falscher Fährte. Ich bildete mir – es bleibt aber unter uns – eine ganze Woche lang ein, ich selbst sei der glückliche Gegenstand und Anlaß dieses heimlichen Leidens. Am Ende, so geschmacklos wäre es eben nicht von ihr, und bei der romantischen Veranlassung unserer Bekanntschaft – in jener Nacht, wo wir unsere Künstlerin aus dem Wasser zogen – wen hätte es wundern 285 dürfen, wenn sie mich als rettenden Engel erst verehren, dann bewundern, endlich lieben gelernt hätte. Und ich gestehe, schon der bloße Gedanke hat mir ein paar schlaflose Nächte gemacht – so bis gegen Mitternacht. Du weißt, wie ich über Liebe und Ehe denke. Aber meine heiligsten Vorurtheile liefen Gefahr über den Haufen zu fallen, wenn ich mir vorstellte, so Eine wie dieses Zaunkönigskind könne mich zu ihrem ehelichen Gemahl zu erhalten wünschen. Sie hat Etwas, das es einem honetten Menschen schwer, ja unmöglich machen muß, ihr jemals wieder untreu zu werden. Daß ich selbst eben jene Woche hindurch bedeutend in sie verliebt war, will am Ende nicht viel sagen. Ich bin ein so guter Wärmeleiter, wie ein eiserner Ofen, und die Gelegenheit heizte tüchtig ein. Täglich unter dem Vorwande, sie beobachten zu müssen, eine Stunde bei ihr, fast immer allein; und überdies war ich gerade damals mit meinem kleinen Wildfang von Nachtigall brouillirt. Adeline hatte mir ein bischen zu viel von einem schönen Ungarn vorgeschwärmt. Also benutzte ich meine Herzensferien dazu, neben der Lagune Studien zu machen, ob ich noch einmal umsatteln und aus einem Verehrer der Frauen im Plural mich zu der Einen, die Noth thut, bekehren könnte.

Und worin bestanden diese Studien? warf Edwin mit einem gezwungenen Lächeln hin.

Dies ist mein Geheimniß, erwiederte Marquard pathetisch. Genug, ich gab die Partie auf, da ich sah, daß sie für mich verloren war. Aber nun forschte ich mit dem Eifer der Eifersucht nach Dem, der mir im 286 Wege stand. Meine alte sympathetische Methode ließ mich auch diesmal nicht im Stich.

Darf man wissen –?

Es ist nicht meine Erfindung. Schon einer meiner Collegen im grauen Alterthum hat sich ihrer bedient. Du kennst die Geschichte von dem kranken Königssohn, der in seine Stiefmutter verliebt war, und dessen Geheimniß der Leibarzt erfuhr, als er den Puls des Prinzen fühlte, da die Königin eben ins Zimmer trat. Nun, ins Zimmer konnte ich Den, den ich im Verdacht hatte, nicht treten lassen. Er war gerade verhindert. Aber sein Name, den ich scheinbar ganz absichtslos aussprach, als ich das zarte runde Handgelenk der kleinen Judenchristin umspannt hatte, that genau dieselbe Wirkung. Eine plötzliche Beschleunigung um vierzig Schläge in der Minute.

Dich interessirt natürlich der Fall nicht sonderlich, fuhr er fort, als Edwin schwieg und mit abgewendetem Gesicht aus dem Fenster sah. Du hast für deine Schülerin immer nur eine etwas magisterhafte Theilnahme gehabt, nicht mehr als für jeden anderen Studenten. Du warst damals von der Schlange gebissen und man hätte dir die drei Grazien in ihrer officiellen olympischen Tracht auf dem Präsentirteller anbieten können, du wärst blindlings der herzoglichen Fahne nachgelaufen. Ob du indessen unter diesen Umständen wohl daran thust, heute deinen Besuch im venezianischen Palast zu machen, mußt du dir selbst überlegen. Allerdings empfehlen wir gewöhnlich, Frostbeulen mit Schnee zu 287 reiben. Aber so ein Weiberherz ist leider etwas zarter organisirt, als die derben Extremitäten. Dieses Bekenntniß glaubte ich dir schuldig zu sein. Adieu!

Er gab dem stummen Freunde einen leichten Schlag auf die Schulter und ließ ihn allein.

Es wäre unmöglich, mit wenigen Worten den Zustand zu schildern, in welchem Edwin zurückblieb; kaum daß wir uns zu sagen getrauten, ob in der wunderlich durch einander wogenden Stimmung Freude oder Bestürzung vorherrschte. Auf die erste gewaltsame Ueberraschung folgte das Gefühl inniger Beschämung, daß ihn dies hatte so überraschen können, der Druck einer Schuld, die durch ihre völlige Arglosigkeit entschuldigt wurde und doch sich selbst von der Anklage des Undanks nicht freisprechen konnte. Denn wie selbstisch fühllos erschien es ihm jetzt, daß er so viele leise Zeichen der hingebendsten Neigung nicht einmal mit freundschaftlicher Erinnerung gedankt hatte! Auch heute, wo er schon entschlossen war, sie wiederzusehen, war es mehr der Vater gewesen, gegen den er eine Pflicht zu erfüllen dachte. Und nun erfuhr er, daß an seinem Kommen oder Fernbleiben das Wohl und Weh dieses Lebens hing.

Er drückte die Augen ein und rief sich alle die Scenen wieder zurück, in denen sie eine Rolle gespielt hatte, von dem ersten Begegnen in ihrem kleinen Hause bis zu jenem Abend, wo sie neben Balder's Katafalk gestanden und mit einem Blick des tiefsten Grams das stille Gesicht betrachtet hatte. So deutlich sah er sie vor sich, daß er sie hätte zeichnen können, Linie für 288 Linie, ihre schöngeschnittenen Augenlider, die ihm gleich zu Anfang aufgefallen waren, weil sie sich wenig bewegten, als hätten diese Augen mehr als andere die Kraft, das Licht zu ertragen, ohne mit den Wimpern zu zucken. Auch die feinen, scharfgezeichneten Brauen, die, wenn sie nachdachte, sich ein wenig zusammenzogen – der Vater neckte sie damit: ihre Stirn sei manchmal wie ein weißes Blatt mit Geheimschrift, und die Brauen krümmten sich darunter wie zwei große Fragezeichen – das Alles stand vor ihm, und die stille Neigung des Kopfes, wenn es ihr schwer wurde, etwas zu fassen, was er ihr auseinandersetzte, und das seltsam plötzliche Aufrichten, wenn sie es nun begriffen hatte, gleichsam siegesfroh und als wollte sie neue, schwerere Aufgaben herausfordern – –

Und dieses Mädchen liebte ihn, und er hatte Monate lang nichts davon geahnt! –

Er nahm den Teller, den sie ihm gemalt hatte, von seinem Pult, wo er allerlei Schreibsachen darauf liegen hatte, und betrachtete ihn wie zum allerersten Mal. Ohne sich etwas dabei zu denken, hauchte er ihn an und putzte ihn blank mit seinem Taschentuch. Es war, als ob er auch hier eine Geheimschrift zwischen den Aehren und Kornblumen versteckt glaubte, die jetzt zum Vorschein kommen und ihm Alles verrathen müsse, was ihr während des Malens durch den Sinn gegangen war.

Plötzlich fiel ihm ein, daß er es ja näher habe. Jenes Heft von ihrer Hand, worin sie, wie der Vater damals gesagt, seine Lectionen ausgearbeitet hatte – das Blut stieg ihm ins Gesicht, als er sich besann, daß 289 es noch unentsiegelt in seinem Pulte lag. Freilich, wie hätte es ihn damals interessiren können, zu sehen, ob seine Schülerin jedes seiner Worte richtig verstanden habe, da der Unterricht abgebrochen werden sollte. Jetzt aber erhielt auf einmal dieses anvertraute Pfand den höchsten Werth für ihn, als ein neues Zeugniß, wie rückhaltlos sie sich darein ergab, daß er sie ganz kennen lernte; und dann: wußte er denn, was sie ihm etwa sonst noch in und zwischen den Zeilen hatte beichten wollen, und was nun so lange stumm und ohne Erwiederung geblieben war?

Als gälte es, jetzt das Versäumte mit um so größerer Hast nachzuholen, zog er das Packet hervor und riß den Umschlag ab. Ein unscheinbares dickes Heft, wie das Diarium eines Schülers, kam zum Vorschein, auf dessen blauem Deckel das Wort »Tagebuch« stand. Eine leichte Arabeske war mit der Feder herumgezeichnet, und auch sonst, wie er darin blätterte, fand er manche Spuren an den Rändern, daß die Schreiberin, ehe sie sich entschloß, ihre Gedanken niederzuschreiben, die Feder träumerisch in verschlungenen Blumen und Figuren spielen zu lassen pflegte.

Es war auch nichts weniger als ein simples Collegienheft. Die Aufzeichnungen gingen viel weiter zurück, drei bis vier Jahre vor der Bekanntschaft mit Edwin, und umfaßten alle Geheimnisse ihres jungen Lebens, Alles, was seit dem jungfräulichen Erwachen ihres Herzens an wichtigen Zweifeln und Gewissensfragen in ihr aufgetaucht war. Von äußeren Erlebnissen fand sich 290 kaum hie und da eine Spur; nur aus dem Rückschlag auf ihr Gemüth ließ sich schließen, daß auch dieses stillste und einförmigste Mädchenleben seine Stürme und Prüfungen erfahren hatte.

Statt aber von dem Ton und Inhalt dieser Blätter nur zu berichten, mögen an dieser Stelle, während Edwin sich stundenlang in die Lectüre vertieft, ein kurzer Auszug eingeschaltet werden, der von dem oft unterbrochenen Selbstgespräch dieser ernsthaften jungen Seele wenigstens in den Hauptzügen eine Vorstellung geben wird. 291



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