Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Zweites Kapitel.

Sie stand, als sie Balder eintreten sah, rasch vom Sopha auf und ging mit der heitersten Liebenswürdigkeit auf ihn zu, ihre kleinen Hände ihm entgegenstreckend, als ob sie ihn bei seinem beschwerlichen Gehen unterstützen wollte.

Sie kommen selbst zu mir – heute schon! rief sie. Dürfen Sie das auch? Das Wetter ist so rauh–meine Treppe so steil – und doch, Sie glauben nicht, wie ich mich freue, Sie wieder genesen zu sehen. Erlauben Sie, daß ich Sie mit dem Herrn Grafen bekannt mache.

Sie wandte sich nach einem großen, schlanken, ganz schwarzgekleideten Herrn, der auf dem Stuhl neben dem Sopha nachlässig zurückgelehnt saß und jetzt nur mit einer flüchtigen Neigung des Kopfes von dem fremden jungen Mann in dem vertragenen Mäntelchen Notiz nahm. Balder stieg die Röthe ins Gesicht, theils über die hochmüthige Geberde des Grafen, theils bei dem Gedanken: Der also ist es, der Edwin hier verdrängt hat! – Er ließ seine klaren Augen ein paar Secunden lang auf den Zügen des Grafen ruhen, der eine Zeitung 218 vom Tisch genommen hatte und aufmerksam darin zu lesen schien. Er wußte nicht, was ihm an diesem regelmäßigen Gesicht, dieser tadellosen Gestalt so gründlich mißfiel und zugleich eine Art Mitleiden in ihm erregte. Auch er verneigte sich stumm und ließ sich dann in den Armsessel sinken, den das schöne Mädchen ihm mit freundlicher Sorge herbeigeschleppt hatte.

Nun saß er ihr gegenüber und fand zuerst keine Worte, da ihr Anblick ihn ganz gefangen nahm. So schön und reizend vornehm hatte er sie sich, trotz Edwin's Schilderungen, doch nicht vorgestellt, so sanft und unschuldig nicht den Klang ihrer Stimme und den Blick ihrer schwarzen Augen. Sie schien sich sein Schweigen mit der Erschöpfung durch den ungewohnten Ausgang zu erklären und ließ ihn eine Weile sich erholen, indem sie dem Knaben klingelte und Wasser und Zucker bestellte. Dann erst wandte sie sich wieder zu ihm und befragte ihn auf das Herzlichste nach seinem Zustande, und was der Arzt für ein Verhalten angeordnet habe.

Statt aller Antwort dankte er ihr für den freundlichen Antheil, den sie ihm während dieser Wochen bewiesen, und erzählte, wie die Palme in seinen Fieberträumen eine große Rolle gespielt und in den wachen Stunden ihn erfreut habe. Er sprach zuerst stockend und befangen. Als er das ironische Lächeln auf dem Gesicht des Grafen bemerkte, der ihm gegenüber saß, ohne eine Silbe zu sprechen, wurde er auf einmal von jeder Blödigkeit frei und hatte so heitere und geistreiche Einfälle, daß Toinette ihn sehr liebenswürdig fand und ihm 219 geradezu sagte, sein Bruder habe ihn verleumdet, da er ihn als einen menschenfeindlichen Einsiedler geschildert. Sie hoffe, ihn nun öfter zu sehen; sie sei ihm böse, daß er erst schwer habe erkranken müssen, um den Weg zu ihr zu finden, und er möge nur gestehen: daß er an jener Fahrt nach Charlottenburg nicht Theil genommen, habe nur in einem Vorurtheil gegen sie seinen Grund gehabt. Wer könne freilich wissen, wie Edwin auch sie verleumdet habe.

Das Alles sagte sie mit so lustigem Ton, daß Balder im Stillen erstaunte. War es Herzenskälte oder Herrschaft über sich selbst, daß sie von Edwin reden konnte, als sei Nichts zwischen ihnen vorgefallen, als werde er morgen wiederkommen und den alten Verkehr mit ihr fortsetzen?

Ueber dem Sinnen wurde er wieder still, und auch sie verlor ihre Heiterkeit.

Sie wollten noch etwas sagen, fing sie nach einer Pause wieder an. Ich sah, daß Sie ein Wort wieder verschluckten, das Ihnen schon auf den Lippen war.

Sie mögen recht gesehen haben, versetzte er. Aber wenn Sie erlauben, sage ich es ein andermal. Ich will Sie heute nicht länger stören.

Er warf einen Blick auf den Grafen und machte Anstalten, sich zu erheben.

Lieber Graf, sagte das schöne Mädchen ganz unbefangen, ich möchte mit Herrn Balder ein Wort unter vier Augen sprechen. Wenn Sie fünf Minuten dort 220 hineingingen – Sie finden Bücher auf dem Tisch und können auch meine Sperlinge füttern.

Hoffentlich dauert die Privataudienz nicht allzu lange, sagte der junge Cavalier mit einem scharfen Accent, indem er aufstand und, sein Bärtchen kräuselnd, langsam auf das Nebenzimmer zuging.

Sie erröthete leicht. Fassen Sie sich nur in Geduld, rief sie ihm nach. Herr Balder ist ein seltnerer Besuch als Sie, und man muß die gute Stunde wahrnehmen. Auch versäumen Sie ja nichts Wichtiges, so viel ich weiß.

Er machte an der Thür eine ironische Verbeugung gegen Toinette und sagte: Sie mißbrauchen ein wenig Ihre Hoheitsrechte, mein Fräulein; aber das Zimmer hat ja für den Nothfall noch einen zweiten Ausgang. Au revoir!

Sie waren kaum allein, als Balder Toinettens Hand faßte und herzlich drückte. Liebes Fräulein, sagte er, ich danke Ihnen, daß Sie mir dieses Alleinsein mit Ihnen verschafft haben. Ich werde die Geduld des Herrn auf keine lange Probe stellen. Was mich hiehergeführt hat, außer dem Bedürfniß, Ihnen selbst zu danken, ist bald gesagt. Mein Bruder hat mir erzählt – vom ersten Anfang an – wie er mit Ihnen gestanden – und daß Sie ihm gestern alle Hoffnung genommen haben. Ich weiß nicht, ob es Ihnen wirklich damit so Ernst war, wie er es aufgefaßt hat, ob es überhaupt Ihr letztes Wort war. Und sehen Sie, Fräulein, ich bin in die Seele meines Bruders hinein so stolz, daß 221 ich es nicht übers Herz bringen würde, einem Mädchen, das ihn in allem Ernst abgewiesen, auch nur eine Silbe zu sagen, die nach einer Fürsprache klänge. Es ist nicht bloß das Vorurtheil des brüderlichen Blutes: ich habe seit sechs Jahren mit ihm gelebt und weiß, was er werth ist, und daß die beste Frau gerade gut genug für ihn wäre. Wenn also ein weibliches Wesen seinen Werth nicht erkennt, so mag es ihm zunächst ein großer Schmerz sein; ich für mein Theil tröste mich damit, daß ihr doch Etwas fehlen müsse, um ihn zu verdienen und ihn glücklich zu machen: die Ueberzeugung von seinem großen Adel und Reichthum, und daß es ein unglaublich hohes Glück ist, von einem solchen Menschen geliebt zu werden. Wie ich Sie kennen gelernt habe, liebes Fräulein, durch ihn und durch Alles, was ich selbst von Ihnen erfahren, habe ich eine zu vortheilhafte Meinung von Ihrer Natur, um glauben zu können, Sie wären blind gegen Edwin's Geist und Wesen. Seine ironische Art, von sich selbst zu reden, seine Prunklosigkeit und Verachtung alles Scheins werden Sie nicht darüber getäuscht haben, wie echt und warm sein Herz ist, welch ein seltener Mensch Ihnen da sein Leben zu Füßen gelegt hat. Wenn Sie trotzdem den Gedanken ertragen können, ihn nun wieder zu verlieren, so muß ich glauben, daß ein anderes Hinderniß zwischen Ihnen steht. Sie sind immer redlich und aufrichtig gegen Edwin gewesen. Seien Sie es auch gegen mich, liebes Fräulein; sagen Sie mir aufrichtig, ob ich mich täusche oder das Rechte getroffen habe, wenn ich glaube: Sie hätten seine 222 Werbung angenommen, wenn er ganz allein stände, wenn er nicht die Sorge für einen kranken Bruder Ihnen auf wer weiß wie lange Zeit mit auferlegte.

Sie sah ihn mit einem Blick der höchsten Ueberraschung und Verwunderung an. Lieber Herr Balder, sagte sie, wie können Sie nur einen Augenblick –

Sie haben Recht, fiel er ihr lächelnd ins Wort, es ist eine zu starke Zumuthung, daß Sie die Ehrlichkeit so weit treiben sollen. Also bitte, sagen Sie nichts, aber lassen Sie sich von mir sagen, daß dieses armselige Hinderniß in der That nicht besteht, oder doch kaum noch ein paar Wochen bestehen wird. Ich habe unsern Arzt aufs Gewissen gefragt – und zum Glück hat er eins, so daß ich ihm auch bei einer anderen Antwort trauen dürfte. Der arme Sterbliche, der Ihnen hier gegenübersitzt, wird den bescheidenen Platz, den er heute noch in der Welt einnimmt, sehr bald räumen müssen. Edwin hat natürlich keine Ahnung davon. Man gewöhnt sich, das Unabänderliche für unwahrscheinlich zu halten, wenn es eine Zeit lang auf sich warten läßt. Trifft es dann endlich ein, muß man sich, so gut es geht, darein zu finden suchen. Auch Edwin wird das mit der Zeit fertig bringen. Ich für mein Theil – ich gestehe Ihnen, liebes Fräulein, ich finde die Welt sehr schön. Auch Ihre Bekanntschaft hätt' ich gern fortgesetzt. Aber man soll nicht unverschämt sein; ich habe das Glück des Lebens so rein, gleichsam in einem gedrängten Auszuge genossen, daß ich mich wirklich nicht beklagen darf, wenn die mir bestimmte Portion nun schon aufgezehrt ist. 223

Er schwieg und lächelte vor sich hin. Als er wieder aufblickte, sah er, daß ihre Augen voll Thränen standen. Warum weinen Sie? fragte er bestürzt. Ich hoffe doch nicht, daß mein Schicksal, das mir selbst nichts weniger als Kummer macht –

Nein, rief sie lebhaft und zerdrückte rasch die Thränen mit ihren Wimpern, nicht um Sie weine ich, lieber Balder – verzeihen Sie, daß ich Sie so nenne wie einen alten Freund oder einen eigenen Bruder. Sie sind nicht beklagenswerth, ich beneide Sie um Ihr schönes Leben und Ihren noch viel schöneren Tod, wenn er auch nicht so nahe sein wird, wie Sie jetzt denken. Denn ein Mensch übersteht viel, und Aerzte sind schlechte Propheten. Wenn mir die Augen naß wurden, war es um mich, daß ich ein so armer Narr bin, Ihnen und Ihrem Bruder Alles schuldig bleiben zu müssen, was Sie mir Gutes und Herrliches geben möchten, und es daher ablehnen muß. Lieber Balder, wenn Sie wüßten – Aber warum sollen Sie es nicht wissen? Wenn ich unglücklich bin: ist es nicht mein einziger Trost, Ihnen wenigstens nicht schlechter zu erscheinen, als ich bin? Sie darüber aufzuklären, warum ich mit allem guten Willen Menschen, die ich lieb habe, nicht so glücklich machen kann, wie sie es um mich verdienten?

Ich hab' es tausendmal bereut, fuhr sie fort, ihr Haar von den Schläfen zurückstreichend, um unbemerkt dabei die Augen zu trocknen, daß ich es nicht schon gestern Ihrem Bruder gestanden habe; ich überlegte hin und her, wie ich es nachholen könnte, ob ich es ihm schreiben 224 oder ihn noch einmal bitten sollte, zu mir zu kommen. Nun ist es gleich, ob ich es Ihnen sage oder ihm: ich weiß jetzt, woran es liegt, daß ich kein Glück im Leben haben werde, nie, nie, weder durch mich noch durch Andere. Sie sollen es nun wissen, obwohl es Dinge betrifft, über die zwei junge Menschen sonst wohl nicht mit einander reden. Lieber Freund, Sie sind mir sehr werth, glauben Sie es mir, und ich kann Ihnen keinen besseren Beweis dafür geben, als durch dies traurige Geheimniß, das mir selbst erst seit wenigen Tagen enthüllt worden ist.

Sie sah sich flüchtig nach der Thüre um, durch die der Graf hinausgegangen war. Ihm verdanke ich's, sagte sie mit leiserer Stimme. Er hat, da seine Verwandten ihm den verrückten Gedanken, mich zu heirathen, vor Allem auch wegen meiner geringen Herkunft ausreden wollten, Nachforschungen in meiner Vaterstadt angestellt; er wollte wenigstens erfahren, ob etwas Unehrenhaftes meiner Familie nachgesagt werden könnte. Das Wenige, was man im Städtchen von meinen Eltern wußte, hat ihm nicht genügt; da hat er sich an den jungen Fürsten gewendet, der seit Kurzem wieder in seinem Stammschlosse residirt und im Begriff steht, eine Cousine zu heirathen. Leidenschaftlich vernarrt, wie er ist, hat der Graf gar nicht in Abrede gestellt, warum er es wissen wollte, und die junge Durchlaucht, jetzt vielleicht der einzige Mensch, der genau Bescheid weiß, hat, um ihn zu warnen, es für seine Pflicht gehalten, ihm Alles zu sagen, was ihm 225 seine Mutter, in ihren letzten Tagen, als ein Familiengeheimniß anvertraut hat. O lieber Balder, was für abscheuliche Dinge geschehen in der Welt! Ein armer Mensch lebt so hin und quält sich mit seinem Schicksal und weiß nicht einmal, warum er leiden muß. Aber freilich, Gründe, je besser sie sind, ein je schlechterer Trost sind sie nur! Seit ich weiß, warum ich so bin, weiß, daß Alles mit ganz natürlichen Dingen zugeht, und daß es mich daher nicht wundern darf, wenn ich bisher weder glücklich sein noch glücklich machen konnte, ist mir ja auch die Hoffnung genommen, daß es jemals anders mit mir werden könnte!

Sie drückte sich in die Sophaecke, lehnte den Kopf auf das Polster zurück und sah starr an die Decke empor. Wissen Sie meine Geschichte? sagte sie.

Mein Bruder hat mir Alles erzählt.

Er hat Ihnen Nichts erzählt; ich selbst wußte nichts von der Wahrheit, nicht einmal meine rechten Eltern habe ich gekannt. Der gute Balletmeister war nicht mein Vater, mein Vater war der Fürst, und die Frau, die ich Mutter nannte, war mir ganz fremd; meine Mutter war ein armes Mädchen, schön und unglücklich, noch weit unglücklicher als ihre Tochter. Sie soll eine Liebe zu einem guten jungen Menschen gehabt haben, der aber zu arm war, sie zu heirathen. Da kam der Fürst, der seine Gemahlin nicht liebte und es in seinem Schlosse nie lange aushielt, nach Berlin und sah das schüchterne junge Blut auf der Straße und ging ihr nach. Sie wollte nichts von ihm wissen, sein Rang und sein 226 Reichthum verlockten sie gar nicht, wie gern wäre sie ein armer Tropf, bettelarm geblieben, nur um ihrer Liebe nicht untreu zu werden. Aber ihre Mutter! Haben Sie eine Vorstellung davon, wie eine Mutter ihrem einzigen Kinde das Herz brechen kann? Sie aber hat es gethan. Und sie ist todt, und ihre unglückliche Tochter ist todt, und das Kind dieser Tochter, die sich ohne Liebe hingeben mußte, dies Kind des Unglücks und des Fluches lebt und muß die Sünde seiner Eltern büßen und jetzt ein unseliges Herz durchs Leben tragen, das nicht lieben kann! – –

Sie schwieg, und auch er saß stumm ihr gegenüber, erschüttert von dem trostlosen Klang ihrer Worte. Im Nebenzimmer hörten sie den Grafen ungeduldig hin und her gehen, draußen auf der Straße rollten die Wagen, und eine helle Wintersonne sah zudringlich durch die blanken Scheiben. Auf einmal richtete sich das schöne Wesen wieder auf, schüttelte die Haare in den Nacken und sagte mit einem kurzen Auflachen: Pfui, wie häßlich! Aber was will man machen? Man ist einmal da und kann nichts dazu und dafür. Nur die Menschen kommen mir erbärmlich dumm und grausam vor, die so ein armes athmendes Unglück für sein Thun und Lassen verantwortlich machen wollen. Ich wollte auch herzlich gern ein recht guter, warmherziger, bescheidener Narr sein, wie Andere, gute Menschen glücklich machen und selbst mich recht zärtlich beglücken lassen, wenn Alles mit rechten Dingen zugegangen wäre; aber nun hat meine arme Mutter mir nichts mitgeben können, als ihren Haß und ihre kalte, stumme Verzweiflung, und 227 von meinem Herrn Vater habe ich nichts geerbt, als fürstliche Gelüste und leere Hände. Er hat mich sehr lieb gehabt, sagen sie, um so mehr, je kürzer das erkaufte Glück mit meiner Mutter gedauert hat. Denn sie starb, als sie mir das Leben gab. Um mich wenigstens sehen zu können, da ich ihr sehr geglichen haben soll, setzte er es gegen allen Widerspruch der Fürstin durch, daß ich bei meinen Pflegeeltern untergebracht wurde und für ihr eigenes Kind galt. Aber dann starb er selber jung und vergaß in seinem letzten Willen für mich zu sorgen, und nie hat mir die Fürstin verziehen, daß ich auf der Welt war. Wenn sie es noch erlebt hätte, wie ich mein Leben verwünschen muß, sie würde vielleicht versöhnt worden sein. Aber auch die ist todt, und ich bin nun mutterseelenallein!

Müssen Sie es bleiben, liebes Fräulein? sagte Balder und legte sacht seine Hand auf ihre beiden Hände, die fest zusammengedrückt auf ihrem Schooße ruhten.

Mein Freund, sagte sie, ich glaube, daß Sie es gut mit mir meinen, Sie und Ihr Bruder. Aber es wäre ein Verbrechen, wenn ich mir einredete, Sie könnten mir helfen, jetzt, da ich so klar Alles einsehe, von meinem Schicksal weiß, daß es mir nun einmal im Blute liegt. Können Sie mir zureden, Ihren Bruder unglücklich zu machen? Und das würde er; denn ich könnte es nicht ertragen, mich ins Enge zu gewöhnen. Ja, wenn man liebt, da muß Alles verschwinden, denke ich mir, alle Sorgen und Armseligkeiten des täglichen Lebens. Meine Mutter hätte gewiß nicht geseufzt und geklagt, wenn sie 228 die Frau ihres Geliebten geworden wäre. So aber – ich will Niemand etwas versprechen, was ich nicht halten kann. Allein, ganz auf meine eigene Hand mein kümmerliches Leben führen, vor einer unbezahlten Rechnung erschrecken und ein ausgedientes Fähnchen zehnmal umkehren – das brächt' ich allenfalls zu Stande, wenn es sein müßte. Die Prinzessin, die die Gänse hüten muß, kann sich im Stillen satt weinen, und im schlimmsten Fall – es hält mich eben Niemand. – Habe ich aber mein Leben in fremde Hände gegeben, so bin ich nicht mehr Herr darüber, so muß ich aushalten, auch wenn ich sehe, daß mein Unglück einem andern Menschen das Herz abdrückt. Und dazu ist mir Ihr Bruder zu lieb, das mögen Sie ihm sagen.

Sie stand auf und schien das Gespräch enden zu wollen. Balder aber blieb sitzen und sagte nach einer Pause: Und Sie wollen Denen, die Sie für Ihre Freunde halten, jede Hoffnung nehmen, das, was Sie Ihr Schicksal nennen, zu überwinden? Ich glaube, wie Sie, an die Macht des Blutes, aber auch an die Macht des Geistes und an die Uebermacht der Liebe. Nur Eins scheint mir hoffnungslos: das Gemeine. Ich habe nicht viele Menschen kennen gelernt, aber doch einige darunter, die sich so wohl fühlten im Schlechten und Unmenschlichen, daß nichts Edleres je sie rühren und gewinnen konnte. Aber ein adliges Gemüth, wie das Ihre, das unselig ist durch seine Einsamkeit, das nur an Glück und der Freude des Beglückens Mangel leidet – nein, liebes Fräulein, nie werde ich glauben, Ihr Herz hätte keine Zukunft, Sie müßten ewig in dieser traurig kalten Abgeschiedenheit bleiben, und alle Mühe warmer 229 Menschen, Ihnen die Seele aufzuthauen, wäre umsonst. Wenn ich meinem Bruder unser Gespräch wiedererzähle, ich kenne ihn, er wird gar nicht an sich denken, nur an Ihr Loos und seine Pflicht, Ihnen nicht fern zu bleiben. Sie glauben nicht, was er vermag. Nicht, daß er Sie irgend für sich erobern, sich in Ihr Herz wird einschleichen wollen. Aber mit den dunklen Mächten, die über Ihrer Jugend gewaltet, wird er furchtlos den Kampf aufnehmen, und – fügte er mit melancholischem Lächeln hinzu – es thut mir nur leid, daß ich es nicht mehr erleben werde, wenn Sie eines Tages ihm sagen: Du hast gewonnen; es ist warm da drinnen geworden.

Sie schüttelte leise den Kopf. Sie sind ein guter Mensch, aber ein schlechter Prophet, sagte sie ernsthaft lächelnd. Doch gleichviel. Versprechen Sie mir nur, zu leben, wer weiß, was Sie noch erleben. Und Ihrem Bruder sagen Sie – was Sie wollen. Ich zweifle, ob er wiederkommt. Er ist doch anders, als Sie, leidenschaftlicher und stolzer, er will »Alles oder Nichts«. – Wenn er sich mit Wenigem begnügen lernt – ich werde mich immer freuen, ihn zu sehen. Aber er soll bald kommen. Ich kann nicht wissen, was aus mir wird. Noch drei Tage, und ich muß einen Entschluß fassen; denn wenn ich auch das Leben liebte: es läßt mich nicht mehr leben. Dienstbarkeit, Elend – oder ein Drittes, das nicht das Schlimmste wäre. Und jetzt, mein theurer Freund –

Sie sah nach der Thür, die schon einmal geöffnet und hastig wieder zugeworfen worden war. Der 230 Jüngling stand auf und trat auf sie zu. Ich danke Ihnen innig, sagte er, für Alles, was Sie mir anvertraut haben. Und ich gehe mit leichterem Herzen. Aber noch Eins möchte ich Sie bitten: wenn es nicht möglich ist, daß Sie die Besuche dieses Grafen abweisen, verhüten Sie es doch, daß Edwin hier mit ihm zusammentrifft. Wie ich ihn kenne, würde er die hochmüthige Manier dieses Herrn nicht ertragen, und schon seine bloße Gegenwart, dies leere, kalte Lächeln, diese Stirn, hinter der nie ein hoher Gedanke gekeimt, wären ihm so verhaßt, daß er Sie bitten würde, zwischen ihm und diesem Dritten zu wählen. Wie ist es auch möglich, daß Sie einen solchen Menschen in Ihrer Nähe dulden? Gerade das Vornehme in Ihrer Natur sollte eine solche Caricatur des echten Menschenadels –

In diesem Augenblick wurde die Thür sacht geöffnet, und der Graf erschien auf der Schwelle. Schicken Sie doch endlich den redseligen jungen Menschen weg, Fräulein, sagte er mit kaltem Hohn, ohne Balder eines Blickes zu würdigen. Sie bringen mich sonst in die peinliche Lage, ihm eine Lection in der Lebensart geben zu müssen, ihm begreiflich zu machen, daß es unschicklich ist, seine sehr unreifen Ansichten über Menschen so laut auszukramen, daß die Betreffenden wohl oder übel im Nebenzimmer davon unterrichtet werden. Es kann natürlich nicht die Rede davon sein, sich durch dergleichen 231 gütige Meinungen eines naseweisen Burschen beleidigt zu fühlen. Indessen –

Sie vergessen, wo Sie sich befinden, Graf, unterbrach ihn Toinette rasch, während Balder roth und blaß geworden war und in peinlicher Ueberraschung nach einer Antwort suchte. Wenn Ihnen die Zeit lang wird, so gehen Sie. Wie lange ich mit diesem meinem Freunde zu sprechen habe, darüber bin ich Niemand Rechenschaft schuldig.

Ganz unzweifelhaft, erwiederte der Graf, indem er sich leicht vor ihr verneigte. Sie sind völlig unumschränkt in der Wahl Ihrer Freunde, und für seinen Geschmack ist Niemand verantwortlich. Auch ich hoffe die Bekanntschaft dieses hoffnungsvollen jungen Mannes noch fortzusetzen – an einem passenderen Ort. Adieu, mein Fräulein!

Er nahm seinen Hut und verließ mit kaltem Lächeln das Zimmer.

Was haben Sie gethan, Balder! rief Toinette. Sie haben ihn schwer gereizt, und er wird es Ihnen gedenken. Warum hab' ich Sie auch nicht gewarnt! Diese Thüren und Wände sind so dünn!

Verzeihen Sie mir den unangenehmen Auftritt, den ich wahrlich gern ungeschehen machte, versetzte Balder, ihr seine Hand hinhaltend. Im Uebrigen bin ich unbesorgt. Ich halte den Grafen doch immerhin für zu anständig, um an einem Wehrlosen für eine unfreiwillige Kränkung sich zu rächen, und dann – lange wird man mir überhaupt nichts mehr nachtragen. Weiß ich 232 denn, ob ich von Ihnen noch ein zweites Mal Abschied nehmen kann?

Er neigte sich auf ihre Hand, die sie ihm, mit andern Gedanken beschäftigt, überließ. Gehen Sie noch nicht! sagte sie. Warten Sie, bis er fortgefahren ist. Mir ist nicht wohl bei der Sache. Und Sie sind angegriffen, Sie sollten sich erst mit einem Glase Wein –

Er gab lächelnd ihre Hand frei. Obwohl ich nicht der Stärkste bin, sagte er, – meine Nerven erlauben es mir doch noch, keine Menschenfurcht zu haben. Seien Sie ganz ruhig, theures Fräulein, ich finde sicher meinen Weg nach Hause. Leben Sie tausendmal wohl!

Er hinkte so rasch aus dem Zimmer, daß der kleine Jean, der im Entrée an einem Tischchen neben dem Fenster Schreibübungen machte, nicht hurtig genug war, ihm die Thür zu öffnen. Als er aber die Treppe hinunterkam und in die Hausthür trat, sah er den Wagen des Grafen noch an derselben Stelle halten. Er wird warten, bis ich fort bin, und dann wieder hinaufgehen, dachte er, und es that ihm leid, ein Nachspiel der eben erlebten Scene hinter sich lassen zu müssen. In dem Augenblick aber, wo er sich nach seiner Droschke umsah, öffnete sich der Wagenschlag, und der Graf stieg aus.

Mein werther junger Herr, sagte er, auf Balder zugehend, wir sind vorhin nicht ganz mit einander fertig geworden. Ich habe mir erlaubt, Sie hier zu erwarten, um Ihnen noch einen wohlgemeinten Rath mit auf den Weg zu geben.

Er hielt einen Augenblick inne und maß dabei den 233 Jüngling von Kopf bis Fuß. Balder sah ihm ruhig ins Gesicht. Ich bin begierig, sagte er.

Sie sind noch sehr jung und auch im Uebrigen nicht in einer Verfassung, daß man jedem Ihrer Worte das volle Gewicht beilegen dürfte. Eben deßhalb thäten Sie gut, die Schonung nicht zu sehr herauszufordern. Ich erkläre Ihnen hiermit, daß ich nicht wünsche, Sie bei dem Fräulein noch ein zweites Mal anzutreffen.

Es wird ganz bei Ihnen stehen, Herr Graf, mich zu vermeiden. Ich für mein Theil habe keinen Grund, Ihnen auszuweichen.

So werden Sie sich die Behandlung gefallen lassen müssen, die ich gegen einen Uebermüthigen, wie Sie sind, für gut finden werde.

Balder war todtenblaß geworden, seine Lippen zitterten, seine Augen aber sahen nicht drohend, sondern mit einer seltsamen Traurigkeit den Beleidiger an.

Herr Graf, sagte er, ich bedaure, daß ich vorhin meine Meinung über Sie so laut geäußert habe, daß sie von Ihnen gehört werden konnte. Es ist mir immer schmerzlich, Jemand zu verletzen. Noch mehr aber bedaure ich, daß Ihr Benehmen mein rasches Urtheil nachträglich bestätigt. Im Uebrigen haben wir uns, glaube ich, nichts mehr zu sagen.

Er verneigte sich kalt und winkte seiner Droschke, die in einiger Entfernung gewartet hatte. In demselben Augenblick fühlte er sich am Mantel zurückgehalten.

Mit Ihnen, mein junger Freund, bin ich allerdings fertig, hörte er den Grafen mit zorngedämpfter Stimme 234 sagen. Ihr leidender Zustand giebt Ihnen die leicht zum Mißbrauch verführende Freiheit, ungestraft zu sagen, was Sie wollen. Aber Sie würden mich verbinden, wenn Sie gefälligst Ihrem Herrn Bruder in meinem Namen dieselbe Warnung zukommen lassen wollten. Aus Rücksicht für die Dame, der er, wie ich höre, den Hof macht, wäre es mir lieb, wenn ihr die Wahl zwischen ihm und mir erspart bliebe. Ich pflege mich nicht mit dem Ersten Besten in Eine Reihe zu stellen, und die Sache könnte unangenehme Folgen für ihn haben. Das wollen Sie ihm gefälligst mittheilen, mein junger Freund! Und nun will ich Sie nicht länger hier auf der windigen Straße stehen lassen. Sie haben mich hoffentlich verstanden.

Er trat von ihm zurück, verbeugte sich mit ironischer Höflichkeit und sprang in den Wagen, der rasch davonfuhr.

Balder war stumm und regungslos stehen geblieben. Er faßte unwillkürlich nach dem Herzen, das ein Krampf zusammenzog. Doch ging es wieder vorüber. Die starre Spannung seiner Züge lös'te sich, er lächelte wehmüthig, indem er den Mantel fester um seine Schultern zog. Was für ein armer Mensch! sagte er. Wie muß Einem zu Muthe sein, der von so dumpfen Trieben regiert wird! Und sie, sie könnte – nein, Edwin, Der ist dir nicht gefährlich, oder sie war es nie werth, dein Herz zu besitzen!

Die Droschke hielt neben ihm, der Kutscher, der den Jüngling so blaß und versonnen stehen bleiben sah, empfand Mitleid und stieg vom Bock, ihm den Schlag zu öffnen und ihm hineinzuhelfen. Hören Sie, Herr, 235 sagte er, Sie sollten auch lieber zu Muttern fahren, als Visiten machen. Die Luftheizung in so einer alten Droschke ist nicht weit her, und Sie klappern ja wie eine Schildwache bei zehn Grad unter Null.

Ihr habt Recht, guter Freund, lächelte der Jüngling. Ich denke aber, ich werde bald abgelös't werden. Fahrt mich nur geschwind nach Hause. Fürs Erste – komme ich wohl schwerlich wieder an die Luft! 236



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