Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Zwölftes Kapitel.

Es schlug sieben Uhr, als er aus dem Hause trat, und war völlig Nacht geworden. Die Wohnung, die auf der Karte stand, lag am andern Ende der Stadt, und er fühlte sich von den mancherlei Aufregungen dieses Tages ziemlich erschöpft. Gleichwohl konnte er es nicht über sich gewinnen, den Besuch bis morgen aufzuschieben. Er warf sich in eine Droschke und fuhr in tiefen Gedanken durch die dunklen Straßen.

Vor einem sauberen zweistöckigen Hause hielt er endlich. Er las beim Schein einer Laterne den Namen des Hauseigenthümers unten neben der Nachtglocke, darunter die Bezeichnung »Rentier«. Auf sein Klingeln erschien ein Dienstmädchen, das sich entschieden weigerte, ihn einzulassen. Die Herrschaft habe eben bei dem fremden Herrn, der oben das Zimmer gemiethet, Betstunde, und da dürfe sie Niemand melden.

Du sollst mich auch nicht melden, mein Schatz, versetzte Mohr gelassen, indem er ihr einen Thaler in die Hand drückte. Es ist auf eine Ueberraschung abgesehen. Ich bin ein sehr intimer Freund des Herrn 358 Candidaten, und er wird eine ganz lächerliche Freude haben, wenn er mich so unerwartet eintreten sieht. Auch werde ich, wenn ich ihn erst selbst ins Gebet genommen habe, ihn ruhig weiterbeten lassen.

Das Mädchen merkte nicht den seltsamen Ton wilder Ironie, in welchem diese Worte gesprochen wurden, sondern nahm Alles für so baare Münze, wie den Thaler in ihrer Hand. Sie leuchtete dem freigebigen Besucher in das zweite Stockwerk hinauf und wies mit einem verschmitzten Lächeln des Einverständnisses auf eine Thür, durch die ein wunderlich dumpfes Summen in den Flur hinausdrang.

Er erkannte deutlich die Stimme des Menschen, den er mit unauslöschlichem Haß seit Monaten gesucht hatte. Alles Blut schoß ihm zu Kopf, und er brauchte einige Minuten, ehe er wenigstens den Schein der Kaltblütigkeit wiedergewinnen konnte. Gehn Sie nur, liebes Kind, sagte er. Ich bedarf keiner weitern Erleuchtung, um meinen Weg zu finden.

Er horchte, nachdem sie gegangen, noch einige Augenblicke. Lorinser schien aus einem Erbauungsbuch vorzulesen; dazwischen klangen langgezogene regelmäßige Töne wie von einem Schnarchenden. Leise legte Mohr die Hand auf die Thürklinke und öffnete so geräuschlos daß er schon eine ganze Weile im Zimmer stand, ehe die darin Anwesenden ihn gewahr wurden.

Der Candidat saß auf einem breiten Sopha, die untere Hälfte des Gesichts von einem starken schwarzen Bart verschattet, der ihn sehr unkenntlich machte, den 359 kurzgeschorenen Kopf mit einem dreieckigen schwarzen Sammetmützchen bedeckt, das weit zurückgeschoben die blanke hohe Stirn frei ließ. Neben ihm, in sehr unzweideutiger Nähe an ihn geschmiegt, saß ein hübsches junges Weibchen, das gleich ihm in das Buch zu sehen und eifrig den Worten zu folgen schien, während sie seine Hand fest in ihren Händen hielt. Ein ältlicher Mann mit einer philisterhaft einfältigen Physiognomie lag zurückgelehnt in einem Großvaterstuhl und accompagnirte die Vorlesung mit seinem friedlichen Schnarchen.

Es bedurfte nur eines Blicks, um Mohr darüber aufzuklären, wie hier die Sachen standen.

Lassen Sie sich nicht stören, meine Herrschaften, sagte er plötzlich mit dem höflichsten Ton. Ich wünschte nur ein paar Worte mit Herrn Candidaten Moser unter vier Augen zu sprechen.

Lorinser fuhr in die Höhe, die junge Frau that einen Schrei und ließ seine Hand fahren, der Schläfer sank zusammen und rieb sich verwundert die Augen. Einen Moment schien es, als ob alle Drei durch den plötzlichen Anblick des fremden Gesichts versteinert worden seien. Mohr gönnte sich die Schadenfreude dieses Anblicks und trat ruhig einen Schritt näher, indem er sich vor der Dame des Hauses verneigte.

Wen suchen Sie hier, mein Herr? fragte jetzt der Candidat, der sich rasch gesammelt hatte. Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen.

So sagte auch Petrus, erwiederte Mohr trocken. Sie aber, hoff' ich, werden mich wiedererkennen, noch 360 ehe der Hahn kräht. Erlauben Sie, daß ich mich setze. Wollen Sie die Güte haben, mich diesen Herrschaften vorzustellen, oder soll ich es selber thun?

Die Unverschämtheit geht weit, murrte Lorinser, der todtenblaß geworden war. Sie unterstehen sich, mein Herr, hier in ein fremdes Haus einzudringen und die Abendandacht ohne weitere Entschuldigung zu unterbrechen?

Ich unterstehe mich das, mein Werthester. Die Nacht ist lang genug, um hernach das fortzusetzen, was ich zu meinem Bedauern unterbrochen habe. Nur eine Viertelstunde von Ihrer kostbaren Zeit – und ich bin nicht länger im Wege.

Das junge Weib hatte sich, um ihre Verwirrung zu verbergen, abgewendet und huschte jetzt aus dem Zimmer. Auch ihr Ehemann machte Anstalten, zu gehen.

Bleiben Sie, rief Lorinser, noch immer die Maske des überlegenen Unwillens festhaltend. Sie sollen mir Zeuge sein, werther Freund –

Wie Sie wollen, mein Bester, sagte Mohr mit eisiger Ruhe. Auch mir ist es lieb, wenn der Herr all unsere Verhandlungen zu Protokoll nimmt. Zunächst also: ich komme eben von Fräulein Johanne –

Er hatte den Candidaten scharf im Auge, und die Wirkung, die dieser Name machte, entsprach seiner Absicht. Eine kurze Pause trat ein. Dann flüsterte Lorinser seinem Wirth etwas ins Ohr, und dieser verließ mit einem unterwürfigen Kopfnicken das Zimmer.

Kaum waren sie allein, so zog Mohr seine Dose 361 mit Latakia aus der Tasche und fing an, sich eine Cigarrette zu drehen. Sie erlauben wohl, daß ich rauche, sagte er ganz verbindlich zu dem stumm Dasitzenden. Sie haben hier eine verdammt schlechte Luft, Himmels- und Höllenbrodem durcheinander gequirlt; ich fürchte die Ansteckung und möchte mich desinficiren.

Lorinser hatte die Augen zu Boden geschlagen. Kein Zug seines starren Gesichts verrieth, wie ihm bei diesem Besuch zu Muthe war. Erst als Mohr die Cigarrette anzündete, sagte er mit leichtem Husten: Ich muß nur bitten, sich kurz zu fassen, ich liebe diesen Geruch nicht.

So kurz als irgend möglich, mein Bester, versetzte Mohr phlegmatisch. Sie werden mir zutrauen, daß ich wirklich nur in sehr ernsten Angelegenheiten mich zu Ihnen bemüht habe, nicht etwa bloß um eine Bekanntschaft fortzusetzen, die mir im Uebrigen ganz uninteressant ist. Die Menschenklasse nämlich, der Sie angehören, ist zwar Gott sei Dank nicht zahlreich, aber hinlänglich bekannt, um mit ihrem Studium noch Zeit zu verderben. Goethe hat sie im Faust recht treffend bezeichnet; Sie entsinnen sich der Stelle, wo er von einer gewissen Spottgeburt redet. Auch die Spielart, die Sie repräsentiren, ist nicht neu. Zacharias Werner und Andere sind Ihre Vorläufer, so daß Sie nicht einmal das Verdienst der Originalität haben, sondern einfach ein gottseliger Lump aus zweiter Hand sind.

Ich will Ihnen nur zuvor bemerken, begann Lorinser ohne die Fassung zu verlieren: wir nehmen an, daß Sie all Ihre Schmähungen in diesem Stil bereits über 362 mich ergossen hätten, und kommen gleich zur Sache. Ich bin zwar gewohnt, Schimpfreden zu verachten, und tröste mich damit, daß auch heiligere Menschen, ja unser Erlöser selbst –

Schön! unterbrach ihn Mohr. Aber eine Freundlichkeit ist der andern werth. Ich werde jede Unhöflichkeit meiden, so sehr die Sache sie mit sich bringen mag, und Sie versprechen mir dagegen, einen so ehrwürdigen Namen, wie den des Stifters der christlichen Religion, in meiner Gegenwart nicht wieder zu entweihen, indem Sie ihn von Ihren Lippen erschallen lassen. Ich gestehe Ihnen meine Schwäche: mir wird körperlich übel, wenn ich hören muß, daß ein – wie sag' ich doch gleich? – ein armer Sünder – das ist doch nicht geschimpft? – mit dem Bilde dieses erhabensten Dulders und Vorkämpfers der Menschheit ein lästerliches Possenspiel treibt. Sind Sie also einverstanden? Gut. Und nun ohne Umschweife zur Sache. Kennen Sie das?

Er griff mit der Hand in seine Brusttasche; Lorinser zuckte unwillkürlich zusammen.

Beruhigen Sie sich, lachte Mohr höhnisch auf. Ich habe keine Pistole in der Tasche, die ich Ihnen jetzt auf die Brust setzen will, um Sie zu einer Generalbeichte zu zwingen. Ich verachte solche melodramatische Mittelchen, die ja auch fehlschlagen würden einem so heiligen Manne gegenüber, dem die Märtyrerkrone der höchste Lohn dünkt. Was ich hier mitgebracht habe, ist nur ein kleines Buch, eine nette Taschenausgabe des Thomas a Kempis. Ihr Name ist vorn eingeschrieben, ich meine, 363 Ihr wahrer Name, ehe Sie sich zur Wiedertäuferei bekannten und den etwas schmutzig gewordenen alten Adam Ihres Lorinser mit einem blitzblanken Moser vertauschten. Sie erkennen das Büchlein doch wieder?

Er hielt es ihm hin und legte es, da Jener flüchtig hingeblickt und die Frage mit einem Kopfnicken bejaht hatte, auf den Tisch. Ich danke Ihnen, fuhr er fort; Sie erleichtern uns Beiden unser Geschäft, wenn Sie alles nichtsnutzige und unnütze Lügen lassen wollen. Dieses Büchlein habe ich in einem Zimmer der Dorotheenstraße gefunden, aus welchem am Tag nach Ihrem Nachtbesuch eine Dame, für die ich mich interessire, verschwand. Ich war so glücklich, dieselbe zwei Nächte später wieder aufzufinden, und zwar, wie Ihnen vielleicht unbekannt ist, mit nassen Kleidern und in einer sehr stummen Laune. Fünf Stunden bemühten wir uns, ihr nur das kleinste Wörtchen abzulocken. Als sie sich endlich entschloß, Lippen und Augen wieder zu öffnen, war natürlich von Ihnen keine Rede. Aber der kleine Thomas a Kempis, vermuthlich um sich dafür zu rächen, daß Sie ihn auf Wegen mitnehmen, wo von der Nachfolge Christi nicht die Rede sein kann, hat die Indiscretion begangen, zu plaudern; die Magd, die Ihnen Abends das Zimmer aufschloß und Sie erst viel später wieder hinaus schleichen sah – Sie glaubten freilich, nur Gott sähe Sie, der schon gewohnt sei, ein Auge zuzudrücken, – diese ehrliche Person also hat mir auf mein Befragen Alles bezeugt und sich dann den Mund für immer wieder versiegeln lassen. Somit wissen also nur vier Menschen 364 um jene Nacht. Drei davon haben gute Gründe, zu schweigen. Aber der Vierte könnte in irgend einer teuflischen Laune, deren man sich von ihm zu versehen hat, um irgend einen »wohlthätigen« oder ruchlosen Zweck zu erreichen, die Geschichte ausplaudern. Für diesen Fall, mein Bester, sagen Sie doch jenem Vierten, daß ich entschlossen bin, ihm für immer den Mund zu stopfen, indem ich ihn niederschieße wie einen tollen Hund, oder sonst irgend wie still mache. Sie haben mich doch verstanden? Nur eine Silbe, ein Augenblinzen, ein Achselzucken, das die Ehre jener Dame verdächtigte, und Sie erhalten von mir einen Laufpaß in die bessere Welt.

Er schwieg, als erwarte er eine ausdrückliche Antwort. Lorinser hatte den Kopf zurückgelegt und sah nach der Decke. Er hustete ein paar Mal und fuhr sich mit seinen langen, sehr biegsamen Fingern durch den Bart.

Und dies ist Alles, was Sie zu mir geführt hat? fragte er nach einer Weile. Ich hoffe, Sie bewundern die Geduld, mit der ich Ihre ungereimten Hirngespinnste anhöre. Aber ich bitte, diese Geduld auch nicht zu mißbrauchen.

Mohr betrachtete ihn mit eisigem Hohn.

Sie sind ein kostbarer Bursche, sagte er. Unter andern Umständen würde ich Sie wegen der eisernen Maske bewundern, die Ihnen Mutter Natur an die Stelle geschmiedet hat, wo andere Muttersöhne ihr Gesicht zu tragen pflegen. Aber wie gesagt, die Luft hier ist mir so verdächtig, daß ich mich auf das 365 Nothwendigste beschränken will. Kurz und gut also: kennen Sie den jetzigen Aufenthalt der Dame, von der die Rede war?

Nein.

Sind Sie entschlossen, ihr auch niemals nachzuforschen?

Warum sollte ich das, da ich keine Beziehungen mehr zu dieser Dame habe?

Keine Beziehungen mehr? Sie drücken sich vortrefflich aus. Sind Sie aber ferner geneigt, sich zu verpflichten, wo Sie ihr jemals zufällig wieder begegneten, den Ort und die Stadt auf der Stelle zu verlassen und für alle Zukunft zu meiden?

Eine seltsame Verpflichtung. Sie muthen mir da Unbequemlichkeiten zu –

Ich bedaure, dieselben noch vermehren zu müssen. Auch das Vergnügen meines Anblicks werden Sie sich ein für alle Mal versagen und dies durch ein feierliches Gelöbniß mir bekräftigen – obwohl das eigenthümliche Verhältniß, in welchem Sie zu Ihrem Herrgott stehen, den Werth, den solche Verpflichtungen zwischen gewöhnlichen Ehrenmännern haben, bedeutend abschwächt. Ich habe indessen Mittel, Sie zum Halten Ihrer Zusage zu nöthigen.

Die zu erfahren ich begierig wäre.

Mit Vergnügen, mein hochwürdiger Herr. Ich bin nämlich leider nicht im Stande, Sie so ohne Umstände nach Verdienst zu züchtigen, wie man ein gemeinschädliches Reptil mit dem Fuß zertritt. Es würde mir das allerlei Unannehmlichkeiten zuziehen, und da ich noch 366 andere Pflichten gegen meine Nebenmenschen habe, muß ich die äußersten Schritte, die mich mit der Criminaljustiz in Conflict brächten, so lang als möglich vermeiden. Indessen, obwohl es heißt, daß der Himmel sich die Rache vorbehalten, geht es mir doch gegen den Mann, einen bösen Gesellen, wie Sie, so ganz frei herumlaufen zu sehen. Ich habe mich entschlossen, da der Arm der – bürgerlichen Gerechtigkeit zu kurz oder zu plump ist, um so geschmeidige Missethäter zu fassen, eine ganz geräuschlose und stille Vehm-Justiz gegen Sie ins Werk zu setzen. Wo ich Ihnen in Zukunft begegne, werde ich Sie ohne Gnade brandmarken – auf welche Art, das wird auf die Eingebung des Augenblicks ankommen. Aber aus der Welt, in der ich lebe, müssen Sie hinaus! – rief er plötzlich überlaut, indem er aufstand und die Cigarrette wegwarf. Verstehen Sie mich wohl? Ich dulde Sie nicht, ich werde Sie verfolgen, bis Sie ein für alle Mal mit Ihrem Athem die Luft nicht mehr vergiften, die ich athme, und darum wäre es vielleicht das Einfachste, Sie entschlössen sich ohne viel Umstände zur Uebersiedelung nach Amerika, etwa zu den Mormonen, für die Sie allerlei schätzbare Qualitäten mitbringen, falls Sie nicht lieber gleich Cayenne vorziehen, eine Gegend, in der die innere Mission noch eine schöne Aufgabe hat.

Eine Pause trat ein. Die beiden Todfeinde sahen sich starr in die Augen.

Und wenn ich, sagte Lorinser endlich, statt mir alle diese wohlwollenden Rathschläge zu Nutze zu machen, es vorziehe, morgenden Tages die Polizei zu benachrichtigen, 367 daß ein wahnwitziger Mensch mit Drohungen und Einschüchterungsversuchen mir ins Haus eingebrochen ist, und um Schutz gegen diese Vergewaltigung nachsuche? Denn gewisse Privatangelegenheiten, über die Sie selbst einen Schleier zu breiten Ursache zu haben scheinen, würden mich wahrlich nicht abhalten, mir Ruhe zu verschaffen, Ruhe um jeden Preis.

Um jeden Preis? Das könnte Ihnen doch vielleicht etwas kostspielig werden. Oder würden Sie wünschen, daß, als Antwort auf diese Anzeige, von Seiten einer verehrten Gönnerin eine Klage gegen Sie eingereicht würde: wegen Unterschlagung anvertrauter Armengelder?

Unterschlagung! rief Lorinser, indem er aufsprang. – Zum ersten Mal in dem ganzen Gespräch fiel die eherne Maske von ihm, und das wahre Gesicht kam in heftiger Verzerrung zum Vorschein.

Unterschlagung? wiederholte er. Was für alberner Worte bedienen Sie sich, die nur beweisen, daß Sie nicht von fern im Stande sind, eine Natur, wie die meinige, zu begreifen! Oder nein: Sie ahnen recht wohl, wen Sie vor sich haben, einen der seltnen Berufenen und Auserwählten, die vom Hauch des Ueberirdischen trunken durch die Welt gehen und die schnurgeraden Heerstraßen, die für nüchterne Weltkinder gemacht sind, nicht immer einzuhalten vermögen. Was ist uns Geld und Gut? Eine armselige, verächtliche Nothdurft! so werthlos, wie andere Bedingungen dieses am Staube klebenden Leibes! Wer sich nie über den Staub 368 erhebt, mag sich davon knechten lassen, mag um Pfennige sorgen und Heller verrechnen. Wer aber den Armen Schätze bietet mit vollen Händen, solche, die weder Motten noch Rost fressen, wer ihnen den Himmel erschließt und sie aus aller Angst und Noth in die Fülle des ewigen Lebens hinaufhebt, der sollte sich ein Gewissen daraus machen, auch von ihnen etwas zu empfangen, das Schnödeste und Gemeinste, was Menschen einander geben können, geprägtes Erz oder gestempeltes Papier, und sollte über sein tägliches Brot bissenweise abrechnen mit Denen, die ewig seine Schuldner bleiben? Einem Solchen wollen Sie mit Anklagen kommen wegen nachlässiger Buchführung, die freilich den Krämerseelen in dieser Welt des Handels als die einzige Sünde gegen ihren heiligen Geist erscheint?

Bravo! versetzte Mohr trocken. Sie haben Ihre Rolle gut memorirt und Ihr Sprüchlein wacker vorgetragen. Nur wirkt es eben nicht auf jedes Publikum. Diese großartige Welt- und Geldanschauung, die Sie mit allen Traumdeutern, Goldmachern und falschen Propheten theilen, von Mohammed herab bis auf unsere Tage, wo wir Aehnliches erleben, dieses naive Zugreifen schwärmerischer Unschuld, die in ihrer Blindheit doch immer so glücklich die fettesten Bissen erhascht, mag bei Denen am Platz sein, die Ihnen blindlings anhängen und ihren Vortheil dabei finden, von Ihnen ausgebeutet zu werden. Volenti non fit iniuria – so viel vom Jus haben Sie hoffentlich gelernt. Die gute Professorin aber, die weder in Sie verliebt ist, noch auf demselben theologischen 369 Boden steht und von Ihnen keinerlei geistige Erleuchtung gegen schweres Geld einzuhandeln wünscht, sieht die Sache vom Standpunkt gemeiner bürgerlicher Ehrlichkeit an. Ich denke, Sie wissen ungefähr, was man Treu' und Glauben nennt. Daran hält die gute Seele in ihrer Beschränktheit fest und findet, daß Der, dem sie Geld für ihre Armen gegeben hat, ein elender Betrüger ist, wenn er von diesem Gelde seine eignen Lebensbedürfnisse bestreitet und zur größeren Ehre Gottes Austern und alten Rheinwein damit bezahlt.

Sie sind ein Teufel! knirschte Lorinser dumpf.

Ich habe mich nie für einen Engel gehalten, erwiederte Mohr, immer mit seinem kaltblütigsten Ton. Wenigstens aber hoffe ich auch kein dummer Teufel zu sein. Sie haben gesehen, fuhr er fort, indem er die Dose mit Latakia von Neuem öffnete, ich bin ziemlich geübt in der Kunst des Cigarrettendrehens. Wenn das jetzt in Arbeit befindliche Exemplar fertig ist, ehe Sie meinem sehr billigen Compromiß Ihren Beifall geschenkt haben, so gehe ich von dieser geweihten Stätte schnurstracks in die profane Wohnung eines mir befreundeten Justizraths. – Sie selbst rauchen nicht? Schade! Es ist manchmal recht nützlich, um Contenance zu bewahren. Blücher rauchte in jeder Schlacht.

Ein unterdrücktes Schnauben des Ingrimms kam aus der dunklen Tiefe des Zimmers, wohin der Andere sich zurückgezogen hatte. Plötzlich stürzte er nach der Thür und riß sie weit auf. Verlassen Sie dieses Zimmer! rief er so laut, daß es etwaige Lauscher draußen 370 in den Nebenzimmern hören mußten. Daß wir uns nie wieder begegnen, soll meine Sorge sein.

Ich danke Ihnen, erwiederte Mohr, seinen Hut aufsetzend. Die Cigarrette ist eben fertig. Ich wußte es, daß wir uns verständigen würden. Intelligenti pauca. Bitte, Sie sind zu höflich; Sie brauchen mir nicht so zuvorkommend die Thür zu öffnen. Ich kenne das Gesetz aller Geister und Gespenster, daß sie eben da wieder ausfahren müssen, wo Sie hereingekommen. So! Und nun wünsche ich gute Andacht!

Er ging, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, mit dem gelassensten Gesicht an dem Besiegten vorbei, der am ganzen Leibe bebend, mit geballten Fäusten neben der Thür stand und sie hart hinter seinem Feinde zuwarf. Nur auf der Treppe glaubte dieser ein dumpfes Stöhnen der Wuth wie von einem Raubthier zu hören, das in eine Fallgrube gestürzt ist. Ein Zug bitter-schmerzlichen Ekels ging über das starke Gesicht, und die Unterlippe rümpfte sich verächtlich und leidvoll zugleich. Als er unten auf der kühlen nächtlichen Straße angekommen war, blieb er stehen und athmete tief auf. Er reckte seine nervigen Arme, wie um eine unerträgliche Last abzuwälzen, und schloß einen Moment die Augen.

Wohin jetzt? brach es von seinen Lippen. Wohin mich wenden, daß ich wiederfinde, was verloren ist? Nein, nicht auf ewig verloren! Und wenn ich die Welt bis an ihre letzten Grenzen durchsuchen müßte – ich finde sie – ich muß, ich will sie finden. Armes, 371 armes Weib! Ich will dir Ruhe schaffen, so weit es Menschen gegen Teufel möglich ist! –

Er ging einige Schritte in tiefen Gedanken. Plötzlich blieb er wieder stehen und fuhr sich an die Stirn. Himmel! sagte er, was ich über all der Niedertracht vergessen habe: Edwin und Lea empfehlen sich ja als Verlobte! Ich will hin! Ich muß heute Abend noch gute Menschen sehen, um an die Menschheit wieder zu glauben.

Und das Adagio aus der C-moll-Symphonie pfeifend – sein Universalmittel, wenn er sich einen bittern Geschmack von der Zunge spülen wollte – schlug er den Weg nach dem Häuschen des Zaunkönigs ein.

 


 


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