Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Fünftes Kapitel.

Indessen saß Lea in rathlosem Kummer noch auf derselben Stelle am Fenster, von wo sie dem Fortwandernden in den falben Morgen hinaus nachgewinkt hatte. – Sobald er ihren Augen entschwunden war, hatte sich aller verhaltene Schmerz der letzten Tage in einen Strom von Thränen aufgelös't, ohne doch das arme zuckende Herz zu erleichtern. Als dieser Flut endlich versiegte, starrte sie nur um so hoffnungsloser mit brennenden Augen wie in einen grauen, undurchdringlichen Nebel, aus dem keine trauliche Gestalt auftauchte, keine warme Stimme zu ihr her drang. Diese acht Tage, die Edwin noch fern bleiben sollte, erschienen ihr jetzt als eine Gnade. Sie durfte doch so lange ihren Kummer ausstöhnen und ausweinen nach Herzenslust. Wenn er wiederkam, sollte er sie wiederfinden als das, was sie ihm stets gewesen war: seine tapfere Freundin, seinen treuen guten Kameraden, dem man das innerste Gemüth offenbart, auch wenn darin eine Leidenschaft für eine fremde Frau, die schon mit der Wurzel ausgerottet schien, von Neuem üppig aufsprießt. Freilich, wie konnte er wissen, daß sie 239 selbst nur ein schwaches Weib war, das alle vielgerühmten klugen Gedanken und alle heroische Vernunft untergehen fühlte in grenzenloser Sehnsucht nach seiner Liebe!

Sie hatte es ja aus seltsamer Scheu ihm nie gesagt, vielleicht aus Stolz, da er nie danach zu fragen schien!

Aber er bedurfte Leidenschaft – das war ihr jetzt mit Schrecken klar geworden. Je kühler sein Kopf war, je heftiger verlangte sein Herz nach schrankenloser, selbstvergessener Thorheit, nach einer Liebe, die höher war als alle Vernunft. Die hatte er nun gefunden, – in jenem Zauberschlosse, wo der alte Dämon wieder Macht über ihn gewann. Die Zauberin selbst hatte all ihre schwarze Kunst von sich gethan, um die schwärzeste und unwiderstehlichste zu üben: sich als ein armes, hülfloses Weib ihm an den Hals zu werfen und zu sprechen: Ich bin dein; mache mit mir, was du willst! – Und er sollte dies Alles verschmähen und antworten: Du kommst zu spät –? – Wohl, er hatte es gesagt. Er wußte, was er seiner Pflicht schuldig war. Aber dies Märtyrerthum annehmen, einen Menschen halten an eiserner Kette, den alle Triebe des Bluts hinwegzerren – es überlief sie fieberhaft bei diesem Gedanken.

Sie konnte freilich Leidenschaft gegen Leidenschaft setzen und sehen, welche siegte, die ihre, die wahrlich nicht zahmer und engbrüstiger war, als je ein Weib sie einem geliebten Manne entgegengebracht, oder die launenhafte jener Fremden, die jetzt, da es zu spät war, ein verlorenes Leben wegwerfen wollte, um in ihrem Retter 240 sich selbst wiederzugewinnen. Aber auch Dem widersprach ihr Stolz. Hatte er je ihre Leidenschaft vermißt? Konnte er glauben, da sie so lange sich selbst verleugnet hatte,. daß dieselbe wirklich echt und voll und nicht eher ein Aufflackern eifersüchtiger Schmerzen sei, als das Hervorbrechen einer innersten Naturgewalt?

In all diesem wühlenden Sinnen und Denken blieb ihr aber Eins völlig fern: kein Hauch von Groll gegen einen der beiden Menschen, die sie jetzt so leiden machten, regte sich in ihrer Seele. Jene Frau, die kein Bedenken trug, ihr das Leben zu zerstören, ihr einziges Glück an sich zu reißen – was war sie ihr, der Fremden, schuldig, von der sie nichts wußte, als daß sie bisher den geliebten Mann besessen und sein Herz doch nicht ausgefüllt hatte? Und Edwin – hatte er sie betrogen? Litt er nicht am schwersten darunter, daß er sie zu innig achtete und zu hoch hielt, um auch nur den Versuch zu machen, sie über seinen Zustand zu täuschen?

Aber gerade, daß er liebevoll, warm und redlich gegen sie blieb, daß er ihr einen brüderlichen Antheil an seinem Schicksal zu gönnen fortfuhr – das konnte sie nicht ertragen, das wollte sie nicht wiederkehren sehen, da es ihrem innersten, von leidenschaftlicher Liebe überströmenden Herzen Hohn sprach. Noch wußte sie nicht, wie sie es ändern, was sie ihm sagen sollte, wenn er endlich wiederkäme, mit etwas besser geheilter Wunde, um sich in ihre schwesterliche Pflege zu geben – bis eines Tages die Wunde durch irgend einen Zufall von Neuem zu bluten anfinge und vielleicht sein Leben bedrohte. Aber 241 war sie nicht auch sich selbst und dem Kinde, das sie unter dem Herzen trug, etwas schuldig? Konnte sie es dem armen Geschöpf anthun, daß es nur mit einem Pflichttheil Vaterfreude begrüßt und – wer weiß – heimlich nur als ein neues Glied der drückenden Kette betrachtet würde, die mit möglichst guter Manier getragen werden müsse? Bei diesem Gedanken empörte sich das Blut ihrer Mutter in ihr, ein so eifersüchtiger Grimm und Gram, daß selbst über das Bild Edwin's einen Augenblick ein gehässiger Schatten fiel. Gleich darauf erschrak sie wieder vor ihrer eigenen Leidenschaftlichkeit und wehrte sich mit aller Kraft des reinsten Willens gegen dies feindselige Gefühl.

Zum ersten Mal in ihrem Leben, seit sie mit Edwin verbunden war, fühlte sie sich unsäglich allein. Ein Freund – eine Freundin, die ihr geholfen hätten, den traurig verworrenen Knäuel ihrer Gedanken zu entwirren – was hätte sie darum gegeben? Sie dachte an Reginchen – an Reinhold – und sofort fühlte sie wieder, daß Niemand, und wenn er ihr noch viel näher gestanden, viel tiefer mit ihrem Wesen vertraut gewesen wäre, den Mittler hätte machen können zwischen ihrem Schicksal und ihrem Frauenstolz, ihrem Gatten und ihrer geheimsten Empfindung.

Stundenlang hatte sie so trostlos in den Aufruhr ihres Innern hineingestarrt; endlich ermatteten ihre Gedanken. Sie ging daran, ihr kleines Hauswesen zu bestellen, was bald geschehen war. Dann nahm sie mechanisch eine von Edwin's Arbeiten und fing an zu lesen; es war ihr einen Augenblick wohl bei dem Gedanken, 242 wie gut sie das Alles verstand, was mancher Frau zu hoch gewesen wäre, und doch warf sie plötzlich das Buch mit schmerzlicher Heftigkeit wieder fort, als es ihr durch den Sinn fuhr, wie ohnmächtig alles Einverständniß der Geister sei gegen den blinden, unvernünftigen, elementaren Zug der Naturen, der alle Freiheit knechtet und die Weisesten bethört. Sie selbst fühlte diesen Zug auch jetzt in ihrem Herzen und stärker als je, und es fiel ihr wieder ein, wie glücklich sie dadurch noch vorgestern Abend gewesen war – und freilich jetzt wie elend, da sie damit ins Leere gewiesen war!

Aus dieser völligen Verstörung ihres einsamen Gemüths riß sie der Besuch des alten Feyertag heraus. Der alte Herr wußte von Edwin's neuem Ausbruch noch nichts und kam, seine eigene Abreise für diesen Abend anzumelden. Er war in einer drollig geheimnißvollen Laune, ließ sich über die Gründe, die ihn so plötzlich nach Berlin zurückführten, nur mit halben Andeutungen vernehmen, versicherte aber einmal über das andere, er fühle sich wie neugeboren, und man sei nie zu alt, um noch einmal in die Schule zu gehen. Da auch Mohr nicht mehr da war, konnte er sich das harmlose Vergnügen machen, Manches von dem, was er gestern von diesem klugen Seelsorger gehört, besonders die Theorie von den Eichbäumen und dem Humus der Menschheit, als seine eigene, längst in ihm reifgewordene Weisheit vorzutragen, in einem so überlegen selbstverständlichen Ton, daß Lea trotz aller ihrer Schmerzen mehr als 243 einmal lächeln mußte, da sie den Zusammenhang leicht durchschaute.

Wissen Sie was, Frauchen? schloß der eifrige alte Mann seinen Vortrag über die Nothwendigkeit, das Volkswohl zunächst an der eigenen Person zu befördern, kommen Sie heute Abend mit mir nach Berlin. Was hocken Sie hier in Ihrem Strohwittwensitz und blasen Trübsal? Der Herr Gemahl kann ja nur sehr damit einverstanden sein, wenn Sie diese acht Tage Ihren lieben Eltern widmen. Ich aber mache mir ein Extravergnügen daraus, Ihnen mal so recht Berlin zu zeigen – Museum, Schauspielhaus – nach Sanssouci fahren wir natürlich auch – Sie sollten sich schämen, als ein richtiges Berliner Kind von all diesen Sachen so gut wie nichts zu wissen. Wenn man bedenkt, wie viele Bildungsmittel einem tagtäglich nahe sind – man braucht nur die Hand danach auszustrecken, aber eben weil es nicht weit her ist –

Sie schüttelte mit einem mühsamen Lächeln den Kopf. Ich danke Ihnen, lieber Herr Feyertag, sagte sie. Aber mich verlangt wirklich gerade jetzt nicht so sehr nach Bildung, als nach – Ruhe, oder wie Sie's nennen wollen. Grüßen Sie mir die Eltern – verrathen Sie nicht, daß Sie mich wieder in einer so bösen Kopfwehstunde getroffen haben; – wenn ich einmal nach Berlin komme, will ich klare Augen mitbringen – und auch meinen Mann.

Der wackere alte Freund, dem es überhaupt mit seinem Vorschlag nicht besonders Ernst gewesen war, 244 konnte dagegen nichts einwenden und verabschiedete sich, nachdem er noch allerlei zierliche Sentenzen von sich gegeben hatte, mit unverstellter Herzlichkeit von der jungen Frau. Zu Mittag herumzukommen, wozu er sie in Reginchens Namen dringend aufforderte, lehnte sie ab. Ihr dummer Kopf tauge nicht in Gesellschaft. Ihr sei am wohlsten allein, wo Niemand davon Notiz nehme, wenn ihr zuweilen alle Gedanken vergingen.

Als der Meister kaum wieder auf der Straße war, hatte er sich den Antheil, den ihm Lea's leidender Zustand eingeflößt, trotz all seiner wahren Hochachtung für sie doch gleich wieder aus dem Sinn geschlagen und mit der Behendigkeit, die sehr vielen theoretischen Menschenfreunden eigen ist, seine Gedanken auf sein eigenes Vorhaben gerichtet. Er sah deßhalb einigermaßen betroffen auf, als er sich plötzlich von einer schlanken Frauengestalt mit wohlklingender, etwas gepreßter Stimme anreden und nach der Wohnung der Frau Doctorin fragen hörte. Die Fremde war dichtverschleiert, aber der Kennerblick des alten Meisters ließ ihn trotzdem nicht einen Moment darüber im Zweifel, daß etwas sehr Vornehmes, Reizendes und Junges ihm gegenüberstehe. Auch fiel ihm ein zarter Veilchenduft auf, der aus dem Spitzenschleier der Dame ihn anwehte. Sehr artig erbot er sich, die paar Schritte bis zu Edwin's Hause mit der Fremden zu gehen, wobei er bemerkte, der Herr Doctor sei gerade abwesend, auf einer kleinen Fußreise begriffen, die Frau Doctorin aber zu Hause. Ich weiß, sagte die Dame. 245 Auch will ich nur die Frau besuchen. Treffe ich sie wohl eben allein?

Der Meister bejahte und suchte in seinem schlauen Kopf nach irgend einer Handhabe, um noch mehr aus der Verschleierten herauszuforschen, die, wie er sofort überzeugt war, keine »Hiesige« sein konnte. Leider hatten sie aber das Haus bereits erreicht, die Fremde dankte mit einer leichten Neigung des Kopfes, öffnete ohne Weiteres die Hausthür und verschwand in dem dunklen Flur. –

Niemals war der alte Mann auf die Lösung eines Rebus oder einer Charade, die er regelmäßig in einigen Journalen verfolgte, versessener gewesen, als auf den Anlaß dieses Besuchs. Es war das einzige weibliche Wesen, das in dem »Nest« ihm verschleiert begegnet war. Daß sie mit Lea bekannt sein sollte, ohne daß auch seine Tochter von ihr wüßte, schien ihm unglaublich. Er beschloß daher, bei Reginchen weiter nachzuforschen.

Das war nun freilich erfolglos. Eine Dame, wie er sie beschrieb, kannte man selbst in den höheren Kreisen der hiesigen Gesellschaft nicht. – Und doch, wenn es eine Fremde war, wie konnte sie schon wissen, daß Edwin verreis't und Lea allein zu finden sei, was ja die Nachbarn selbst erst durch den Vater erfuhren?

Das Geheimniß mußte sich so oder so lösen, und Reginchen, wie alle ganz mit sich einigen Menschen, litt nicht im Mindesten an Neugier, sondern schlug es sogar ab, eine Magd zu Lea zu schicken und sich erkundigen zu lassen. Sie hatte viel schwerere Sorgen, die sich 246 ebenfalls um Edwin's Haus drehten, aber mit dem zufälligen Besuch einer fremden Dame, wie es schien, durchaus nicht zusammenhingen.

Indessen verlor sich auch die Neugier des alten Mannes, der überhaupt nicht lange an einem Gedanken festzuhalten pflegte, im Laufe des Tages, da sie keine neue Anregung erhielt. Lea's Name wurde nicht mehr genannt, der Versuch auch nicht erneuert, die Einsame zu Tisch herüberzuholen. Papa Feyertag war beim Essen sehr munter, sprach von neuen Erfindungen, von Krieg und Frieden und der socialen Frage, aber ohne persönliche Gereiztheit, und beschäftigte sich den ganzen Nachmittag damit, allerlei unvollkommenen Blase-Instrumenten, die er den Zwillingen gekauft, zur großen Erbauung seiner jungen Zuhörer die unglaublichsten Töne zu entlocken.

Reinhold, in seiner stillen Weise, schien dieser Wendung der Dinge von Herzen froh zu sein, brach dem Arbeitstag eine halbe Stunde ab und war schon um sieben Uhr wieder im Wohnzimmer, um noch mit dem Schwiegerpapa vor dessen Aufbruch zu Nacht zu essen. Die Kinder waren zu Bett gebracht, die drei Erwachsenen hatten sich eben wieder um den runden Tisch gesetzt, als die Thür sich öffnete und zu allgemeinem Erstaunen, so natürlich dieser Besuch im Grunde war, Lea hereintrat. 247



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