Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Dreizehntes Kapitel.

Als Edwin am Nachmittag in Toinettens Zimmer trat, fand er sie auf dem Sopha sitzend, offenbar sehr zerstreut; denn erst als er ihren Namen nannte, blickte sie auf. Sie hatte ein kleines Kästchen auf dem Tische vor sich stehen, an dem sie träumerisch spielend den Schlüssel auf und zudrehte; dazu war ihr Gesicht blaß und ihre Augen seltsam gespannt. Sie ließ sie ein paar Secunden lang auf dem Eintretenden ruhen, als ob sie Mühe hätte, ihn zu erkennen. Es war aber nur, daß sie sich überhaupt anstrengen mußte, den Blick, der lange nach innen gekehrt war, wieder auf Etwas außer ihr zu wenden.

Guten Tag, lieber Freund, sagte sie ruhig, ohne aufzustehen, indem sie ihm ihre Hand entgegenstreckte; kommen Sie endlich auch einmal wieder zu mir? Das ist schön, das Schönste dabei, daß Sie es mit leichtem Herzen thun können. Was für böse Wochen haben Sie überstanden! Nun, auch ich war recht miserabel, und das Schlimmste ist: mir kann keine gute Pflege und brüderliche Liebe helfen. Aber reden wir von etwas 180 Anderem, etwas Lustigerem. Sie haben das große Loos gewonnen? Ich gratulire.

Er erklärte ihr lachend, was Balder dazu verführt habe, sich mit dem kleinen Jean diesen Scherz zu machen. Von der Professur sagte er kein Wort.

Immerhin, sagte sie, wird es Ihnen lieber sein, in einer Lotterie gewonnen zu haben, wo man mehr Verstand als Glück haben muß, um keine Niete zu ziehen. Und doch ist es auch wieder Schade, daß es nur ein Scherz war. Es hatte mich schon darüber getröstet, daß ich Ihnen mein Wort nicht halten kann.

Ihr Wort?

Ihnen die Trümmer meines fürstlichen Vermögens anzubieten, wenn Ihr Bruder nach dem Süden reisen sollte. Obwohl ich seitdem sehr bürgerlich gelebt habe – sehen Sie, da halte ich nun! Wenn ich meine letzte Hausrechnung bezahlt habe, reicht es eben noch zu einem Opiumrausch.

Sie hatte das Kästchen aufgeschlossen und ließ ihn hineinsehen. Ein paar Goldstücke lagen darin und einige blanke Thaler.

Ich freue mich, daß Sie jetzt Platz haben, scherzte er. Ich wüßte ohnehin nicht, wo ich meine fünfzig Ducaten aufbewahren sollte. Denn solcher Glanz in unsrer niedern Hütte – Sie kennen ja nun auch die berühmte Tonne – zu einem feuerfesten Geldschrank haben wir es noch nicht gebracht.

Lachen Sie nur, erwiederte sie und schloß das Kästchen wieder zu. Es ärgert mich genug, daß ich so 181 einfältig und schwach war, kurz ehe Sie kamen, über diesen Bankerott zu weinen. Das ist das dumme Geld wahrhaftig nicht werth. Aber sehen Sie, eben deßhalb ist ein großes Loos eine schöne Sache, weil man sich dann nicht mehr so zu erniedrigen braucht, an Geld zu denken und sich gar Kummer darüber zu machen. Ich schäme mich, daß ich nur einen Augenblick so gemein sein konnte. Und nun kein Wort mehr davon. Erzählen Sie mir von Ihrem Bruder. Ist er wirklich ganz außer Gefahr?

Er setzte sich zu ihr auf das Sopha und sprach von Balder's Zustand, den Hoffnungen, die Marquard gegeben, der großen Liebe, mit der alle Freunde sich um ihn verdient gemacht; auch daß er es ihm auf die Seele gebunden, Toinette für all ihre Freundlichkeit zu danken. Natürlich danke ich Ihnen auch in meinem Namen, liebe Freundin, fügte er hinzu. Ich bilde mir ein, Sie haben auch mir damit wohlthun wollen. Sie wußten, was ich in diesen Tagen litt, und daß mir Nichts mehr Muth und Hoffnung machen konnte, als Ihr Antheil. Werden Sie glauben, daß ich mitten in aller Angst um diesen geliebten Menschen noch Zeit gefunden habe, Sie schmerzlich zu entbehren? Wenn Sie nun ganz kaltherzig ferngeblieben wären, wie hätt' ich mir dann erst Vorwürfe machen müssen, daß ich meinem Bruder halb abtrünnig geworden, um eine Freundin, der er völlig gleichgültig gewesen wäre!

Sie erwiederte nichts. Es schien überhaupt, als höre sie nur halb auf seine Worte und hänge einem 182 Gedanken nach, der mit ihm und seiner Gegenwart gar nichts gemein habe.

Sie sind glücklich, sagte sie nach einiger Zeit. Sie haben Jemand, der Sie traurig und wieder froh machen kann. Ich – aber wissen Sie schon, wen ich inzwischen wiedergesehen habe? Den Grafen.

Edwin fuhr in die Höhe. Er wurde plötzlich blaß. Nach einer langen Pause sagte er mit mühsam gleichgültigem Ton: Den Grafen? trotz der unzweideutigen Erklärung, die Sie ihm durch die Aenderung der Wohnung –

O Der! Wenn Sie ihn kennten! Ein so närrischer Mensch ist nicht leicht abzuschrecken. Und ich bin ihm wenigstens dafür zu Dank verpflichtet, daß er mich amusirt hat, während Sie mir alle Zeit ließen, melancholisch zu werden.

Er hätte –? Sie haben ihn hier empfangen –? ihm erlaubt, Sie mehr als einmal zu besuchen?

Warum sollte ich nicht? Wenn Sie ihn sähen, würden Sie begreifen, daß Nichts ungefährlicher sein kann, als dieser Anbeter. Sie wissen ja, wie feuerfest ich überhaupt bin. Aber mit solch einem Verliebten könnte ich hundert Jahre zusammen sein, und mein Herz würde nicht Einmal rascher schlagen. Zuerst freilich, als er, Gott weiß wie, mich ausgekundschaftet hatte und unangemeldet bei mir eintrat, war ich höchst aufgebracht über diese Zudringlichkeit und empfing ihn so schlecht, daß er wie ein armer Sünder dort an der Thüre stehen blieb und nicht eine Silbe zu seiner Entschuldigung 183 vorbringen konnte. Ich sagte ihm Dinge, die kein Anderer ruhig eingesteckt hätte. Aber er – zuerst ganz wie vernichtet, und plötzlich lag er mir zu Füßen und sagte nichts, als daß er ein verlorener Mensch sei, wenn ich ihn nicht begnadigte. Alles hätte er inzwischen gethan, um mir zu beweisen, wie ernst er es meine. Seiner Mutter, einer sehr stolzen Dame, habe er die Einwilligung abgerungen, mich als ihre Schwiegertochter zu empfangen. Mit seinen hochmüthigen Verwandten habe es einen bösen Tanz gegeben; nun endlich halte er so weit, daß jedes Hinderniß aus dem Wege geräumt sei, und nun stieße ich ihn fort und wollte ihm ein für alle Mal jede Hoffnung abschneiden! Und dann, immer noch mir zu Füßen, ein wahrer Wolkenbruch von Schwüren und Betheuerungen, daß ich wirklich nicht wußte, ob ich mehr lachen oder ihn bemitleiden sollte.

Toinette! Und Sie haben ihm Hoffnung gemacht –

Ich? Sie kennen mich schlecht. Als er gar kein Ende finden konnte, verging mir Lachen und Mitleiden, und ich erklärte ihm nur ganz trocken und sehr bestimmt, ich hätte nicht die geringste Lust, seine Frau zu werden. Wenn ihn das unglücklich mache, so thue es mir leid; aber ich fühlte gar keine Verpflichtung, den ersten besten überspannten Menschen auf Kosten meines ganzen Lebens glücklich zu machen. Und dies sei mein erstes und letztes Wort.

Und er hat dennoch die Stirn gehabt, Sie ferner zu belästigen? Und Sie waren nachgiebig genug –

Leider, mein Freund, bin ich viel gutherziger, als 184 Sie glauben. Als er das erste Mal nach dieser, wie ich dachte, gründlichen Abfertigung wiederkam – Sie selbst hätten gelacht über die bußfertige und zerknirschte Miene, mit der er hinter dem kleinen Jean sich ins Zimmer schlich. Ich habe ihn auch nur unter der Bedingung begnadigt, daß von Anbetung, Liebe und Heirath nie zwischen uns die Rede sein dürfe. Im Uebrigen – warum sollte ich als ci-devant-Herzogin mir nicht das billige Vergnügen gönnen, einen Grafen zu meinem Hofnarren zu haben? Ich war so allein, so wenig guter Laune. Und wie gesagt, Sie können sich nichts Drolligeres vorstellen, als sein Gesicht und Betragen. Er hat eigentlich gar kein Gesicht; wenn er nicht da ist, weiß man sich nicht zu erinnern, wie er eigentlich aussieht; es ist so eine Physiognomie wie auf Herrenmodekupfern, die Nase in die Länge, der Mund in die Quere und ein Bärtchen, wie Gott sie auf tausend Junkergesichtern wachsen läßt. Aber nun denken Sie sich dies Dutzendgesicht durch eine beständige Kummerfalte verschönert, oder vielmehr durch den Versuch, sterbensunglücklich auszusehen, und Sie müssen begreifen, daß es keinen spaßhafteren Contrast geben kann. Ich mißhandle ihn, so gut ich kann, ich sage ihm die impertinentesten Sachen, nicht einmal die Spitze meines Pantoffels lass' ich ihn küssen, und nie bring' ich ihn aus seiner andächtigen Ergebenheit und Vergötterung. Ich müßte nicht die Tochter eines armen Balletmeisters und ein eitles, müßiges und ziemlich desperates Ding sein, wenn solch ein gräflicher Sklave mich nicht belustigte. 185

Und wie lange denken Sie dies ergötzliche Spiel so fortzutreiben? fragte Edwin in etwas gereiztem Tone.

Statt der Antwort zog sie den Tischkasten auf und nahm einige große Photographieen heraus. Das sind Ansichten von seinem Schlosse, sagte sie. Hier, wie man es über den großen Wäldern auf der Anhöhe liegen sieht; hier der Schloßhof, wo gerade die gräfliche Equipage wartet und daneben das Reitpferd für den jungen Grafen – ich nenne ihn jung, obwohl man nie daran denkt, ob er eigentlich jung oder alt ist; ein Mensch, der Nichts so recht erlebt, wird der überhaupt älter? – Und hier drei Blätter aus dem Innern: der Speisesaal, das Blumenhaus, das Boudoir für die junge Gräfin. Daß er Geschmack hat, oder wenigstens sein Tapezier, ist nicht zu leugnen. Aber der Herr des Hauses ist eine böse Zugabe zu all der Herrlichkeit. Ich habe ihm das ins Gesicht gesagt. Er hat nur mit einem Seufzer geantwortet.

Und wie lange soll das so fortgehen? wiederholte Edwin seine Frage.

Sie warf die Blätter wieder in den Kasten und stand vom Sopha auf. Sie sind ein mißgünstiger Freund, sagte sie, daß Sie mir dieses unschuldige Vergnügen am Abend meines Lebens verleiden möchten. Haben Sie nicht in meine Cassette geblickt? Bis der letzte Thaler ausgegeben ist, will ich meinen Tag noch nicht vertrauern.

Und dann?

Dann? Ich denke, wir sind darüber einverstanden, 186 daß man in der Welt überflüssig ist, wenn man weder sich noch Andern mehr nützen oder Freude machen kann.

Und so weit wären Sie schon?

Ungefähr so weit. Das heißt, meinen Grafen würde ich, wie er sagt, nicht nur glücklich, sondern eigentlich erst lebendig machen, wenn ich ihm mein Leben überlieferte. Aber ich bitte Sie, was für ein Leben wäre das für uns Beide! Da ist ein rascher, reinlicher, unzweideutiger Selbstmord immer noch vorzuziehen. Und sonst – für wen könnte und sollte ich leben? Sie zwar, Sie sind, wie ich glaube, mir wirklich ein redlicher und aufrichtiger Freund; aber haben Sie sich nicht in diesen letzten Wochen auch ohne mich ganz gut behelfen können? Und möchten Sie das bischen Freude, das Ihnen mein Dasein macht, ferner genießen, wenn Sie sähen, daß ich selbst die elendesten Tage hinschleppte, unter einem Druck von Entbehrungen und kleinlichen Sorgen, die mein ganzes Wesen zerstören und endlich doch auch zu Grunde richten würden?

Sie hatte die letzten Worte in wachsender Erregung hingeworfen und ging dabei unruhig im Zimmer hin und her. Es war dunkel geworden. Der kleine Jean klopfte an und fragte, ob das gnädige Fräulein die Lampe befehle? – Nein! erwiederte sie kurz. – Der Knabe zog sich geräuschlos wieder zurück.

Toinette, sagte Edwin, wollen Sie mich fünf Minuten anhören, ohne mich zu unterbrechen?

Reden Sie. Es ist mir lieber, zu hören, als selbst zu sprechen. Meine Gedanken, wenn sie laut werden, 187 haben jetzt einen so eignen Klang, daß es mir eiskalt dabei über den Rücken läuft. Reden Sie, reden Sie!

Sie sind an einen Punkt gekommen, wo Sie weder stehen bleiben, noch weiter gehen können, in der Richtung, meine ich, die Sie einmal eingeschlagen haben. Es bleibt scheinbar nur ein Drittes: hinabzustürzen. Aber das dürfte nur die Verzweiflung, und Sie haben noch kein Recht, zu verzweifeln. Könnten Sie nicht erst noch versuchen, umzukehren, eine andere Richtung einzuschlagen und zu sehen, wie weit Sie da kämen? Sie halten mich für Ihren redlichen Freund. Ich glaube es zu sein, auch wenn ich bei all meiner Redlichkeit nicht bloß an Ihr Schicksal denke, sondern auch ein wenig an das meine, wenn ich mir herausnehme, noch etwas mehr zu sein, als Ihr Freund. Erschrecken Sie nicht. Ich weiß, daß ich eine Sprache sprechen würde, die Sie nicht verstünden, wenn ich Ihnen von der tiefen, unbezwinglichen und immer wachsenden Leidenschaft reden wollte, die seit unserm ersten Begegnen mich ganz und gar beherrscht hat. Ich hoffe, Sie können mir das Zeugniß geben, daß ich Ihnen bis heute nicht damit lästig geworden bin; ich beneide den Grafen nicht um die Rolle, die er bei Ihnen spielt. Aber eben so thöricht wäre es, etwas todtschweigen zu wollen, was nun einmal da ist und sein Recht, dazusein, in einer so ernsthaften Stunde behaupten will. Ich weiß von Ihrem Leben genug, um mich damit trösten zu können, daß Ihnen kein Mensch näher steht, als ich. Ist denn aber auch die Hoffnung so ganz aberwitzig, daß ich Ihnen mit der Zeit noch näher kommen könnte? 188 Daß Sie es der Mühe werth finden könnten, fortzuleben, wenn Sie Ihr Leben mit mir theilten, mir angehörten und Ihr Glück in meinem Glücke fänden? Liebe Toinette, ich will mich nicht rühmen: aber daß man sich auf mich verlassen kann, haben mir noch alle Menschen bezeugt, die ich je geliebt habe. Im Uebrigen kennen Sie mich; ich habe mich von Anfang an Ihnen gegenüber völlig gehen lassen, niemals, auch im Geistigen und Sittlichen nicht, Toilette gemacht, wenn ich zu Ihnen ging. Ich bin kein glänzender Mensch, kein bestechender Freier. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie, trotz Ihres dämonischen Hanges zum Glanz, dennoch eine unbestechliche, einfache und echte Seele haben, würde ich der Narr nicht sein, mich Ihnen anzubieten. So aber kann ich es wagen; Alles, was ich besitze, gehört seit der ersten Stunde Ihnen, und ich glaube, Sie können damit auskommen, ohne gar zu bescheidene Ansprüche machen zu müssen. Ich selbst bin erst durch diese Leidenschaft zu der Erkenntniß gekommen, welchen Schatz von Liebeskraft ich besitze, genug für das ungenügsamste Herz. Und so brauche ich nicht wie ein Bettler zu Ihnen zu sprechen. Was Sie mir geben, kann ich reich aufwiegen, selbst wenn ein Wunder geschähe und Ihr Herz endlich gegen mich aufwachte und zu Allem, was die Natur an Sie verschwendet, auch noch das Beste hinzukäme: die Kraft, zu lieben!

Es hat Sie nun doch wohl überrascht, fuhr er nach einer Pause fort, da sie ganz regungslos auf einem entfernten Stuhl nahe an der Thüre saß und im Dunkeln 189 vor sich niederstarrte. Ich selbst bin davon überrascht worden, obwohl ich seit Monaten mir gesagt habe: eine solche Stunde wird einmal kommen. – Auch hätte ich trotz Ihrer eigenen Lage und der gräflichen Posse, die mir durchaus nicht so zum Lachen scheint, schwerlich Ihnen heute schon das Letzte gesagt, sondern nach wie vor meine Pflicht als bloßer Freund gethan. Aber es hat sich gerade heute Etwas ereignet, das mir die Zunge gelös't hat. Eine Professur ist mir angeboten worden. Nicht nur, daß ich fort soll, Sie also hier zurücklassen müßte – auch die Sicherung meiner Zukunft ist dabei im Spiel. Sie wissen, ich habe keine herzoglichen Bedürfnisse. Sie haben unsere Tonne kennen gelernt und begreifen, daß, wer die Hühnerstiege so lange ohne Murren hinaufgeklettert ist, es nicht gerade für ein Lebensbedürfniß hält, durch meilenlange Waldungen im eigenen Wagen nach einem Stammschloß zu fahren. Aber ich hätte Ihnen dennoch nie zugemuthet, Ihren Himmel auf Erden mittelst einer so wackeligen Jacobsleiter zu erklimmen. Jetzt stehen die Dinge anders und, wenn auch noch immer bürgerlich, doch im Ganzen recht erträglich. Und auch mein Bruder, der natürlich der Dritte im Bunde sein würde –

In diesem Augenblick trat der kleine Jean herein und meldete den Grafen.

Toinette schien es überhört zu haben.

Erst als der Kleine die Meldung wiederholte, sagte sie:

Ich kann ihn nicht sehen. Sage, mir sei nicht wohl! 190

Der Knabe ging wieder, und sie hörten draußen im Flur eine lebhafte Stimme allerhand mit ihm verhandeln, dann die Thüre gehen und bald darauf einen Wagen vom Hause fortrollen.

Es war wieder ganz still oben im Zimmer. Noch immer saß Toinette auf dem Stuhl an der Wand und Edwin im Sopha. Jetzt stand er auf, blieb aber am Tische stehen und schien nach einem Wort zu suchen, das ihr das Herz und die Zunge lösen möchte.

Ich weiß, warum Sie schweigen, Toinette, sagte er endlich. Sie sind zu ehrlich, um sich und mir Hoffnungen zu machen, an die Sie nicht glauben. Ich war Ihnen lieb bisher, weil ich gar keine Ansprüche zu machen schien. Nun habe ich gestanden, daß ich Alles oder Nichts will, und plötzlich bin ich Ihnen wieder ganz fremd geworden, ein unbequemer Mahner, vor dem Sie sich verwahren müssen. O Toinette, ich fühle, was ich aufs Spiel gesetzt und vielleicht verloren habe. Aber es mußte sein; Ihnen war ich es schuldig – und mir selbst; denn das Leben, wie ich es bisher neben Ihnen geführt, hätte mich auf die Länge verzehrt und zerstört, und Ihnen wäre mit diesem Opfer nicht einmal ein Gefallen geschehen. Dazu sind Sie nicht eitel und selbstisch genug. Warum sind Sie es nicht, Toinette? Warum sind Sie dieses wunderbare Räthselwesen, dem seine Unfähigkeit sich hinzugeben zur Qual wird? Wären Sie eine Kokette, der ihre Triumphe und die Menschenopfer, die ihr gebracht werden, Ersatz gäben für alles tiefere Glück, das nur aus einem tiefen Herzen kommen 191 kann – fast wäre ich Ihnen dankbar; es würde mir leichter, zu gehen, mit mir und mit Ihnen fertig zu werden. So aber – schicken Sie mich fort, sagen Sie mir Nichts mehr, ich weiß ja doch, was Ihr Schweigen bedeutet – und daß keins meiner Worte Etwas in Ihnen wecken kann, was die Natur Ihnen versagt hat!

Er machte eine Bewegung, als ob er gehen wollte, aber die Füße versagten ihm den Dienst; nur die paar Schritte nach dem Fenster konnte er thun und stand dort wieder still, den Knopf am Fenstergriff mit beiden Händen umklammernd, die Stirn gegen die Scheibe gedrückt. Da hörte er, wie sie mit einer leisen, fast schüchternen Stimme zu reden anfing:

Sind Sie mir böse, lieber Freund, daß ich so stockstill und stumm mir das Alles habe sagen lassen, all Ihre herzlich guten Worte – die ich nicht verdiene – für die ich nicht einmal so recht, wie ich sollte, danken kann? Denn Sie glauben nicht, wie mich das traurig macht, daß Sie so gut zu mir sind, und ich – ich bleibe, wie ich bin! O Sie haben Recht, mir selbst wird es zur Qual, daß ich nicht anders sein kann. Es ist wie ein Bann über mir. Ich habe von einer Scheintodten gelesen, die im Sarge lag und sah und hörte, wie Alles um sie her sich in Trauer und Liebe erschöpfte, und sie konnte mit aller Gewalt sich nicht rühren, den Weinenden die Hand zu bieten und zu sagen: ich lebe ja und habe euch lieb und will bei euch bleiben. So ist es mir mit Ihnen. Nie hat mir etwas so weh gethan, als daß Sie jetzt von mir gehen wollen, weil Sie 192 Alles oder Nichts verlangen. Und doch – ich würde glauben, eine Schuld gegen Sie zu begehen, wenn ich Sie zurückhielte. Jedem Andern könnte ich zumuthen, mit mir vorlieb zu nehmen, mit dem, was ich geben kann, sei es wenig oder viel. Aber Sie – Ihnen gönn' ich es, daß Sie Alles haben, was Sie wünschen und brauchen; Sie sind etwas Besseres werth, als so ein unseliges Geschöpf durchs Leben zu schleppen. – Sehen Sie, lieber Freund, wenn ich nicht ganz gewiß wüßte, daß Sie es bereuen würden, daß ich Sie dennoch unglücklich machen und selbst darüber zu Grunde gehen würde – glauben Sie mir, ich würde mich nicht besinnen; und wenn ich selbst dabei elend wäre, aber Sie glücklich sähe: Sie sind mir so werth geworden, daß ich mich gern ganz vergäße, um nur Ihnen zu helfen. Aber darüber wollen wir uns nicht täuschen: es ist unmöglich! Sie empfinden zu fein, um ein Glück auf Kosten eines Anderen ertragen zu können.

Dann, nach einer Pause: Und doch, Sie haben ganz Recht, es mußte einmal ausgesprochen werden. Aber es ist unsäglich traurig, daß es so kommen mußte! Ist denn nicht noch zu helfen? wenn wir uns jetzt getrennt haben –: ist gar keine Hoffnung, daß man sich im Leben, wenn ich noch ein Leben vor mir habe, einmal wieder begegnet und sich dann die Hand giebt, wie zwei alte, gute Freunde? Muß es ein für alle Mal zu Ende sein?

Er wandte sich um und sah mit einem geheimen Zittern, daß sie aufgestanden war und sich ihm leise 193 genähert hatte. Ihr Gesicht blickte ihn aus der Dämmerung so rührend traurig an, sie stand wie ein Kind, das abbitten will, mit herabhängenden Armen und gesenktem Haupt, daß ihr das Haar über die Schläfen hereinfiel. Edwin! sagte sie leise und hob die Hand ein wenig und schlug die Augen zu ihm auf. Das Herz brannte ihm vor Schmerz und Liebe. O Toinette, rief er, lebewohl, lebewohl! Kein Wort mehr – es ist Alles gesagt, der Stab ist gebrochen! – Sie breitete die Arme schmerzlich nach ihm aus, einen Augenblick hielt er sie an seiner Brust, seinen Mund auf ihr weiches Haar gepreßt, er fühlte ihren Hauch an seinem Halse, – dann riß er sich los und stürmte wie besinnungslos aus dem Zimmer. 194



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