Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Elftes Kapitel.

Rascher, als man es Anfangs hatte hoffen können, schritt Balder's Genesung voran. Schon nach vierzehn Tagen war er so weit, daß er ein paar Stunden außer Bett zubringen und, freilich mit größter Schonung, sich leicht beschäftigen, lesen und an einem ruhigen Gespräch Theil nehmen durfte. Seine Jugendkraft schien noch einmal aufzuflammen und alle seine Organe mit neuer Lebensfrische zu durchdringen. Er war nie heitrer gewesen, als in diesen Wochen, nie liebenswürdiger, als all der Liebe gegenüber, die ihn selbst die Fernerstehenden erfahren ließen. Als die Professorin, die ihn täglich mit Kraftbrühen, Compotten und dem zartesten Geflügel versorgt hatte, zur Belohnung für ihre mütterliche Pflege endlich am zehnten Tage auf fünf Minuten zu ihm hinein durfte, genügte dieser kurze Besuch, die gute Frau förmlich in ihren Pflegling verliebt zu machen. Täglich war es der erste Gang der Madame Feyertag, selbst nachzufragen, wie die Nacht gewesen, den Ofen zu heizen, da die Magd dabei zu viel Lärm machte und das Reginchen noch immer das Zimmer hütete, und die schöne große 159 Palme zu begießen, die Toinette gleich am Tage nach ihrem Besuch in die Tonne gestiftet hatte, um dem Kranken eine Augenweide zu bereiten. Sie selbst kam nicht wieder, aber der Kammerzwerg mit den wasserblauen Augen mußte jeden Mittag das neueste Bülletin abholen, das Edwin, seinem Versprechen getreu, jeden Morgen schriftlich aufsetzte. Diese Zeilen waren das Einzige, was den Verkehr zwischen ihnen unterhielt. Er hatte sich's gelobt, ehe Balder genesen wäre, ihm nicht von der Seite zu weichen, mit Ausnahme der Mittagsstunde, in der er jetzt wieder seine Vorlesung hielt. Dann aber vertrat ihn einer der Freunde. Entweder kam Mohr zum Schachspiel, oder Franzelius, der gar keine andere Beschäftigung mehr zu haben schien, setzte sich mit einem Buche zu ihm und las ihm vor, eine Kunst, in der er Meister war. Es wurde aber kein Wort mit dem Kranken gewechselt über das, was Beiden am meisten zu schaffen machte. Die Namen Christiane und Reginchen kamen nicht über ihre Lippen, und auch der kleine Maler, der sich öfters blicken ließ, war mit Mohr darüber einverstanden, daß das Schicksal des unglücklichen Mädchens in einer Krankenstube nicht erwähnt werden dürfe.

Eines schönen sonnigen Novembertags hatte Edwin eben seinen täglichen Universitätsgang angetreten, und Franzelius schickte sich an, aus einer Uebersetzung des Sophokles vorzulesen; da legte plötzlich der Jüngling, der in einem bequemen, von der Professorin geschickten Lehnsessel nahe am Fenster ruhte, die schmale blasse Hand auf das Buch und sagte: Wir wollen heute nicht 160 lesen, Franzel. Ich möchte lieber über allerlei mit dir plaudern. Mir ist gerade so wohl, das Sprechen macht mir nicht die geringste Mühe. Und wie schön die Sonne an dem hellen Himmel steht! Schon das zu sehen, ist eine so unvergleichliche Freude, daß man gern alle Uebel dieses Lebens dafür erträgt. Oder meinst du nicht?

Ich kann sie nicht ansehen, ohne zu denken, daß sie kaltsinnig über Gerechte und Ungerechte scheint und mehr Elend als Glück sieht, erwiederte der Buchdrucker und blinzelte mit einem fast herausfordernden Auge gen Himmel. Ich wollte, sie löschte ein für alle Mal aus und mit ihr diese ganze bunte Lüge, die wir das Leben nennen.

Nein, Franzel, sagte Balder ruhig, du thust ihr Unrecht. Wenn sie auch wüßte, was sie damit thut, daß sie das Leben anfacht und unterhält, sie brauchte sich dessen wahrhaftig nicht zu schämen. Warum nennst du das Leben eine Lüge, Franzel? Weil es zu Ende geht? Aber hat es nicht auch einmal angefangen, und wodurch hätte es sich verpflichtet, ewig zu dauern? Im Gegentheil, Liebster, es ist sehr redlich; es verspricht so wenig, wenn es anfängt, und hält so viel. Willst du es ihm übel nehmen, daß es nicht gewähren kann, was wir Träumer oder Unzufriedene und Ungerechte von ihm fordern?

Ich lebe nicht gern, murrte der Andere finster und bedeckte seine Augen mit der breiten Hand. Ist man mit einer Noth fertig, bricht die andere aus, und wer vollends ans Allgemeine denkt, kommt nie zur Ruhe. 161

Und wäre es überhaupt noch ein Leben, wenn man zur Ruhe käme? Ist schlafen leben? Oder in den dumpfen Lebenstraum versinken, den der Käfer träumt, wenn er den Halm hinauf dem Thautropfen nachklettert und endlich ihn erreicht und trinkt? Liebster, wenn du die Noth aus der Welt schafftest, wie unnöthig wäre es, dann noch zu leben!

Du machst Wortspiele.

Nein, ich meine es wörtlich so, in vollem Ernst. Ich las neulich eine Stelle im Voltaire, die so wahr ist, wie Vieles, was er sagt, nämlich vom großen Haufen für den großen Haufen:

Die Schmerzen der Vergangenheit,
Der Zukunft drohend Weh und Leid –
Wer trüge solches Lebens Bürden?
Gott sorgte für der Menschen Wohl:
Er schuf sie eitel und frivol,
Auf daß sie minder elend würden.

Stoße dich nicht an die schlechte Uebersetzung; ich habe sie nur so aus dem Stegreif gemacht, weil du das Französische nicht leiden kannst. Der Sinn ist treu wiedergegeben, und es ist so ein Sinn, der trefflich für die Sinnlosen paßt. Siehst du, ich kenne nur Eine Art, unglücklich zu sein, nämlich gerade wenn Einer eitel und frivol geschaffen ist. Und insofern ist jene Strophe weise, daß Diejenigen, die die schmerzlichen Erinnerungen an die Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft nicht ertragen würden, der Natur dafür zu danken haben, daß sie – sie gedankenlos und besinnungslos ihre arme Gegenwart nach ihrer Art genießen läßt. So werden sie zwar nicht 162 glücklich, aber »minder elend«. Denn was es eigentlich mit der wahren Lebenswonne auf sich hat, erfahren sie doch nie. Das kann nur Der wissen, der still und andächtig genug ist, oder, wenn du willst, der das Talent dazu hat, Vergangenheit und Zukunft in Eins zu empfinden. Du wirst es vielleicht, obwohl auch du das gerade Gegentheil von »eitel und frivol« bist, nicht ganz verstehen, wie ich's schon ziemlich lange getrieben habe. So oft ich wollte, das heißt, so oft ich mir ein rechtes Lebensfest machen und mein bischen Dasein aus dem Grunde genießen wollte, habe ich so zu sagen alle Lebensalter zugleich in mir erweckt, meine lachende spielende Kindheit, wo ich noch ganz gesund war, dann das erste Aufglänzen des Denkens und der Gefühle, die ersten Jünglingsschmerzen, die Ahnung, was es um ein volles, gesundes Mannesleben sein müßte, und zugleich auch die Entsagung, die sonst nur ganz alten Menschen leicht zu werden pflegt. Glaubst du nicht, daß Einer, der in jedem Moment, wenn er nur will, eine solche Fülle des Daseinsgefühls in sich erzeugen kann, dem Alles dabei mithelfen muß, Kummer und Freude, Verlust und Gewinn, weil Alles ihm sein eignes Wesen von einer neuen Seite zeigt, – glaubst du nicht, Bester, daß ein solcher Glücklicher es für ein leeres Wort halten muß, wenn selbst Philosophen sagen: nicht geboren zu sein, wäre besser? Freilich, daß Zeiten kommen, in denen der Schmerz die reine Empfindung des Daseins geradezu erstickt und ein übermächtiges Verlangen nach bloßer Bewußtlosigkeit in uns aufregt, wer kann das leugnen? Aber oft ist selbst 163 der höchste Schmerz nur eine Steigerung unserer Existenz; sonst wäre die triumphirende Wonne nicht zu verstehen, die Märtyrer in Feuer und Folterqualen empfunden haben. Sie fühlten, daß ihre Qual das Dasein und die Kraft ihrer eigenen Seele, die von einem Wahn oder einer Wahrheit durchdrungen war, nur bestätigte, indem sie sie aufzuheben und zu vernichten strebte. Das Aergste, was ihnen angethan wurde, mußte ihnen zum höchsten Genuß ihrer Persönlichkeit dienen. Und so ist auch alle Tragik im Leben, die eine seichte Philosophie mit zum Elend der Welt rechnet, bloß eine andere, höhere und nur vornehmen Seelen eigene Art, das Leben zu genießen. Wenn der Tod dann eintritt, ist er nur wie ein Schlaf nach einem Festtage, wo man sich im Taumel so lange herumgeschwungen hat, bis man satt ist und keine Kräfte mehr zu neuen Freuden hat.

Er schwieg einen Augenblick und sah heiter sinnend vor sich hin. Plötzlich sagte er:

Wenn das Fest für mich aus ist, Franzel, mußt du recht mit Edwin zusammenhalten.

Was sprichst du da für Zeug! fuhr der Andere auf. Du bist nie auf einem besseren Wege gewesen, als jetzt; es war eine Krisis, Marquard hat es mir selbst gesagt.

Ja wohl, eine Krisis, lächelte der Kranke. Es entscheidet sich was, es hat sich schon entschieden. Das Leben hat dies nicht sehr dauerhafte Gebilde kritisirt und mit rother Dinte die Fehler an den Rand geschrieben. Meinst du wirklich, Marquard wüßte nicht so gut wie 164 ich, daß das Stück ausgespielt hat? Noch Eine Gemüthsbewegung, noch Eine Unvorsichtigkeit –

Balder! Was sagst du? Nein, das sind so Grillen, vielleicht eine vorübergehende Schwäche –

Daß ich so ruhig vom Ende reden kann? Das solltest du längst als meine Stärke kennen. Ich weiß, wie Wenige gern vom Tisch aufstehen, wenn es eben am besten schmeckt. Und wahrhaftig, Franzel, das Leben schien mir nie so schön wie jetzt. Wie viele gute Freundschaft, wie viel schöne Dichtung, wie viel hohe und tiefe Gedanken habe ich in diesen letzten Wochen genossen! Aber das hilft Alles nichts, man muß leben und leben lassen, es wollen noch viele Andere an die Reihe kommen. Nein, Franzel, wenn du traurig wirst, muß ich eine andere Zeit abwarten, um dir noch meine letzte Bitte vorzutragen; ich weiß freilich nicht, wie lange ich überhaupt noch warten kann. Komm, sei vernünftig. Siehst du, ich habe dich sehr lieb, nächst Edwin immer am liebsten gehabt. Von meinem Bruder brauche ich nicht erst Abschied zu nehmen. Mein ganzes Leben die letzten Jahre war nur Ein langer Abschied. Wir wußten, wir würden uns nicht behalten, ich wenigstens wußte es sehr bestimmt, darum genossen wir alles Frohe unseres Besitzes um so eifriger, gleichsam auf Abschlag. Aber wenn es denn doch Ernst wird: ich weiß, wie es dann geht, er wird sich erst nicht darein finden können. Darum wollte ich dich bitten, daß du ihm nahe bleiben möchtest. Er bedarf viel, und nicht Viele können es ihm geben.

Mußt du das erst bitten! rief der ehrliche Freund 165 in einer Aufregung, die er vergebens zurückzudrängen suchte. Aber ums Himmelswillen, Balder, was ist das für ein Gespräch! Du – du glaubst im Ernst – und ich – und wir –

Er war aufgesprungen und lief wie ein Verzweifelter um den kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers, mit so heftigen Tritten, daß alle Blätter der Palme zitterten.

Du weißt schwerlich schon, was ich alles damit sagen will, fuhr der Kranke ruhig fort. Daß du immer sein Freund sein wirst, versteht sich. Aber du solltest ihm – wenn du mir noch eine rechte Beruhigung verschaffen wolltest – ein Opfer bringen.

Ein Opfer? als ob ich nicht – kennst du mich so schlecht?

Ich kenne dich als den uneigennützigsten Menschen unter der Sonne, sagte Balder lächelnd. Und eben das, Liebster, daß du nie an dich denkst, das solltest du um seinet- und meinetwillen ablegen, wenigstens so weit du es kannst, ohne dir untreu zu werden. Weißt du, was daraus wird, wenn du es so forttreibst? In zwei Jahren – trotz aller Freundschaft – setzest du keinen Fuß mehr in die Tonne.

Ich? Aber sage mir –

Sehr natürlich: weil du entweder auf einer Festung oder in Amerika an deine Freunde denkst. Lieber Franzel, soll ich dir sagen, warum du nicht gerne lebst? Weil du der Meinung bist, man lebe überhaupt nur, wenn man für seine Ueberzeugung zum Märtyrer werde. Ich habe dich immer darum lieb gehabt, aber ich glaube 166 dennoch, du bist im Irrthum. Versuche es nur einmal und sage dir, daß so Vielen mehr mit deinem Leben gedient ist, als mit deinem Märtyrerthum, und du wirst sehen, daß man seinen Posten sehr tapfer und aufopfernd behaupten kann, ohne mit Allarmschüssen den Feind tollkühn herbeizulocken. Es würde mich unsäglich beruhigen, wenn du nur zwei Jahre lang alle »Agitation« unterlassen und erst sehen wolltest, wie die Zustände wirklich sind. Denn es giebt Strömungen, in denen es unnütze Kraftvergeudung ist, noch zu rudern, da der Kahn von selbst vorwärts schwimmt. Ich weiß, was es dich kostet. Aber es wäre schön, wenn du mir diesen letzten Wunsch –

Sprich nicht weiter! rief der Andere und blieb plötzlich vor dem Freunde stehen, die überfließenden Augen ihm zugewendet. – Balder – ist es möglich – du – wir sollen dich nicht mehr sehen? Und du glaubst, ich würde, wenn das geschähe, mein Leben fortsetzen, als wäre nichts geschehen? Wenn du nicht mehr die Sonne siehst – glaubst du, ich könnte – ich würde –

Das Wort versagte ihm, er wandte sich wieder ab und blieb unbeweglich an der Drehbank stehen.

Ich meine auch nicht, daß du so weiter leben sollst, wie bisher, sagte Balder mit leiserer Stimme. Du brauchst einen Ersatz für Das, was du aufgiebst. Du sollst eben lernen, gerne zu leben, und ich denke, ich weiß auch, wie du es am raschesten lernen würdest: du solltest eine Frau nehmen, Franzel!

Ich! wo denkst du hin? Wie kommst du auf dergleichen – gerade jetzt – 167

Weil es bald zu spät sein wird, mir einen Kuppelpelz an dir zu verdienen, sagte der Jüngling und lächelte vor sich hin. Zwar brauchen werde ich ihn kaum. Wo ich liege, wird mich nicht frieren. Aber dich möchte ich gern warm aufgehoben wissen. Und ich weiß es aus Erfahrung – ich bin ja mit Edwin »verheirathet« gewesen – aus vier Augen sieht sich die Welt viel heiterer an, als aus zweien.

Siehst du, fuhr er fort, da der Freund immer noch unbeweglich stand und eine kleine Feile in die Schnitzbank bohrte, – auch Edwin wird eine Frau finden, die ihn glücklich macht; dann bliebe dir nur wieder die Menschheit, sie an dein Herz zu drücken, und so schön und erhaben das ist, es ist doch nicht Alles, was du brauchst – und darum überreizest du dich, und die Märtyrergedanken wachsen dir wieder über den Kopf. So eine kleine Frau, denk' ich mir, die dich lieb hätte und zu würdigen wüßte – schon durch ihr bloßes Dasein würde sie dir jeden Tag predigen, was Edwin dir so oft umsonst vorgestellt hat: daß du dich für die Zukunft erhalten und nicht ohne Noth und vor der Zeit aufopfern solltest. Daß du deinen Ueberzeugungen darum nicht abtrünnig werden würdest, aus philisterhaftem Wohlbehagen an Haus und Herd, dafür wäre mir nicht bange. Und dann – so ein Socialpolitiker, der die Familie, auf der Alles beruht, nur von Hörensagen kennt, der nicht weiß, wo einen Hausvater der Schuh drückt – wie will der zu verheiratheten Männern reden von dem, was sie sich und den Ihrigen schuldig sind? 168

Ein lieblich listiger Zug spielte bei diesen Worten um die schönen Augen des Kranken. Er mochte fürchten, daß Franzelius sich nach ihm umwenden und seine geheime Absicht, ihn an der schwächsten Seite zu fassen, durchschauen würde. Darum stand er auf, hinkte zu dem Ofen hin und legte ein paar Holzstücke nach. Dabei fuhr er scheinbar ganz gleichmüthig fort:

Du mußt auch nicht glauben, daß ich das Alles so ins Blaue hineinrede. Nein, Liebster, ich habe schon eine ganz bestimmte Partie für dich im Auge, ein Mädchen, das so für dich paßt, wie wenn ich sie eigens für dich erfunden oder bestellt hätte. Jung, und sehr hübsch – und eine Seele wie Gold – und arbeitslustig – und auch lebenslustig, wie es zu Einem paßt, der nicht gern lebt – und keine Prinzessin, sondern ein Arbeiterkind – räthst du sie denn noch immer nicht? So muß ich dir wohl auf die Spur helfen: mit dem ersten Buchstaben schreibt sie sich »Reginchen«.

Balder! Du träumst! Nein, nein – ich bitte dich um Alles in der Welt – sprich mir nicht mehr davon – du hast überhaupt schon zu lange –

Allerdings, versetzte der Jüngling, indem er sich jetzt wieder aufrichtete und langsam nach seinem Bette hinkte, es könnte Nichts schaden, wenn du ein rascheres Verständniß hättest und mir auf halbem Wege entgegenkämst. Wo hast du denn deine Augen gehabt, wenn du nicht gesehen hast, daß du bei diesem lieben Mädchen schon seit lange sehr in Gnaden stehst? Ich – ich habe es doch gemerkt! Dieses kleine Mädchen, Franzel – ich sage 169 dir, sie ist ein Schatz. Ich kenne sie nun all die Jahre, ich habe sie liebgewonnen wie eine Schwester, und der Mann, dem ich sie gönnen soll, den muß ich lieben, wie einen Bruder. Darum habe ich dir altem blindem Träumer die Augen öffnen wollen, damit ich die meinigen ruhig zumachen kann. Ich weiß freilich nicht, ob du schon anderweitig dein Herz vergeben hast und mein brüderlicher Wink zu spät kommt. Jedenfalls bist du es dem Mädchen schuldig, was du thun willst, bald zu thun. Dein langes Wegbleiben scheint sie sich zu Gemüth gezogen zu haben, die Mutter sagt, sie sei immer noch nicht wohl und esse und schlafe wenig. Ich möchte meine kleine Schwester gerne wieder gesund und fröhlich sehen, ehe ich –

Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Auf dem Bette sitzend, hatte er den Kopf auf das Kissen gelegt und, wie ermüdet von dem ungewohnten Sprechen, die Augen geschlossen. Plötzlich fühlte er seine Hände ergriffen; Franzelius hatte ihn umarmen wollen, war aber neben das Bette hingestürzt und lag nun, den Kopf auf Balder's Kniee gedrückt, in einer so heftigen und fassungslosen Erschütterung, daß der Jüngling alle Mühe hatte, ihn mit guten Worten wieder zu sich selbst zu bringen.

Endlich stand er auf. Er wollte etwas reden, aber die Stimme brach ihm. Du – du bist – o Himmel, vergieb, vergieb mir – ich bin es nicht werth –! – das war Alles, was er hervorstammelte. Dann riß er sich los und stürzte aus dem Zimmer. 170

Balder war auf das Bett zurückgesunken und hatte die Augen wieder zugedrückt. Eine selige Helle verklärte sein blasses Gesicht, er ruhte wie ein Mensch nach einem großen Siege, und auch den Schmerz auf der wunden Brust fühlte er in diesem Augenblicke nicht. Es war ganz still im Zimmer, der Sonnenstrahl spielte in den Zweigen der Palme, die Maske des gefangenen Jünglings war von einem leichten Roth angehaucht, das aus dem Ofenthürchen kam, und schien zu athmen und ihrem Ebenbilde dort auf dem dürftigen Lager zuzuflüstern: Stirb nur, es schmerzt nicht! – Aber ein plötzlicher Gedanke weckte Balder aus diesem Vorgenuß ewiger Ruhe. Er stand auf und schleppte sich nach der Drehbank, wo er mit leise bebender Hand den Kasten aufschloß. Gut, daß ich daran denke! sagte er. Wenn sie das noch gefunden hätten!

Nun nahm er die Mappe heraus, in der er das Heft mit seinen Versen verwahrte. Auf wie vielen war das Bild des heimlich geliebten Kindes mit allem verschönernden Reiz einsamer Sehnsucht hingezeichnet; wie viel erträumtes Glück hatte diese einfachen Blätter vergoldet! Und doch konnte er sie jetzt ohne Bitterkeit wieder durch die Hand gleiten lassen. Was er damals gefühlt, war es ihm nicht heilig und tröstlich gewesen? Was war geschehen, das den Schmelz und Duft von diesem Frühling seines Herzens hätte abstreifen können? Er sollte keinen Sommer haben; war sein Blühen darum weniger schön gewesen? – Halblaut vor sich hin las er hie und da eine Strophe, veränderte hie und da ein 171 Wort, das ihm nicht mehr genügte, und mußte dabei lächeln, daß er Verse feilte, die nie ein Menschenauge gesehen hatte, noch sehen sollte. Vieles hatte er ganz vergessen und fand es nun selber schön und ergreifend gesagt. Als er das letzte Blatt umgewendet hatte, nahm er den Bleistift und schrieb auf einen losen Zettel, den er dann statt des ganzen Hefts in den Kasten legte, die folgenden Verse, ohne eine Silbe auszustreichen:

Gute Nacht, du schöne Welt!
Hab' ich nicht gelebt so goldne Tage?
Und nun will ich ohne Klage
Hingehn, wo mein Ruhebett bestellt.

Was die Erde Liebliches enthält,
Durft' ich schauen, durft' ich lieben.
Dieses Herz, von manchem Wunsch geschwellt,
Ist im Leiden nie allein geblieben.

Von den Augen, von dem Sinn
Fielen mir des Wahnes Schleier,
Und ich strebte frei und freier
Nach des Lebens hellen Gipfeln hin;

Wo man keine Götzen ehrt,
Wo der Menschheit ew'ge Mächte
Still von Aetherlicht verklärt
Walten ihrer Liebesrechte.

Hoch vom Berge, wo die Lüfte blauen,
Durft' ich das gelobte Land
Selig mir zu Füßen schauen,
Das den muth'gen Pilgern nur bekannt.

Das den Kindern dieser Welt
Nach so langem Irreschweifen
Einst zu Erb' und Eigen fällt,
Wenn die Weltgeschicke reifen. 172

Segen mit dem letzten Blick
Möcht' ich auf euch niederthauen,
Die ihr noch in Erdenauen,
Wenn ich scheide, suchet Lieb' und Glück.

O mein Bruder, könnt' ich dir gesellt
Bis zum Ende – doch hinweg die Thräne!
Werde dir zu Theil, was ich ersehne –
Gute Nacht, du schöne Welt! 173



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