Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Neuntes Kapitel.

Edwin war kaum wieder in seinem Zimmer, wohin ein Lakai mit gänzlich verblüffter Miene ihm vorangeleuchtet hatte, als die Aufregung von ihm wich und ein bitterlicher Unmuth, eine peinliche Verstimmung sich seiner bemächtigte. Er empfand das nagende Mißgefühl, dessen sich Keiner erwehren kann, der es nicht zu bereuen vermag, einer edlen Aufwallung nachgegeben zu haben, während er doch die Umstände verwünschen muß, die ihn dazu trieben, mit seinem noch so gerechten Grimm einen geselligen Kreis zu verstören. Er war Gast und hatte einem andern Gast des Hauses ins Gesicht geschlagen, eines Hauses, in welchem die Sitte der großen Welt herrschte, die alle Naturlaute nach Möglichkeit erstickt, den Schrei der Entrüstung zu einem boshaften Flüstern dämpft, am wenigsten aber einem unversöhnlichen Haß in Gegenwart der Damen, sondern an einsamer Stelle vor zwei männlichen Zeugen Luft zu machen pflegt. Als ein Mensch ohne Erziehung, ohne Lebensart, als ein sittenrichtender Pedant mußte er ihnen erschienen sein. Es gab freilich ein Mittel, es selbst vor 153 den frivolsten dieser Weltkinder zu rechtfertigen, daß er mit diesem Menschen Eine Luft zu athmen nicht im Stande war. Aber war das noch ein Mittel, was ihn genöthigt hätte, das Geheimniß, die Ehre seiner Freunde preiszugeben? Er mußte es nun hinnehmen, und so viel er herumdachte: wie er es anders hätte machen sollen, ohne sich in seinen eigenen Augen zu erniedrigen, konnte er nicht finden. Jeden Augenblick, das fühlte er, würde er genau wieder Dasselbe thun müssen. So empfand er durch alle Verstimmung hindurch die Genugthuung, sich treu geblieben zu sein, und fing an, ruhiger zu überlegen, was er nun beginnen sollte.

Seines Bleibens war hier nicht länger. Selbst wenn er sicher gewesen wäre, Lorinser nicht wieder zu begegnen, schien es ihm doch Pflicht gegen den Herrn des Hauses, die gewaltsame Störung, die er verursacht, möglichst rasch durch die Entfernung des Friedenstörers vergessen zu machen. Auch jeder weiteren Erörterung der Sache wollte er ausweichen. Mochten sie doch hinter seinem Rücken die Nase rümpfen und reden, was sie wollten, mochte der Feind, der zurückblieb, allen Vortheil daraus ziehen, daß er das Feld behauptete, – was war das ihm? Die Eine, auf deren Meinung allein es ihm ankam, konnte dadurch nicht an ihm irre gemacht werden; das wußte er; das hatte ihm ihr letzter Blick gesagt, mit dem sie dem Scheidenden das Geleit gegeben hatte.

Aber war er denn darum hiehergekommen, um einen Nichtswürdigen zu züchtigen, und durfte nun 154 wohlverrichteter Sache gehen? Die zurücklassen, die ihm gestanden hatte, daß sie keinen Freund habe, als ihn? die in der tiefsten Verwirrung ihres Geschickes seine Hand faßte, in verzweifelnder Angst vor sich selbst, freilich hoffnungslos, aber doch mit der Zuversicht, nun wenigstens nicht mehr völlig abgetrennt von allem menschlichen Antheil und Mitempfinden ihre Last zu tragen? – Wenn er nun plötzlich ihr wieder fehlte, würde dann nicht das letzte Band zerreißen, das sie noch mit dem Leben verknüpfte? – – Und dann wieder: wie konnte er hoffen, ihr wirklich Hülfe zu bringen? Wußte er doch kaum, wie er sich selbst helfen sollte in dem heftigen Streit der Gefühle, den ihre Nähe in ihm aufgeregt hatte.

Er setzte sich vor das vergoldete Tischchen am Sopha und vergrub den Kopf in die beiden Hände.

Ein vorsichtiges Klopfen riß ihn aus diesem unfruchtbaren Sinnen. Auf sein »Wer ist da?« trat der kleine Leibarzt herein, mit vielen Entschuldigungen, daß er noch so spät zu stören wage. Das lebhafte Interesse an dem Sohne seines alten Freundes treibe ihn her; er habe durch die Dienerschaft, die ganz allarmirt sei von dem unerhörten Auftritt, in seiner einsamen Krankenwärterzelle einen confusen Bericht erhalten und denke, es werde ihm nicht als indiscrete Neugier ausgelegt werden, wenn er sich gleich an die rechte Quelle wende. Nun erzählte er unaufgefordert, daß, nachdem Edwin den Saal verlassen, der Vicar eine umständliche Beichte abgelegt und dadurch seine erschütterte Stellung vollkommen wieder befestigt habe. Ein altes Verhältniß mit einem 155 Mädchen, für das auch Edwin sich lebhaft interessirt, das aber ihm den Vorzug gegeben habe, sei der Grund dieses tödtlichen Hasses. Die Leidenschaft habe das arme Geschöpf, das zu heirathen er trotz des herzlichsten Interesses sich nicht habe entschließen können, um seinen höheren Zwecken nicht untreu zu werden, zu einem Selbstmordsversuch gebracht. Zum Glück sei sie noch gerettet, ihm aber die ganze Schuld der unseligen That aufgebürdet worden – kurz, ein förmlicher Roman, und er scheine ihn gut genug erzählt zu haben. Wenigstens habe die schöne Fürstin Thränen in den Augen gehabt, und Graf Gaston dem Erzähler am Schlusse die Hand geschüttelt. In den Augen dieser Weltmänner gereiche es dem Herrn im schwarzen Rock natürlich sogar zur Empfehlung, daß er trotz seiner theologischen Weisheit ebenfalls seine bonnes fortunes und noch dazu ein so romantisches Abenteuer hinter sich habe.

Edwin lachte grimmig auf.

Werthester Freund, fuhr der kleine Mann fort, mit einem schlauen Gesicht, das sich vergebens bemühte, treuherzigen Antheil auszudrücken, ich begreife Ihre Stimmung, Alle begreifen sie, selbst der Vicar, der, wie er wiederholt betheuert hat, trotz Ihres heftigen Betragens keinen Groll gegen Sie hegt.

Wirklich? Der Biedermann verzeiht mir? Nun, das ist lustig!

Er hat Sie auf das Wärmste gelobt und Ihr auffallendes Betragen in Schutz genommen. Wenn er damals gewußt hätte, daß Sie selbst zu der Unglücklichen, 156 die Ihre Hausgenossin gewesen, eine unerwiederte Liebe im Herzen getragen hätten. –

Mein trefflicher Gönner, unterbrach ihn Edwin, indem er aufstand, ich bin Ihnen für Ihre freundschaftlichen Mittheilungen sehr dankbar, in der That, ganz ungemein dankbar. Aber da meine Stimmung, obwohl Sie sie zu begreifen versichern, doch noch an einigen Unbegreiflichkeiten leidet und ich meine Ursachen habe, nicht ganz mit der Offenheit und Ehrlichkeit, die Ihre Devise ist, mich über den Roman des Herrn Vicars zu äußern, so wäre es recht freundschaftlich, wenn Sie mich mir selbst überließen und zu Ihrem Patienten zurückkehrten. Sollten Sie aber Gelegenheit dazu finden, so versichern Sie doch allen Denen, die das Talent des Erzählers bewundert haben, daß nicht nur sein Stil, sondern auch seine Erfindungsgabe ihres Gleichen sucht, mit Einem Wort: daß es nie einen schamloseren Lügner gegeben hat, als diesen Fuchs im Schafspelz der Demuth. Und damit wünsche ich Ihnen wohlzuschlafen und denke dasselbe zu thun.

Er hatte den bestürzten kleinen Mann während dieser Reden bis an die Thür begleitet, öffnete sie mit zitternder Hand und ließ sie nicht eben sanft hinter ihm ins Schloß fallen. Seine ganze Natur war in Aufruhr, das Blut tobte ihm gegen die Schläfen, noch einen Augenblick, und es wäre ihm unmöglich gewesen, seine Empörung niederzukämpfen. Er hätte die ganze Bitterkeit, von der sein Herz voll war, gegen den armseligen 157 Schleicher ausgeströmt, dessen freundschaftlich grinsendes Gesicht ihn vollends außer sich brachte.

Sobald er allein war, erleichterte sich sein gepreßtes Herz in einem lauten Hohnlachen. Dann ging er nach dem Toilettentisch neben dem seidenen Himmelbett und stürzte ein Glas Wasser hinunter. Nach und nach beruhigte sich sein Blut. Er trat an das hohe Bogenfenster, öffnete beide Flügel und ließ die reine Nachtluft über seine heiße Stirn wehen. Bin ich nicht ein Thor, sagte er, mich so aufregen zu lassen von Etwas, das bei Licht besehen nur natürlich ist, nur zu erwarten war? Kann es mich verdrießen oder beschämen, gegen einen solchen Meister der Lüge den Kürzern zu ziehen? Und sollt' ich dem Armseligen, der nichts Besseres hat, diesen Sieg nicht gönnen und die kostbaren Trophäen: fürstliche Thränen und einen gräflichen Händedruck? Pfui, daß ich mich so vom Ekel übermannen ließ! Ich bin diesem edlen Zwischenträger in der That Dank schuldig, daß er mir die Augen darüber geöffnet hat, wie die Dinge stehen. Aber fort – fort – fort von hier, noch ehe der Mond da oben wieder hinter dem Waldrand verschwunden ist! –

Er trat an das Tischchen zurück, öffnete seine Mappe und fing an, ein Billet an den Grafen zu schreiben. – Nach der Störung des Hausfriedens, schrieb er, zu der er leider die Veranlassung gewesen, glaube er es dem Wirth wie den übrigen Gästen schuldig zu sein, auf das ihm freundlich gewährte Gastrecht zu verzichten. Er bedaure, daß ihn ernste Rücksichten auf dritte Personen 158 verhinderten, die Aufklärungen zu geben, die sein Benehmen, wenn es auch gesellschaftlich anstößig erschienen, doch in jeder andern Beziehung vollkommen rechtfertigen würden. Was den Anlaß betreffe, der ihn zunächst hiehergeführt, so habe er sich hinlänglich überzeugt, daß auch ihm die Macht nicht verliehen sei, Geschehenes ungeschehen zu machen und Unversöhnliches auszugleichen. Vielleicht, schloß er, wird auch hier die Zeit, die so manches Wunder gewirkt, das herbeiführen, was der Graf im Augenblick noch entschieden von sich weise, und den Gedanken einer Trennung des Unvereinbaren als das einzige Heilmittel erscheinen lassen.

Er hatte das Blatt eben gesiegelt und die Aufschrift gemacht, als ein neues Klopfen an seiner Thür erklang. Unmuthig rief er: »Herein!« – es fuhr ihm durch den Sinn, der Graf selbst möchte ihn aufsuchen – er hätte ungern den Brief umsonst geschrieben, der ihn mündlicher Erklärungen überhob – da öffnete sich die Thür, und Toinette trat herein.

Sie sind es? rief er und stürzte ihr entgegen. Sie kommen zu mir?

Sie schlug das dunkle Tuch zurück, das sie um den Kopf geschlungen hatte. Er sah, daß sie ein einfaches Kleid trug und allen Schmuck abgelegt hatte.

Ich muß wohl zu Ihnen kommen, sagte sie mit ihrem gewöhnlichen Ton. – Ich habe mit Ihnen zu sprechen, und Sie – Sie wollen fort – ich weiß es, auch ohne den Brief da auf Ihrem Tisch. Sie wären gegangen ohne mir Adieu zu sagen. Wären Sie nicht? 159

Es wäre vielleicht das Beste gewesen, erwiederte er, indem er ihre Hand ergriff, die ganz kalt an ihrem Kleide herabhing. Sagen Sie selbst, meine theure Freundin, haben wir noch etwas zu hoffen von Worten, die wir austauschen könnten? Das Schicksal kehrt sich nicht an Worte. Und doch – ich hätte es nicht übers Herz gebracht. Ich hatte vor, nach dem Bauernhof jenseit des Waldes zu gehen, von dort Ihnen eine Zeile zu schicken: ich wartete auf Sie, für den Fall, daß Sie mir noch Aufträge zu geben hätten. Nun kommen Sie mir zuvor. Wird man uns hier nicht stören?

Was liegt daran? sagte sie mit einer gleichgültigen Geberde, indem sie sich auf das Sopha setzte. – Sie meinen, ob es mich compromittirt, daß ich Ihnen einen nächtlichen Besuch mache? Vielleicht thut es das. Aber es ist kein Scheidungsgrund. Sonst hätte ich nicht darauf gewartet, bis ich einen Freund hätte besuchen können. Der Erste Beste wäre mir gut dazu gewesen, der Chevalier oder unser theurer Vetter. Wenn ich mit so Wenigem die Ketten durchfeilen könnte! – Dann, auf den Brief starrend: Was haben Sie ihm geschrieben?

Wünschen Sie es zu lesen? Es steht Ihnen frei.

Nein! Es ist auch einerlei. Sie wollen fort – damit ist Alles gesagt – und ich, ich bleibe hier! –

Er sah sie an, während sie diese Worte mit tonloser Stimme fallen ließ, als spräche sie nur mit sich selbst. Sie hatte die Augen auf die Flammen des silbernen Armleuchters geheftet, weit offen und mit einem Ausdruck von Angst, als ob das Leben in ihr zu erlöschen drohe 160 und sie suche den verglimmenden Rest an diesen Flämmchen wieder anzufachen. Ihr Gesicht war entfärbt, aber unsäglich reizend in der völligen Selbstvergessenheit, die die schöne Frau wie ein hülfloses Kind erscheinen ließ, das aus Gespensterfurcht in ein helles Zimmer flieht und ins Licht starrt, um links und rechts keine Spukgesichter zu erblicken.

Was mich eigentlich hergeführt, sagte sie nach einer Weile: ich hätte eine Frage an Sie zu richten, merken Sie wohl, an den Philosophen, nicht an den ehemaligen Freund.

Den ehemaligen?

Lassen Sie mich nur ausreden. Können Sie mir wohl sagen, ob es eine Gerechtigkeit auf Erden giebt? Oder nein, das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Das kann man ja mit Händen greifen, daß die Gaben verschieden vertheilt sind. Daß es auch im Himmel keine giebt – nicht einmal nach der Vorstellung der Frommen – das ist auch keine Frage. Was wäre sonst die Gnadenwahl? Die vielen Berufenen und die wenigen Auserwählten? Und warum hätten »die sogenannten Götter«, von denen Ihr Freund damals sprach, nicht ihre Geschöpfe alle mit einem gleichen Erbtheil bedacht, wenn Gerechtigkeit in ihrer Macht stände? Absichtliche Verkürzung, freiwillige Bosheit – nein, das wäre zu teuflisch. Aber nun sagen Sie mir: wer heißt uns dulden, das Unwürdige, das Empörende, die Zurücksetzung gegen die Kinder des Glücks, die Verstoßung in schlechte Gesellschaft – so schlechte, wie Sie sie hier unter diesem 161 Dache gefunden haben? Nothwehr, nicht wahr, die ist doch erlaubt? Selbsthülfe, wenn der elende, enterbte Mensch am Verhungern ist und man ihm die volle Schüssel dicht vorbeiträgt? Oder glauben Sie auch, daß die zehn Gebote zu brechen unter allen Umständen Sünde sei? Wie? Die Gaben, Kräfte und das Glück der Menschen wären verschieden, und für ihr Thun und Lassen sollte es nur Eine Regel geben? Der verschmachtende Bettler, der einen Apfel von einem fremden Baume pflückt, wäre so gut ein Dieb, wie ein Mensch, der zu essen hat und in eine Schatzkammer einbricht? – So antworten Sie doch! Warum wollen wir nicht ein wenig philosophiren, wie sonst? Sie fänden jetzt eine bessere Schülerin an mir, seitdem ich erst die Vorschule durchgemacht und den ganzen Aberwitz dieser großen Welt auswendig gelernt habe – ja wohl, par coeur! Das Herz thut mir weh genug von meinem Pensum.

Liebste Freundin, sagte er, wenn Sie wüßten, wie mir das Herz weh thut, weh bis zum Zerspringen, Sie verlangten keine Philosophie von mir. Ich sehe und höre Sie und habe genug zu thun, nicht in den ingrimmigsten Wehschrei auszubrechen, der jemals von einem denkenden Menschen ausgestoßen wurde. Was ich Ihnen da sagen könnte – es wären armselige Gemeinplätze. Sie fragen mich um das Räthsel des Lebens. Das Wort dafür, das Dieser und Jener gefunden zu haben glaubt, ist ein neues Räthsel, und warum es Menschen giebt, die mit Gewalt sich daran den Kopf zerbrechen müssen, bis auch das Herz mit in Stücke 162 geht, während Andere nicht eine schlaflose Minute dadurch haben, sondern die Auflösung wie die einer Journal-Charade geduldig »in der nächsten Nummer« erwarten, – das ist nicht minder räthselhaft. Inzwischen ist dafür gesorgt – oder wir selbst müssen dafür sorgen – daß das Leben, das ganz gedankenlose alltägliche Schaffen und Wirken uns von unserm aufreibenden Räthselrathen ablös't. Liebe Toinette –

Ich weiß, was Sie sagen wollen, unterbrach sie ihn rasch. Mein Müßiggang sei all meiner Leiden Anfang. Wenn ich was zu thun hätte, würde ich nicht Zeit haben, vierundzwanzig Stunden täglich zu überlegen, daß es mir am Besten fehlt. Nicht wahr? Eine Kinderschule oder ein Spital gründen, für Taubstumme Hemden nähen oder auf meine alten Tage mir ein Talent anüben, Malen oder Klavierspielen – o das wäre eine herrliche Sache! Aber zu dem Einen bin ich nicht eitel, zu dem Andern nicht liebevoll genug. Ich liebe die Menschen nicht, lieber Freund, ich meine: die Menschen im Großen und Ganzen, die Menschheit. Und doch, ich weiß jetzt, daß mein einziges Talent die Liebe gewesen wäre, die Liebe zu einem Einzigen, und zu den Kindern dieses Einzigen, und daß ich das zu spät erfahren habe – daran geh' ich zu Grunde – zu Grunde!

Nein, rief sie plötzlich und eine leidenschaftliche Röthe flammte in ihren Wangen auf, indem sie den Tisch zurückstieß und vom Sopha aufstand, ich will nicht zu Grunde gehen, will mir das Recht der Nothwehr nicht nehmen lassen und meinen Anspruch an Glück so gut 163 wie jeder andere Enterbte an mich reißen. Worte helfen nichts gegen das Schicksal, sagten Sie nicht so, Edwin? Sie haben Recht, man muß handeln, wenn man sich bei den sogenannten Göttern in Respect setzen will – und darum bin ich zu Ihnen gekommen, mein Freund. Starren Sie mich nicht so an! Sie wissen, was mich hergeführt hat, auch wenn ein armseliger Rest von Feigheit es mich nicht aussprechen läßt. Seien Sie menschlich und ersparen es mir und sagen mir, daß Sie Alles wissen und mich nicht fortstoßen von der einzigen Stelle, wo ich mein Glück finden kann – von deinem Herzen, Edwin!

Toinette! rief er, – dann mußte er wohl verstummen. Sie war ihm in die Arme gestürzt und hatte ihre überströmenden Augen an seinem Halse, ihre glühenden Lippen an seiner Brust verborgen.

Kommen Sie zu sich! wagte er nach einer langen stummen Pause zu ihr hinabzuflüstern; seine Lippen berührten ihre Haare, sie hob plötzlich das Gesicht und hielt es ihm mit einem so schmerzlich seligen Ausdruck entgegen, daß alle seine Kraft schmolz. Es ist zu viel! stammelte er. Schonen Sie mich! Sie wissen nicht, was ich gelitten habe!

Ich weiß es, hauchte sie unter seinen Küssen. Ich wußte es in der ersten Stunde – du bist noch mein, wie du es je gewesen – du bist mein, mein, – wie ich dein war, seitdem ich zum Weibe geworden!

Die Uhr auf dem alten Schloßthurm setzte in diesem Augenblick ein zu zwölf langsamen Schlägen. Ein 164 Schauer überrieselte den Mann, der das Weib seiner ersten Leidenschaft an seine Brust gedrückt hielt. Es war, als führe ihm eine kühle Geisterhand über das Herz und löschte auf einmal die wilde Glut, die ihn zu zerstören drohte.

Er lös'te seine Lippen von ihrem Munde und drängte sanft ihren Busen zurück, der sich an seine heftig arbeitende Brust schmiegte. Was haben wir gethan! sagte er, indem er einen Schritt zurücktrat und von ihr wegsah.

Wir haben getrunken, da wir durstig waren, sagte die Erglühende, ohne die Augen zu senken. O nur ein Tropfen auf den heißen Stein! Warum willst du mir nicht mehr in die Augen sehen, Edwin? Schämst du dich, daß du mich noch liebst, obwohl ich damals kindisch war und kalt und nicht wußte, was ich that? Der Fluch war ja noch über mir, der Fluch meiner Geburt; den hab' ich abbüßen müssen in diesen Leidensjahren, um nun endlich ein neuer Mensch zu werden, ein seliger Mensch, ja wahrlich, neugeboren durch deine Liebe, Edwin! Wie ich dich heute früh zuerst sah, da that es mir einen Schlag aufs Herz, da sprang der Sargdeckel, in dem es begraben lag – und dann – im Walde, wie jedes deiner Worte – dein Blick – der Druck deiner Hand mir sagte: was sind vier Jahre gegen ein ewiges Gefühl? Ich bin Derselbe noch, den du unglücklich gemacht hast, und nun wird Alles wieder gut, da mein Glück das deine ist! – Sieh mir ins Auge, Edwin, 165 und sage mir, wenn du kannst, daß ich mich getäuscht habe!

Sie war ihm nahe getreten und haschte nach seiner Hand. Er entzog sie ihr nicht, aber der Blick, der sie jetzt traf, war so traurig, daß sie erschrak und seine Hand wieder fahren ließ.

Sie haben recht gesehen, meine arme Freundin, sagte er dumpf. Ich bin noch Derselbe, den Sie damals unglücklich gemacht haben. Aber Sie täuschen sich dennoch. Was jetzt mein Glück ist, kann das Ihre nicht sein. Weißt du es denn nicht? Hast du es denn ganz vergessen können: ich gehöre mir selbst nicht mehr an. Mein Leben ist an ein anderes geknüpft, und dies andere ist mir theurer, soll mir theurer sein als das eigene Leben.

Ich weiß es, erwiederte sie, indem sie an das Tischchen trat und die beiden Hände ruhig darauf stützte. Aber wenn es wahr ist, daß diese Frau Sie liebt, der Sie damals in einer Aufwallung von Stolz und Trotz Ihre Hand gereicht haben – wird sie es dann ertragen, wenn sie sehen muß, daß sie allein Ihrem Glück im Wege steht? Ich – wenn ich mich in eine solche Lage versetze, – lieber stürbe ich, als daß ich ein Recht geltend machte, das ich mir in einem unbewachten Augenblick erschlichen hätte, das nun eine Sünde wird gegenüber dem Recht der Natur.

Er schüttelte ernst den Kopf. Hören Sie mich an, sagte er. Setzen Sie sich dort nieder, meine geliebte Freundin, und lassen Sie uns redlich versuchen, den 166 Ausweg aus diesem Labyrinth zu finden. Es würde Ihnen leichter, mich zu verstehen, wenn Sie die Frau kennten, deren Leben mit dem meinigen so fest verbunden ist, daß Nichts uns trennen kann, selbst nicht, was Sie das Recht der Natur nennen. Sie weiß es – ich habe ihr nichts verschwiegen von Allem, was ich durch Sie gelitten habe – –

Und Sie werden jetzt schweigen?

Ich würde es nicht wollen, auch wenn ich es könnte. Es giebt keinen Menschen auf der Welt, seit ich meinen Bruder nicht mehr habe, der so um meine letzten Gedanken, um jede Regung meines Herzens weiß. Sie ist wirklich mein »anderes Ich«, mein besseres Ich, viel sanfter, stärker und aufopfernder, als ich, und ich kann nie zusammenrechnen, was ich ihr in diesen Jahren schuldig geworden bin, ohne mich über meinen Leichtsinn zu wundern, daß diese Schulden mich gar nicht drücken, daß ich mir oft einbilde, ich bezahlte sie jeden Tag mit allen Zinsen. Wenn Sie dieses liebevolle, liebenswürdige Wesen kennten –

Erlassen Sie mir die Beschämung, sie jetzt durch Ihre Schilderung kennen zu lernen. Ich will fort. Ich sehe, ich bin schon zu lange –

Nein, nicht so, so dürfen Sie nicht gehen! Sie müssen mich zu Ende hören, Toinette. Dies ist vielleicht das letzte Gespräch, das wir haben. Wollen wir uns mit kleiner Gereiztheit die Wunde noch schmerzlicher machen, die dieser Abschied zurücklassen wird? Was ich Ihnen da gesagt habe, ist buchstäblich wahr. Aber wenn 167 ich diese Frau liebe, wie mein besseres Selbst – ich fühle es erst in diesem Augenblick – nein, seit heute früh, wo ich Sie wieder gesehen habe: man mag von der Selbstliebe denken, wie man will, – zu einer Leidenschaft, einem Rausch, einem selig-unseligen Taumel kann sie nicht werden, in einem besseren Herzen wenigstens. O und Leidenschaft – Sie nennen sie das Recht der Natur – ich nenne sie das Schicksal! Es wird lange brauchen, bis dieser Sturm, den dein Kuß in mir aufgewühlt hat, wieder zur Ruhe kommt. Siehst du nun, daß du keinen Grund hast, dich dieses Kusses zu schämen? Die Natur ist in ihr Recht getreten, das Schicksal hat seinen Willen gehabt – das ist nicht beschämend für sterbliche Menschen. Aber nun soll auch der Wille in sein Recht treten, wir sollen die Augen öffnen und sehen, wohin die blinde Leidenschaft uns reißen will – und sollen Halt! sagen und unsere Schuldigkeit thun, gleichviel, was es uns kostet. Meinst du das nicht auch, meine tapfere Freundin?

Er wartete eine Weile auf ihr Ja, oder einen Blick, der ihm sagte, daß sie dasselbe wolle. Sie sah aber auf ihre Hände, die sie still zusammengelegt im Schooß ruhen hatte, und erst nach einer langen Pause sagte sie, wie zu sich selbst:

Die Partie steht ungleich. Indessen – – va banque!

Was meinen Sie, Toinette? nahm er wieder das Wort. Wollen Sie sagen, ich kehrte wieder zu dem zurück, was bisher mein Glück gewesen und es wohl auch wieder werden könne, und Sie – Sie blieben an dem 168 Abgrunde stehen? Aber nun antworten Sie mir auf eine Frage: wenn ich Ihnen jetzt die Hand böte und wollte Sie auch um den Preis all meiner Selbstachtung aus diesem Haus des goldenen Elends entführen, glauben Sie, daß ein Mensch, der Ihnen sein Heiligstes, seine Pflicht geopfert, den Adel seines inneren Bewußtseins, die beschworene Treue, sein besseres Selbst in der Gestalt eines hochherzigen Weibes –

Still! unterbrach sie ihn hastig. Es ist überflüssig, daß Sie weitersprechen. Ihre trefflich weisen Worte foltern mich. Ich sehe, es ist nur eine Redensart, wenn Sie von Leidenschaft sprechen. Sie räsonniren, Sie – moralisiren. Sie denken an eine Zukunft, wo es Sie reuen könnte, was Sie für mich gethan. Ich dagegen – o mein Gott! – ich habe Nichts, als diese Stunde, kein Gefühl von dem, was kommen kann, von dem, was war! Du bist da – und ich; die Welt darüber hinaus, die Menschen außer uns, Alles, was du Schuld und Schicksal, Pflicht und Reue nennst – ich weiß nichts davon; ich weiß nur Eins: daß du der einzige Mensch bist, an dessen Brust mein rastloses Herz einen einzigen Augenblick seliger Ruhe gekostet hat, den es nun nie wieder kosten soll. – Und da steht er und philosophirt – und ich sterbe!

Ihre Augen, die immer düsterer vor sich hin gestarrt hatten, quollen plötzlich von Thränen über, sie drückte die Hände heftig gegen das Gesicht und brach in ein fassungsloses Schluchzen aus.

Toinette! rief er, bei allen Heiligen, du thust mir 169 Unrecht. Ich – wenn du ahntest, welchen übermenschlichen Kampf ich kämpfe, was jener Augenblick, in dem du die Ruhe gekostet haben willst, mir für eine Qual heraufbeschworen – Toinette, sei menschlich – schone mich – laß uns einander helfen, statt uns elend zu machen. Siehst du, uns hilft Niemand sonst. Wir haben keine ewigen Höllenstrafen, keinen rächenden Gott, keinen erlösenden Mittler. Aber wir kennen das Gute, Toinette, wir wissen, daß alle Wonne des seligsten Liebesrausches uns zu Gift würde, wenn wir sie mit dem Herzblut anderer Menschen, die wir opfern müßten, erkauft hätten. Wir haben keine Ewigkeit, die Schuld dieser Zeit darin abzubüßen. Hier auf Erden sollen wir brav und tapfer und gut sein – und wir können es, mein armes Herz, denn du hast eine vornehme Seele, eine heldenmüthige, die zuletzt ihr wahres Glück doch nur darin finden kann, von keinem Schicksal sich beugen zu lassen und mit Hoheit zu siegen oder zu sterben.

Er schwieg. Er hatte sich zu ihr herabgebeugt und seine Hand auf ihr Haupt gelegt, wie er sie sonst wohl auf Balder's Locken ruhen ließ. Plötzlich fuhr sie empor, sah mit den nassen Augen verwirrt umher und sagte: Hörst du Nichts? Es kommen Schritte den Corridor entlang. Wer kann es sein? Gleichviel! Was kommen soll, mag kommen. –

Ein leises Klopfen an der Thür, – dann wurde sie rasch und behutsam geöffnet, nur so weit, daß man hindurch sprechen konnte. Der Herr Graf steigt die 170 Treppe herauf, hörte man eine weibliche Stimme sagen. Ich glaube, er kommt hierher.

Es ist gut, Rose, erwiederte die Gräfin, rasch ihre Augen trocknend. Komm nur herein und setze dich dort hinten auf einen Stuhl. Das ist meine einzige Getreue, fuhr sie gegen Edwin gewendet fort, als eine große, unschöne, blatternarbige Person hereintrat und, ohne einen neugierigen Blick auf die Beiden zu werfen, sich auf den Stuhl neben dem Himmelbett setzte. Wenn ich die Rose nicht gehabt hätte, der ich Alles sagen kann – woher weißt du, Rose, daß der Graf noch hierher kommen wird?

Ich weiß es nicht, aber ich glaube es sicher. Die andern Herrschaften haben sich schon vor einer halben Stunde in ihre Gemächer begeben. Der Herr Graf ist dann noch allein im blauen Salon geblieben, ich konnte ihn von Ihrem Schlafzimmer aus sehen, wie er am Fenster stand. Die Zimmer von Erlaucht waren dunkel, auch kommt er niemals um diese Stunde hier herauf. Nur die Fenster des Herrn Doctors waren noch erleuchtet. Ich sah den Herrn Grafen hier heraufschauen, dann trat er plötzlich zurück – ich dachte, wenn er vielleicht noch etwas mit dem Herrn Doctor zu sprechen hätte – Da! horch! hören Sie ihn jetzt? –

Alle schwiegen und horchten hinaus. Ein zögernder Schritt kam durch den hohen gewölbten Gang über den Teppich daher – hielt wieder an, wie unschlüssig – und näherte sich dann Edwin's Zimmer.

Was wollen wir ihm sagen? flüsterte Edwin. 171

Nichts! Er würde die Wahrheit nicht verstehen. Sagen Sie kein Wort; ich weiß, wie man zu ihm sprechen muß.

Im nächsten Augenblick klopfte es an der Thür, und der Graf trat herein. 172



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