Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Viertes Kapitel.

Es schlug zwei Uhr, als sie auf den Platz vor dem Schlosse hinauskamen. – Was fangen wir nun an? fragte sie.

Wir haben jetzt keine wichtigere Aufgabe, als möglichst gut zu Mittag zu essen. Ich hoffe, die Wirthschaft im türkischen Zelt wird seit meiner Studentenzeit, wo ich hier die berühmte Kalteschale zu genießen pflegte, Fortschritte in der Cultur gemacht haben. Uebrigens ist Sonntag, und Charlottenburg weiß, was es seiner Stellung zur Hauptstadt schuldig ist.

Als sie in das stattliche Gasthaus traten, in dessen unteren Räumen schon eine ziemlich gemischte Gesellschaft sich beim Kaffee gütlich that, kam ihnen ein Kellner entgegen, der, nachdem er Toinette flüchtig gemustert, das Paar in das obere Stockwerk hinaufwies. Falls sie allein zu speisen wünschten, fänden sie dort noch leere Zimmer und gedeckte Tische. – Es hilft Ihnen nichts, scherzte Edwin, Sie müssen sich schon darein ergeben, daß man Sie im Verdacht hat, am liebsten mit mir unter vier Augen zu sein. Den Kaffee aber trinken 50 wir dann im Freien, und Sie holen da alle Eroberungen nach, die Sie über Tische nicht mehr machen können.

So ging er neben ihr die Treppe hinauf und öffnete oben gleich die erste Thür, die in ein behagliches Cabinet führte. Sie nahm ohne Weiteres auf dem kleinen Sopha Platz, legte Hut und Mantel ab und versicherte, daß sie trotz des zweiten Frühstücks schon wieder hungrig sei. Edwin hatte sich ihr gegenübergesetzt und die Speisekarte zur Hand genommen. Sie machten sich unter allerlei Scherzen daran, die Auswahl zu treffen, und er konnte die Erinnerung an ihre kleinen Diners in der Jägerstraße nicht zurückhalten. Nach ihren Vögeln fragte er. Sie habe jetzt nur ein Dutzend Sperlinge zu Kostgängern, sagte sie, und von jenen Tafelfreuden möge sie lieber Nichts hören. Denn auch der Restaurant sei mit im Complot gewesen und habe ihr immer nur die Hälfte angerechnet, wie sie nachträglich erfahren. Uebrigens werde sie bald auf Lotte's Butterbrode angewiesen sein. – Aber davon wollen nur heute nicht sprechen, brach sie ab; es kommt immer noch früh genug.

Sie stand auf, gähnte einmal und fing an die Lithographieen zu betrachten, die an den Wänden hingen. Sehen Sie, sagte sie, wenn wir jetzt den Kammerzwerg mitgenommen hätten, wären wir besser bedient.

Der Kellner scheint zu glauben, wir würden von unserer jungen Liebe satt. Warten Sie einen Augenblick, ich will selbst hinuntergehen, in der Küche ein zartes Verhältniß mit der Köchin anknüpfen und einen dienstbaren Geist bestechen, sich uns ausschließlich zu widmen. 51

Er verließ das kleine Zimmer und eilte die Stufen hinunter. Auf der halben Treppe stieß er, da er um die Ecke bog, gegen einen Herrn, der ebenso hastig heraufgestürmt kam. Die gegenseitige Bitte um Verzeihung erstarb Beiden auf den Lippen.

Du hier, Edwin?

Marquard!

Kein Schlechterer! lachte der Arzt. Und in der besten Gesellschaft. Aber du – ist Balder mit dir?

Es war leider unmöglich. Du kennst ihn ja.

Also allein? Nun so bist du jedenfalls der Unsere. Uebrigens lauter gute Bekannte, bis auf meine kleine Vorstadt-Nachtigall, mit der ich mich schon sehen lassen kann. Stelle dir vor, das liebe unschuldige Kind wollte sich nicht mit mir compromittiren durch eine Excursion tête-à-tête. Sie bestand darauf, ihre Freundin Christiane müsse mit, oder sie bleibe auch zu Hause. Nun ist mir diese treffliche Künstlerin eigentlich sehr fatal, schon darum, weil sie junge lebenslustige Talente zur Tugend und zu Sebastian Bach erzieht. Aber was wollt' ich machen? Die Kleine hält mich nun einmal kurz, sie bildet sich ein, wir würden uns als Mann und Frau, richtig bürgerlich getraut, sehr gut ausnehmen, wobei ich sie vorläufig lasse. Also ich zu Fräulein Christiane, sie einzuladen, und denke schon darüber nach, wen ich, im Fall sie annimmt, als vierten Mann dazu bitten soll – eine partie de plaisir zu Dreien ist bekanntlich ein Unsinn. Ich dachte einen Augenblick an dich. Wärst du mitgekommen? Nun, wie ich bei ihr eintrete, sitzt Heinrich 52 der Unbefriedigte an ihrem Klavier und demonstrirt ihr seinen contrapunktischen Schnickschnack vor. Höre, ich glaube, der hat da was angebändelt, so häßlich das Schätzchen ist. Was blieb mir übrig, als ihm den vierten Platz im Wagen anzubieten? Ich hoffte, er würde Nein sagen, er kann mich bekanntlich nicht ausstehen. Aber quod non! nimmt an, mit beiden Händen; na, und es geht bis jetzt auch ganz charmant. Wir sind in high spirits, noch vor dem Champagner, und was hernach noch für Feuerwerke des Humors losgelassen werden, weiß Niemand zu sagen. Du kommst gerade recht, und auf dem Heimweg ist es ohnedies besser, wenn wir nicht Alle in Einem Wagen Platz haben.

Du bist sehr gütig, versetzte Edwin, indem er sich von dem Freunde, der ihn gleich mitfortziehen wollte, lachend losmachte. Ich habe mir aber auch schon Gesellschaft mitgebracht, und es fragt sich –

Wen? Doch nicht etwa gar –? O du unergründlichster aller Philosophen – »gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen« – die Prinzessin?

Edwin nickte.

Und ich habe ihm gestern erst die Adresse geben müssen und mir weismachen lassen – nun in Gottes Namen! So wollen wir nicht stören und Fichtenbaum und Palme sich selbst überlassen.

Du bist in einem gewaltigen Irrthum, sagte Edwin mit einem halben Seufzer. Zwar, was die Temperatur betrifft, paßt das tropische Gewächs nachgerade nicht übel auf mich, wenn Palmen nur nicht auch Sieg bedeuteten. 53 Denn trotz unserer scheinbaren Vertraulichkeit ist Ihre Hoheit noch immer so eisumstarrt wie je. Ich glaube wirklich, damit es sie nicht am Ende noch wirklich »schläfert«, wird es das Klügste sein, ich bringe sie zu euch – wenn sie Lust dazu hat, woran ich kaum zweifle.

Bravo! Ich werde die Damen vorbereiten. Eine Verwandte von dir, wie? Ein Mühmchen aus der Provinz?

Meinetwegen. Ich gelte auch in der Rosenstraße für ihren Cousin.

Schön. Für unsere Cousinen steh' ich. Sie werden etwas eifersüchtig werden, das läßt dann unsere Huldigungen im Preise steigen; übrigens sind wir höchst anständig. Also in fünf Minuten. Das letzte Zimmer dort hinten auf dem Flur. Und das Menu ist meine Sache.

Er verließ Edwin vor der Thür des Cabinets und ging trällernd und mit einem kleinen Taschenbürstchen sein spärliches Haupthaar frisirend zu seiner Gesellschaft zurück.

Meine Damen, sagte er, als er in das Zimmer trat, wo an einem sauber gedeckten Tische Mohr mit den beiden Mädchen saß, ich muß um Verzeihung bitten für eine Eigenmächtigkeit. Ein Freund von mir in Gesellschaft einer sehr artigen und tugendhaften Cousine befindet sich nebenan unter demselben Dache. Ich habe ihn aufgefordert, sich uns anzuschließen; zweien von Ihnen ist er bereits bekannt, da es Niemand anders ist, als unser Freund Edwin, der Philosoph. 54

Noch ein Verehrer unserer Künstlerin? rief Mohr. Ich sollte dagegen protestiren; ich hatte abonnirt auf allen musikalischen Enthusiasmus, der heute entwickelt würde, da Marquard in den Künstlerinnen nur das ewig Weibliche verehrt. Aber sei's darum! Dieser Edwin ist mein alter Special und steckt überdies tief in Schulden gegen Fräulein Christiane für ihre täglichen Gratis-Concerte.

Ist das nicht so ein langer Mensch mit graublondem Haar, nicht gerade schön, aber ein interessanter Kopf, wenn er nicht seinen alten Strohhut aufhat? fragte die kleine Sängerin mit einer munter zwitschernden Stimme, der man im Sprechen den Umfang von zwei Octaven nicht zutraute. Sie war auf den ersten Blick auffallend hübsch, aber bei näherer Betrachtung sah man, daß die Züge des runden Gesichts eigentlich nicht recht zusammenhingen, die großen Augen mit dem Stumpfnäschen, der sentimentale Mund mit dem lebenslustigen Kinn in einem seltsamen Widerspruch stand, wie auch ihr Anzug eine freie Composition aus allerlei phantastisch zusammengewürfelten Stücken war. Sie trug ein schwarzes, ziemlich betagtes Sammetkleid, das ehemals einer weit stattlicheren Primadonna gehört haben mochte, darüber eine seltsame Schärpe von Tüll und Spitzen, eine Broche mit der Photographie eines kleinen Rattenfängers, Ohrringe von schlechter römischer Mosaik und im Haar, das kurz abgeschnitten in krausen Löckchen stand, einen goldenen Reif. Ihre Bewegungen waren bald ausgelassen lebhaft, bald müde und elegisch. Nur wenn sie lachte, wobei sie den Mund etwas zu weit aufzumachen pflegte, kam das 55 in ihr zum Vorschein, was ihre näheren Bekannten meinten, wenn sie sie einen »guten Kerl« nannten, »dem man nichts übelnehmen könne.«

Neben diesem wunderlich tollen Geschöpf nahm sich der finstere, schwarzhaarige Kopf Christianens um so düsterer aus, erhielt aber auch etwas charakteristisch Großartiges, zumal die äußerste Einfachheit ihres Anzuges vortheilhaft gegen die komödiantenhafte Toilette der Sängerin abstach. Sie hatte stumm dagesessen, als Marquard wieder eintrat. Bei Edwin's Namen zuckte sie zusammen, sagte aber auch jetzt kein Wort, sondern nickte nur, als Mohr sie fragte, ob er nicht an ihre andere Seite einen Stuhl für den neuen Gast einschieben solle. Sie strich wie mechanisch die Falten ihres dunkelrothen Wollenkleides zurecht und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Adele hatte ihr gesagt, es gebe ihr manchmal einen bösen, feindseligen Ausdruck, wenn ihre dichten Brauen nicht völlig glatt gestrichen seien. Das war ihr sonst sehr gleichgültig. Aber heute wollte sie nicht noch abschreckender erscheinen, als sie ohnehin sich selber vorkam.

Sie lauschten auf den Flur hinaus. Endlich ging drüben die Thür, und Mohr sprang auf, dem neuen Paar entgegen. Als Toinette eintrat, erhob sich auch die Sängerin und ging auf sie zu, mehr um ihre zierliche Figur zu zeigen, als aus besonderer Herzlichkeit. Sie sah auf den ersten Blick, daß sie völlig von dem neuen Gesicht ausgestochen wurde, und konnte sich nur mit ihrer Toilette trösten, die sie für höchst comme il faut hielt, während die der »Cousine« sehr nach der 56 Provinz aussah. Christiane begrüßte Edwin's Verwandte mit einer stummen Neigung des Kopfes. Sie war erblaßt, als sie das reizende Mädchen erblickte. Ein plötzlicher Alp, der ihr das Wort in der Kehle erstickte, legte sich auf ihre Seele, sie hätte am liebsten in demselben Augenblick aufstehen und diesen ahnungslosen Menschen den Rücken wenden mögen. Aber es galt nun auszuharren. Als Edwin ein paar freundliche Worte an sie richtete und sich, ohne weiter zu fragen, auf den Stuhl neben sie setzte, kehrte ihr das Blut in die Wangen zurück. Sie konnte mit gleichmüthigem Tone sagen, daß sie sich sehr freue, endlich einmal das Vergnügen zu haben. – Er erwähnte jener Nacht, wo er sie in Schopenhauer's Parerga vertieft gefunden hatte, und entschuldigte sich mit seinen Arbeiten, daß er das Mondscheingespräch seitdem nicht bei Sonnenlicht fortgesetzt habe. Es gehöre aber auch zum »Leiden der Welt«, daß man das Gute, das so nahe liege, sich oft am wenigsten zu Nutze machen könne. Indem wurde die Suppe gebracht, und Marquard machte den Hausvater. Er war durch das Begegnen mit Edwin und seiner Schönen in die heiterste Laune versetzt und behandelte Toinette mit einer humoristischen Förmlichkeit, deren Grund die Anderen nicht ahnten. Daß er sie früher bereits kennen gelernt, verrieth er mit keinem Wort. Er fragte sie über ihre kleinstädtischen Zustände und Erlebnisse aus, und wie ihr Berlin und die Berliner gefielen. Diese kleine Komödie amüsirte auch sie, und sie ging mit der muntersten Laune darauf ein. Dabei hatte sie den feinen Takt, 57 besonders gegen Adele und Christiane all ihre Liebenswürdigkeit zu entfalten, so daß schon nach dem ersten Glase Champagner die Sängerin, als der »gute Kerl«, der sie war, mit ihr anstieß und ihr erklärte, sie liebe sie unendlich, sie wolle sie in der Stadt besuchen, und sie dagegen müsse jeden Abend, wenn sie aufträte, ins Theater gehen.

Auch Christiane konnte sich dem Reiz der neuen Bekanntschaft nicht entziehen. Aber freilich nicht zu ihrer Freude. Niemals war sie sich selbst so von allen Grazien verlassen vorgekommen, wie neben dieser unwiderstehlichen Erscheinung, die sogar ihrem Verehrer Mohr, den die plötzlich aufgetauchte »Verwandte« seines alten Freundes zuerst genirte, nach und nach sehr wohlzugefallen schien. Er wurde immer beredter und brachte nach seiner Weise eine Menge barocker Einfälle vor, die er zuletzt fast ausschließlich an Toinette richtete, da er wohl sah, daß seine ernste Nachbarin zu seinen abenteuerlichsten Paradoxen nur zerstreut den Kopf schüttelte. Marquard, als der Champagner gehörig gekühlt und alle Pflichten des Wirths gegen seine Gäste erfüllt waren, überließ sich behaglich, ohne sonderliches Bemühen, viel Geist zu zeigen, dem halblauten Geplauder mit seiner kleinen Flamme und lachte nur dazwischen so von oben herab über Mohr's Späße, wie über die sonderbare Thorheit eines Menschen, der einen ganz unnützen Aufwand mache.

Mohr hatte ihn eine Weile lachen lassen und nur zuweilen einen satirischen Hieb nach ihm geführt. Aber da er den Wein nicht schonte und sich dabei mit seinen 58 eigenen Reden erhitzte, brach endlich seine eigentliche Stimmung gegen den behaglich selbstgefälligen Lebemann durch, den er, wie wir wissen, für einen ziemlich flachen Kopf und eine kalte Seele hielt.

Meine verehrten Freunde, sagte er, indem er aufstand und sein volles Glas erhob, ich erlaube mir, fünf Minuten lang das Wort zu erbitten, um eine allgemeine Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Wir sitzen hier so traulich beisammen und haben einander entweder lieb, oder wünschten, daß wir es hätten, oder wünschten es auch nicht. Jedenfalls ist diese kleine bescheidene Orgie dazu angethan, den Neid der sogenannten Götter zu erregen, da hier sechs Menschen auf einem leidlich grünen Nahrungszweig sitzen, sich mit einem hoffentlich unverfälschten Champagner alle Sorgen um das jetzige und künftige Leben von der Seele spülen und darüber sowohl die Furcht als die Liebe gegen Götter und Teufel sich vergehen lassen. Was nun den Neid der Ersteren betrifft, so bin ich weit entfernt, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen. Vielmehr, da ich sonst nicht eben Grund habe, sie hochzuschätzen, weil sie sich gegen meine Wenigkeit wenig freundschaftlich gezeigt haben, ist es dieser Neid allein, der mich halb und halb mit ihnen aussöhnt. Diese armen Teufel von Göttern, die auch nicht immer können wie sie wollen, zeigen sich dadurch von einer recht humanen Seite; denn, meine Freunde, tiefes Nachdenken und reife Erfahrung haben mich gelehrt, daß das wahrhaft Menschliche, das Geniale, so zu sagen Göttliche in unserm Geschlecht, ebenso wie das wahrhaft Menschliche 59 in den Göttern der Neid ist. Sie sehen mich groß an, Fräulein Adele, und scheinen Ihren Herrn Nachbar zu fragen, ob ich immer so verrückte Ansichten zu äußern pflege, oder nur wenn ich von süßem Weine trunken bin. Aber Sie irren; ich bin so nüchtern, wie Ihr Herr Nachbar, holde Nachtigall; denn sagen Sie selbst, wären Sie die erfreuliche Erscheinung, die Sie sind, das verzogene Kind der Bretter, die vielphotographirte, vielverleumdete, vielangebetete Adele, wenn Sie nicht einen tiefen Neid auf die Glückliche in sich trügen, die man Adeline nennt, die göttliche Patti? Ohne diesen Neid, der Sie von früh an höher und höher hinaufbeflügelt hat, zwitscherten Sie noch so unvollkommene Couplets, wie bei Ihrem ersten Debüt. Ohne den Neid auf die großen Vorkämpfer des Gedankens wäre unser Freund Edwin jetzt ein wohlbesoldeter Professor der Logik und läse jahraus jahrein stumpfsinnige Hefte ab. Ohne diesen Neid hätte unsere Künstlerin, Fräulein Christiane, niemals ihre ganze Seele in ihre Fingerspitzen verströmt, noch ich, ihr unwürdiger Tischnachbar, meiner stiefmütterlichen Natur eine der bedeutendsten Compositionen der Neuzeit, die berühmte sinfonia ironica abgetrotzt. Auch Fräulein Toinette, die ich noch nicht die Ehre habe, genauer zu kennen, wird – ich lese es in ihren schwarzen Augen – ihr mütterliches Theil dieser Erbtugend erhalten haben. Denn was ist der Neid anders, als was man sonst Religion nennt: das Eingeständniß unserer Unzulänglichkeit und Bedürftigkeit und die Sehnsucht nach Vervollkommnung, nach einer höheren Stufe, die wir 60 von höheren Geistern bereits erreicht sehen? Muß es uns daher nicht gegen die sogenannten Götter milde stimmen, daß auch sie sich nicht selbst genügen, daß auch sie unerfüllte und ewig unerfüllbare Wünsche im Busen tragen nach den versagten Freuden armer Sterblicher, etwa einem Mittagessen im türkischen Zelt in angenehmer Gesellschaft, übersprudelnd von guter Laune und Crémant rosé? Daß sie dann freilich so weit gehen, schadenfroh solche Freuden verderben zu wollen, ist eine Ausartung jener Tugend des Neides, die ich nicht billige, vor der aber keine Tugend sicher ist. Götter und Menschen dagegen kann nichts tiefer beleidigen, als gewissen Seelen zu begegnen, die niemals die Wonne eines edlen Neides empfunden, die in ihrer erhabenen Selbstgenügsamkeit vornehm Jeden belächeln oder verdammen, dem nicht so wohl in seiner Haut ist, der sein Gesicht nicht in so zufriedene Falten zieht und, wenn er sich frisch rasirt hat, sich wohlgefällig die Backen klopft und zu sich sagt: Du bist ein famoser Mensch! Meine Freunde, ich weiß, was ich der Gesellschaft schuldig bin. Ich enthalte mich aller Persönlichkeiten. Aber wenn ich gewisse Stirnen sehe, eine zumal, die schon frühzeitig sich zu lichten beginnt, eine Stirn, die die Stirn hat –

Er hatte immer rascher und lauter gesprochen, den Blick immer starrer und herausfordernder auf Marquard gerichtet, der seinerseits diese seltsame Apostrophe mit der heitersten Miene über sich ergehen ließ. Bei den letzten Worten verschwand plötzlich das Lächeln von seinen Lippen. Er goß sich das Glas von Neuem voll und 61 klingelte mit dem Messer an ein leeres, das daneben stand.

Meine Damen und Herren, sagte er, da wir keinen Präsidenten haben, der bei etwaigem Mißbrauch der Redefreiheit zur Ordnung rufen könnte, muß hier Jeder sich selbst helfen. Ich erlaube mir, den geehrten Vorredner zu unterbrechen, da er im Begriff steht, etwas zu thun, um was ich ihn allerdings nicht beneiden würde: die schöne sechsstimmige Harmonie, die in diesem Kreise herrscht, zu zerreißen, indem er einem vielleicht sehr unwürdigen, aber gewiß nicht vorlauten Mitgliede das Gegentheil einer Liebeserklärung macht. Ich habe die Ehre, dieses Mitglied näher zu kennen, und weiß, daß unser Freund Heinrich Mohr sich von jeher seines Rechtes bedient hat, dasselbe nicht liebenswürdig zu finden. Ich habe ihm dieses Recht nie bestritten, obwohl ich selbst früher anderer Meinung war und jenen Mann mit der neidlosen Seele vielmehr sehr liebenswürdig fand. Seit einiger Zeit – (und dabei warf er einen drollig pathetischen Blick auf seine Nachbarin) – bin ich in dieser zuversichtlichen Meinung irre geworden, aber aus anderen Gründen. Ich lasse die sinnreiche Controverse über die Tugend des Neides beiseite. Jedenfalls wird Freund Mohr zugeben, daß es auch Ausnahmen von der Regel giebt. Ich, meine Freunde, habe so viel Naturgeschichte studirt, daß ich weiß, der Strauß würde dadurch nicht vollkommener, wenn er den Falken um seine Flügel beneidete, und der Sperling wäre ein sonderbarer Schwärmer, wenn er Solfeggien exercirte, um der Nachtigall nachzusingen. 62 Wenn ich daher früh darauf verzichtete, Talente auszubilden, die ich nicht besaß, und mich bemühte, als ein rechter Realist mich und die Welt zu nehmen, wie wir sind, so sollte mir das eher als Tugend angerechnet werden, zumal ich im Bewundern und Genießen des mir Versagten es bis auf eine ziemliche Höhe gebracht habe und sonst noch einige schätzbare Eigenschaften besitze, als z. B. ein Menu zu entwerfen, eine Bowle zu brauen und Mittel für das Wechselfieber zu verschreiben. Und nun, nach dieser kleinen factischen Berichtigung, schlage ich vor, wir trinken auf das Wohl der Damen und ersuchen Fräulein Adele, den letzten Rest eines Mißklangs mit ihrer goldenen und mit echten Brillanten besetzten Stimme hinwegzusingen.

Ein lautes Händeklatschen, zu dem Adele selbst das Signal gab, belohnte diese Rede, während welcher Mohr sich langsam gesetzt und sein Glas in kleinen Zügen geleert hatte. Jetzt schenkte er es wieder voll und wandte sich mit einem eigenthümlichen Zwinkern seiner klugen grauen Augen gegen Marquard.

Ich stimme diesem Antrage von Herzen bei, sagte er, muß aber vorher noch eine kurze persönliche Bemerkung zu Protokoll geben, nämlich, daß ich ein grober Esel war. Die Damen werden den rohen Ausdruck entschuldigen, da sie, wie ich nicht zweifle, von der Wahrheit der Sache überzeugt sind. Fritz Marquard, ich erkläre dir hiermit, daß du Recht hast, dir auf die Backen zu klopfen und dich für einen ganz famosen Menschen zu halten. Von heute ab bitte ich um deine 63 Freundschaft und hoffe, dir Beweise von der meinigen zu geben. –

»Und ist ein Mensch gefallen,
Führt Liebe ihn zur Pflicht –«

sang Adele, sprang von ihrem Sitz auf und hüpfte zu einem alten Klavier, das in einem Winkel des Zimmers stand und dann und wann bei kleinen Tanzgesellschaften gebraucht werden mochte. Sie öffnete es rasch, griff einige Accorde und rief Christiane zu sich hin, um es ernsthafter zu probiren. Während dessen war Marquard zu Mohr gegangen und hatte ihm freundschaftlich die Hand geschüttelt; Edwin und Toinette erhoben sich gleichfalls, Lichter wurden hereingebracht und eine neue Flasche, und unter dem Tumult des Kommens und Gehens ließ Christiane die Tasten in heftigen Läufen erklingen, um dann in Weber's »Aufforderung zum Tanz« überzugehen. Da wurde es stiller. Edwin hatte zwei Stühle in eine Fensternische getragen, die vom letzten Roth des Herbstabends erleuchtet war. Ohne daß er ein Wort sagte, setzte sich Toinette auf den einen Stuhl und er neben sie. Er hatte auch bei Tische kaum mit ihr gesprochen, aber während er das Wort an die Anderen richtete, immer nur nach ihrer Stimme gehorcht und, so wenig er sie anzusehen schien, das feine Profil und die schwarzen Wimpern beständig im Auge gehabt. Jetzt, während sie in die kahlen, rothangeglühten Bäume des Wirthsgartens hinaussah, Kopf und Schultern ebenfalls von der Abendglut überhaucht, die Lippen halbgeöffnet, als ob sie die letzte Neige des Lichts einfangen wollten, 64 that er sich keinen Zwang an und sah ihr unverwandt ins Gesicht. Im Zimmer war es helldunkel, die zwei Lichter beschienen nur die Tafel mit leeren Flaschen und halbvollen Gläsern und die behaglichen Züge Marquard's, der, eine Cigarre rauchend, allein noch sitzen geblieben war und durch die runden Gläser seiner goldenen Brille aufmerksam nach dem Klavier hinüberblickte; Mohr hatte sich auf einen Stuhl neben die Spielerin geworfen, Adele ging tänzelnd und leise mitsingend das Zimmer auf und ab und warf zuweilen mit einer koketten Geberde eine Beere von der Weintraube, die sie sich bacchantisch an ihren Goldreif gehängt hatte, nach ihrem zärtlich schmollenden und dabei phlegmatisch fortrauchenden Freunde.

Sie waren heute sehr liebenswürdig, flüsterte Edwin zu Toinette. Ich danke Ihnen für die Eroberungen, die Sie an meinen Freunden gemacht haben. Ich bin so eitel, zu glauben, Sie hätten es zur Hälfte um meinetwillen gethan. Wenn nur auch Balder Sie so gesehen hätte!

Warum?

Weil ich an ihn denke, so oft mir's wohl geht; weil ich ihm alles Gute gönne. Haben Sie gegen Ihre Schwestern nie etwas Aehnliches gefühlt?

Ich hätte gern gewollt, aber es ging nicht. Jede dachte nur an sich, an ihre paar armseligen Putzsachen, an ihre Courmacher und den nächsten Casino-Ball. Was Sie brüderliche Liebe nennen, ich glaube im Ernst, dessen sind Schwestern unter einander kaum fähig. Aber stille; sie fängt an zu singen. Wer hätte in der drolligen kleinen Puppe so viel Musik gesucht! 65

Wirklich ergoß sich jetzt ein Strom von Wohllaut durch das Zimmer, als Adele das Pergolese'sche Morgenständchen sang:

Tre giorni son che Nina
Al letto se na sta.

Christiane begleitete sie. Das abgespielte Instrument verwandelte sich unter ihren Händen und gab Töne von sich, wie wohl kaum in seiner besten Zeit. Als das reizende Liedchen zu Ende war, stand Marquard auf und küßte der Sängerin feierlich die Hand. Brava, bravissima! Sie sind das singende springende Löweneckerchen aus dem Märchen, sagte er.

Eine incantatrice! rief Mohr aus seiner dunklen Ecke, nachdem er ganz allein mit Applaudiren einen furchtbaren Lärm gemacht hatte.

Sparen Sie Ihren Enthusiasmus, meine Herren, lachte das muthwillige Mädchen und drehte sich auf dem Absatz herum. Es kommt noch besser! Und der Löwenantheil an dem Löweneckerchen gebührt ohnehin meiner gestrengen Meisterin. Also: »Ihr, die ihr Triebe des Herzens kennt« –

Und ohne das Accompagnement abzuwarten, begann sie die seelenvolle Arie, die ihr Christiane erst kürzlich einstudirt hatte.

Die Spielerin, die jetzt ganz im Dunkeln saß, aber auf Mohr's Frage, ob sie Licht wünsche, den Kopf geschüttelt hatte, begleitete nur mit einzelnen Accorden den Gesang. Ihre Gedanken waren weitab von Pergolese, Mozart und all ihren anderen musikalischen Heiligen. Ueber dem 66 Klavier hing ein alter ovaler Spiegel, gerade dem Fenster gegenüber, in dessen Nische Edwin und Toinette saßen. Sie konnte, da die Abendröthe nur langsam verglomm, deutlich erkennen, mit welchem Ausdruck Edwin's Augen an dem ruhig hinausgewandten Gesicht des schönen Mädchens hingen. Während des Essens war ihr erster eifersüchtiger Schmerz, ihm in dieser verführerischen Gesellschaft zu begegnen, fast verschwunden, da er sich um die reizende Cousine nicht sonderlich zu kümmern schien. Jetzt leuchtete es plötzlich vor ihr auf, daß diese Gleichgültigkeit nur Maske gewesen sei, und ein unsäglich bitteres Gefühl übermannte sie, wenn sie an die höfliche Freundlichkeit, mit der er sie selbst behandelt hatte, zurückdachte, und wie sehr ihr das dennoch wohlgethan. Jetzt, in der rothen Dämmerung der Fremden gegenüber, wie anders sprachen seine Augen! Mit der ganzen Ahnungskraft verschmähter Leidenschaft erkannte sie im Augenblick: er liebt dieses Mädchen! Und sie konnte ihn nicht einmal darum hassen. Hatte die Fremde nicht Alles, was ihr fehlte, um zu gefallen? Auch das freilich sagte ihr die Scharfsichtigkeit der Eifersucht: er fand keine Erwiderung seines Gefühls, weder wie er es verdiente, noch weniger wie sie es ihm hätte erwidern können. Diese kaltsinnige Zauberin konnte, während Edwin's Blicke sich an ihr Profil festklammerten, wie die eines Betenden an ein Gnadenbild, ungerührt in die dürren Aeste hinausstarren; ihre Hand begegnete nicht der seinen, die er wie suchend auf seinem Knie vor sich hingestreckt hatte, ihre Seele – wenn sie eine hatte – wo weilte sie? Und 67 er, warum lehnte sich sein Stolz nicht dagegen auf, hier ohne Lohn zu dienen, da er doch hätte herrschen können? Freilich, herrschen über Wen! Ueber ein Herz, das zu erobern sich noch Niemand bemüht hatte, das zu besitzen Niemand für eine Gunst zu halten schien. Er am wenigsten. Hatte er nicht jahrelang unter demselben Dache mit ihr leben können und nicht das leiseste Verlangen empfunden, sich Der zu nähern, die täglich in Tönen zu ihm redete, ihre verschwiegensten Gefühle so klarverständlich zu ihm hinaufsandte?

Das war es, was jetzt über sie kam und zu allem Aufregenden dieser Stunden, der Feststimmung und dem ungewohnten Genuß des Weins, ihre Sinne förmlich berauschte. Eine dämonisch wilde Laune dämmerte in ihr auf. Als die Mozart'sche Arie zu Ende war, sagte sie kurz: Du bist nicht bei Stimme Kind; der Champagner rächt sich. Du singst keinen Ton mehr, oder du bist morgen stockheiser. – Und ohne auf Marquard's Einspruch zu achten, fing sie nun an, laut und stürmisch zu phantasiren. Eine Saite sprang klirrend – sie achtete es nicht; eine zweite und dritte – sie spielte ohne Aufhören weiter. Mohr, der seinen Stuhl hinter den ihren gerückt hatte, während Marquard neben Adele auf einem kleinen Sopha im Dunkeln saß, gerieth in eine wahrhaft fieberhafte Ekstase. So hatte er sie nie spielen hören; er war Musiker genug, um sich zu sagen: sie müßte die größten Meister entzücken, wenn die sie in solcher Stimmung phantasiren hörten. Mehr als Einmal drehte er sich nach den beiden Pärchen um und suchte durch 68 begeistertes Herumwerfen seiner langen Arme sie aufmerksam zu machen, was für ein unerhörtes Genie sich hier producire. Er schien aber mit seiner Bewunderung allein zu bleiben. Wenigstens für Marquard war dies merkwürdige Spiel nicht viel mehr, als das Rauschen des Sturms, da er unablässig der Sängerin ins Ohr sprach, und Edwin – in diesem Augenblick hatte er, da der Himmel draußen sich endlich entfärbt hatte, sich ganz unbemerkt glaubend eine Locke von Toinettens Haar erhascht und sie schwebend eine Weile in der Hand gehalten. Nun bog er sich behutsam vor, und während er that, als ob er etwas an der Gardine nesteln wollte, drückte er die weiche Locke rasch an seine Lippen. In demselben Augenblick sprang die vierte Saite auf dem Instrument, eine scharfe Dissonanz schrillte durch die mächtigen Passagen, zugleich fuhr die Spielerin in die Höhe und schob den Stuhl zurück. Nichts mehr! rief sie dumpf. Es bringt mich um. Luft! Luft!

Um Gotteswillen, Fräulein! rief Mohr, der gleichfalls aufgesprungen war. Sie taumeln, Sie werden ohnmächtig – hier, lehnen Sie sich an – soll ich Ihnen Wasser bringen? soll ich Sie ins Freie führen?

Nichts! Es ist vorbei! Lassen Sie mich! Warum fassen Sie mich so heftig an? Mir ist ganz wohl, völlig wohl, – am wohlsten, wenn ich wieder allein bin. Der Wein, die Musik, die Dunkelheit – geben Sie mir meinen Hut und Mantel, ich will einen Augenblick in die Luft, dann wird Alles vorbei sein!

Er that geschäftig in größter Bestürzung, was sie 69 von ihm verlangte, so halblaut, daß die Andern kaum merkten, was hinten am Klavier vorging. Nur Marquard sah flüchtig auf. Rächt sich auch an Ihnen der Champagner? rief er scherzend herüber. Sie sollten eine Tasse Kaffee trinken, das beruhigt. Oder schwindelt dem Genie vor seinen eigenen Himmelsflügen?

Keine Antwort. Mohr begleitete sie, während sie sich den Mantel fest umband, bis nach der Thür. Sie bleiben hier, raunte sie ihm gebieterisch zu.

Aber Sie kommen wieder?

Wenn es vorbei ist.

Damit entzog sie sich ihm, und er ging mit aufgeregten Gedanken an das Klavier zurück. Es that ihm wohl, sich auf ihren Stuhl setzen und dieselben Tasten berühren zu dürfen, über denen ihre Hände soeben hingestürmt waren. Er spielte aber nicht. Nur dann und wann griff er ganz leise einen Accord, wie um die Saiten zu liebkosen, die sie so erschüttert hatte. Dabei horchte er beständig hinaus. Es rührte sich aber Nichts; nach einer Weile wußte er, sie kam nicht wieder.

Plötzlich sprang er auf. Meine Freunde, sagte er, Fräulein Christiane hat sich auf Französisch empfohlen. Da es aber schon mit Macht dunkel wird und ihr nicht ganz wohl zu sein schien, halte ich es für meine Pflicht, ihr nachzugehen und ihr nöthigenfalls meine Ritterdienste anzubieten, falls sie keinen Wagen mehr findet. Du, Marquard, besorgst wohl hier alles Nöthige und sagst mir morgen, was auf mein Theil kommt, Fräulein 70 Christiane natürlich miteingerechnet. Gute Nacht und viel Vergnügen!

Ehe noch Einer etwas erwiedern konnte, hatte er seinen grauen Filzhut aufgestülpt und war gleichfalls verschwunden. – –

Eine halbe Stunde später fuhren zwei Droschken vom türkischen Zelte weg. In der ersten saß Marquard mit Adele, in der zweiten Edwin mit Toinette.

Die erste, die mit festgeschlossenen Fenstern gegen die Abendkühle verwahrt war und nicht gerade Eile zu haben schien, lenkte bald von der Chaussee ab in die dunkleren Wege des Thiergartens ein, als ob ihr daran gelegen sei, daß ihre Nachfolgerin ihr nicht auf der Spur bleibe. In dem zweiten Wagen war auf der Seite, wo Toinette saß, das Fenster offen, obwohl es ziemlich nebelkalt hereinwehte. Das schöne Mädchen aber behauptete, es sei ihr angenehm, die Musik sei ihr zu Kopf gestiegen; auch brannten ihr wirklich die Wangen. Wie sie so hinfuhren, erst noch plaudernd über die Menschen, mit denen sie diese Stunden verbracht, nach und nach einsilbiger und endlich verstummt, ging der Mond im ersten Viertel über den Wipfeln auf, und bei der großen Klarheit der Herbstluft spann sich bald ein heller silberner Schein über die Bäume am Weg und die Steine auf der Straße. Es war lieblich, in die tieferen Partieen des Parkes hineinzuspähen, wo geheimnißvolle Lichter und Schatten spielten, jetzt eine Statue blendend weiß auftauchte, jetzt wieder an einem dichten schwarzen Gebüsch die Macht des Lichts zu Schanden ward. Edwin hatte eine 71 Zeitlang in allerlei Gedanken zwischen froh und trübe durch sein Fenster gesehen. Einmal glaubte er eine rasch dahinschreitende weibliche Gestalt zu erkennen, die, als er sich vorbog, auch ihn zu bemerken schien und rasch tiefer in die Baumschatten sich zurückzog. Er wandte sich zu Toinetten, ihr seine Vermuthung mitzutheilen, daß Christiane es vorgezogen habe, den weiten Weg zu Fuß zu machen. Da entdeckte er, daß seine Begleiterin eingeschlafen war. Der Mond spielte über ihre kleinen Hände, die ohne Handschuhe in ihrem Schooße ruhten. In dem Halbdunkel, das den Kopf umgab, sah er, wie sie lächelte und ihre Zähne blitzten. Er bezwang sich mit Gewalt eine Weile, sein Herz pochte bis an die Schläfen hinauf, endlich war dies Lächeln auf ihren Lippen stärker als all seine festen Vorsätze. Er näherte sein Gesicht behutsam dem ihrigen, und nach einer fünf Minuten langen Pause, während deren er ihren Athem dicht über seine Augen hatte wehen lassen, drückte er einen leisen Kuß auf die halbgeöffneten Lippen.

Im Augenblick erwachte sie, so plötzlich, daß er sich erschrocken zurückzog und über und über erglühte. Wo sind wir? fragte sie flüsternd. Herrgott! der helle Mond! Ich glaube, ich habe geschlafen. Es ist unartig, nicht wahr? Aber man wird müde vom Vergnügen. Lange habe ich mich nicht so gut unterhalten, wie heut.

So plauderte sie unbefangen weiter. Er konnte nicht klug daraus werden, ob sie den Kuß empfunden, oder ihn nur geträumt zu haben glaubte. Doch hatte er freilich nicht gemerkt, daß sie ihn etwa erwiedert hätte. 72

Noch eine kurze Stunde, und er hob sie vor ihrer Wohnung in der Rosenstraße aus dem Wagen. Sie dankte ihm herzlich und wiederholt für den schönen Tag. Morgen also die Fortsetzung der Cur! rief sie ihm noch zu, als sie schon die Hausthür hinter sich zuzog. Damit verabschiedete sie ihn, der in seliger Träumerei durch die nächtlichen Straßen den Heimweg antrat. 73



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