Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Viertes Kapitel.

Am Morgen des dritten Tages war das Begräbniß. Franzelius, der alle die traurigen äußeren Anordnungen übernommen, hatte darauf bestanden, diese letzte Pflicht schon um sechs Uhr in der Frühe zu vollziehen. Der Prediger wird dann vielleicht die Zeit verschlafen, sagte er. Auch Edwin war damit einverstanden. Der Geistliche ihres Stadtviertels, der als Professor der Theologie mit Edwin collegialische Beziehungen hatte, war am Tage nach dem Ereigniß zu ihm gekommen, um zu condoliren und für die Leichenrede einige Notizen zu erbitten. Sie würden mir einen Gefallen thun, hatte Edwin erwiedert, wenn Sie nur das Nothwendige sagten, was Ihr Formular Ihnen vorschreibt. Ein Nachruf von Jemand, der dem Todten ganz fern gestanden, hat mich immer verletzt; und überdies, da mein Bruder über die letzten Dinge mit mir einverstanden war, würde manches Wort über seinem offnen Grabe fallen, gegen das er Einsprache thun würde, wenn er es hören könnte.

Der Prediger mochte denken, gerade die weich aufgelockerte Seele eines Trauernden sei ein gutes Land, um 254 die Saat der Ueberlieferung darauf auszustreuen. Edwin aber schnitt jede weitere Auseinandersetzung ab, und der College verließ ihn nicht in der besten Stimmung.

Auch sonst hatte Franzelius noch einen Grund, die dunkle Frühstunde zu wählen. Ein Arbeitergesangverein, dessen Mitglied er war, wollte auf dem Kirchhof singen und war zu einer späteren Stunde nicht vollzählig zusammenzubringen. Davon sagte er aber dem Freunde Nichts.

Er hatte Wort gehalten und keine fremde Hand den todten Leib berühren lassen. Auch das Schmerzlichste noch that er selbst und schraubte den Sargdeckel fest. Dann, als die Träger sich mühsam mit ihrer Last die winklige Hühnerstiege hinunterwanden, faßte er Edwin's Arm und führte den Willenlosen zu dem letzten sauren Gange.

Die Straße war nur vom Schneelicht erhellt, und wenige Menschen standen vor der Thür. Edwin nickte den Bekannten darunter zu und stieg dann in den vordersten der vier Trauerwagen, die sich gleich darauf in Bewegung setzten. Mit ihm fuhren Mohr, Marquard und Franzelius. In dem zweiten Wagen saß Meister Feyertag und der alte Herr aus der Beletage, der trotz der winterlichen Frühe es sich nicht hatte nehmen lassen, seinem Hausgenossen diesen Beweis der Theilnahme zu geben. Der dritte Wagen gehörte dem kleinen Maler. Er war allein gekommen und wollte auch allein mitfahren, als er den Obergesellen bemerkte, der, einen großen Trauerflor um den Hut und einen Crêpestreifen um den 255 linken Arm, sich anschickte, den Zug zu Fuß zu begleiten. Sogleich ließ der Maler halten, öffnete den Schlag und nöthigte den wackern Menschen, sich zu ihm hineinzusetzen, was der Bescheidene erst nach längerem Weigern annahm.

Im vierten und letzten Wagen endlich fuhr ein junger Pole nebst dem Senior eines Corps, das viele Ausländer zu seinen Mitgliedern zählte und zu Edwin's Vorlesungen das zahlreichste Contingent stellte. Sie folgten der Leiche nur aus Hochachtung für ihren Lehrer, da sie Balder gar nicht gekannt hatten, ließen auch alsbald die Vorhänge nieder, um sich den langen Weg durch Gespräche über Theater, Tagesneuigkeiten und Corpssachen und durch Rauchen von Papier-Cigarren zu verkürzen.

Aus dem oberen Fenster sah ein ganz verweintes Mädchengesicht, in ein dickes Tuch gehüllt, den im Schritt fortrollenden Wagen nach. Es war das Reginchen, das die zwei Tage über nicht zum Vorschein gekommen war und auch ihren Verlobten zu sehen sich beharrlich geweigert hatte.

Der Weg ging zum Oranienburger Thor hinaus und noch eine ziemliche Strecke durch die Vorstadt, bis der Friedhof erreicht war. Die Luft war weich, wie kurz vor Thauwetter, und die Schneedecke, über die sie nach der Grube hinschritten, gab lautlos unter ihren Tritten nach. Neben dem frisch aufgeworfenen Erdhaufen stand der Prediger, dahinter eine große Schaar dunkler Gestalten, eben jene Arbeiter, denen der Buchdrucker gesagt hatte, daß er seinen liebsten Freund verloren habe. 256 Nun las der Geistliche, der Edwin nur mit einer gemessenen Handbewegung begrüßt hatte, die Gebete bei der Beerdigung aus seinem Buche ab und trat dann an den Rand der Grube vor, in die der Sarg schon hinabgelassen war.

Er sprach:

»Mitten wir im Leben sind
Von dem Tod umgeben.

»Die aber, so sich abwenden von dem Lichte der ewigen Wahrheit, sie tragen die Finsterniß des Todes in ihrer Seele. Sie leben, als ob sie nie sterben sollten, und sterben, als ob sie nicht leben sollten. Wie wird Schrecken und Traurigkeit sie erfassen an jenem Tage, da die Gräber sich öffnen und die Todten hervorgehen, zu empfangen die Krone der Herrlichkeit oder den Spruch ewiger Verdammniß! Wie wird das Wort des Richters in ihren Ohren erdröhnen: du hattest das Heil und hast es verschmäht, du hörtest die Botschaft und hast ihr dein Herz verschlossen! Dich selbst erlösen zu können hast du gewähnt in eitler Selbstgerechtigkeit, und hast dich selbst gerichtet. Dann wird der Stolz sich beugen vor dem Thron des Höchsten und der Trotz sich zerknirschen vor der Majestät des Menschensohns. Dann werden Lippen um Gnade stehen, die aus Erden von Lästerung überflossen und wie Petrus sagten: ich kenne diesen Menschen nicht. Wir aber, die wir dies traurige Grab umstehen, wir wollen uns vereinigen in stillem Gebet zu Gott, ihn anzuflehen, daß er mit diesem unserem Bruder nicht ins Gericht gehe, daß ein Strahl seiner ewigen Gnade 257 dies in Irrthum und Hinfälligkeit zum frühen Ziel gelangte Leben verkläre und rein bade von seiner Schuld!« – –

Eine lautlose Stille folgte diesen Worten. Der Prediger hatte die Hände über seinem Buch gefaltet und die Augen in stummem Gebet geschlossen. Plötzlich hörte man aus der Gruppe der Freunde, die am Fußende des Grabes standen, Franzelius' gedämpfte Stimme: Laßt mich reden, ich kann nicht schweigen, ich müßte mich selbst verachten als einen elenden Feigling, wenn ich solche Worte über seinem Grabe hören könnte, ohne Verwahrung einzulegen im Namen Derer, die ihn gekannt und geliebt haben. Kein Aergerniß soll gegeben werden? Sagt das Denen, die sich nicht entblöden, den Streit der Meinungen selbst in die Stille des Friedhofs hineinzutragen, wo sonst der Tod die erbittertsten Feinde still neben einander bettet. Nein, meine Freunde, fuhr er jetzt mit laut erhobener Stimme fort, indem er auf den überschneiten Erdhaufen sprang, wir Anderen wenigstens, wir haben uns nicht an diesem Grabe versammelt, um eine zerknirschte Fürbitte zu stammeln für einen armen Sünder, der, wenn nicht Gnade für Recht ergeht, ewig verloren ist. Ewig unverloren wird dieser Todte uns sein, und wie er sich in Wahrheit selbst erlös't hat durch die Kraft seiner Liebe und seines Geistes von dem Fluch gebrechlicher Sterblichkeit, von den Schrecken blinden Wahns und den Banden der Selbstsucht, so wird sein Bild uns helfen, auch uns zu befreien und immer 258 würdiger des hohen Glückes zu werden, daß er uns geliebt hat. Ja, auch euch hat er geliebt, meine Freunde, die ihr nie seine Züge gesehen noch seine Stimme gehört habt. Sein großes Herz schlug für all seine Brüder, für alle Armen und Elenden, für alle Kinder dieser Welt, die kommen, sie wissen nicht, woher, und gehen, sie wissen nicht, wohin, und doch zu redlich sind, um von Märchen sich trösten und von Träumen sich einlullen zu lassen. Was darf noch heilig heißen, wenn es sein Grab nicht ist? Denn wißt ihr auch, wen wir hier bestatten? Einen Arbeiter, meine Freunde, der seinen letzten Heller mit jedem Aermeren getheilt; einen Dichter, der nie um Ruhm oder Gold seine Begeisterung entweiht hat; einen Helden, dessen letzte That ein Opfer war für Die, die er liebte. Und dieses Leben wäre in Finsterniß vergangen? Dieses Grab dürfte ein »trauriges« Grab genannt werden, an welchem bußfertige Seufzer und pharisäische Fürbitten erschallen müßten? O mein Balder, ich weiß, auch diese Verirrung eines trüben, unduldsamen Formelgeistes würdest du mit deinem stillen Lächeln hinnehmen, das deine einzige Waffe war gegen alle Anfechtung. Wir aber sind noch nicht im Frieden, sondern im Streit. Den Schwachen, die von Formeln sich ängstigen lassen und ihre freie Seele lieber gefangen geben, als daß sie sich wehren, ihnen müssen wir vorkämpfen, sie aus den Händen ihrer Zwingherren befreien, daß sie diese Welt kennen und lieben lernen, statt um ein erträumtes Jenseits die schöne Erde zu verachten. Eine Erde, die dich getragen hat, mein Balder, ein Himmel, 259 zu dem dein edles Auge aufgeblickt – nein, und tausendmal nein! eine solche Welt ist kein Jammerthal, und selbst im bittersten Weh an deinem Grabe bleibt uns das triumphirende Gefühl: wir haben dich besessen, und alle Noth des Lebens wird reich vergütet durch die Gewißheit, daß dein großes Herz in unsern Herzen fortlebt. – Balder – mein Freund – mein Bruder –

Die Stimme versagte ihm plötzlich – er drückte die geballte Faust gegen die Augen und wandte sich ab. Gleich darauf faßte er sich wieder und winkte den Sängern, die in dichter Schaar hinter ihm standen. Sogleich begann ein gedämpfter vierstimmiger Chor, anfangs noch durch die Erschütterung der Gemüther schwankend und unsicher gemacht, aber immer reiner und mächtiger anschwellend, ein Lied zu singen, das Mohr auf die Melodie des Integer vitae gedichtet hatte.

Eh in die Schollen wir den Leib versenken,
Bruder, wir wollen liebend dein gedenken;
    In deinem Bilde all die Kraft und Milde
            Soll Trost uns schenken.

Adlig tiefinnen, sonder Furcht und Zagen,
Nicht wo die Zinnen goldner Schlösser ragen,
    In armen Hütten, in der Brüder Mitten
            Hast du gestritten.

Du Auserwählter, den wir stolz beweinen,
Anmuthbeseelter, Freudenquell der Deinen,
    Ach, wie geduldig, keiner Klage schuldig
            Sahn wir dich Reinen! 260

Du bist geschieden, nicht vom Trug geblendet,
Froh, daß hienieden Lust und Leiden endet.
    Schlaf'! – und wir Andern wollen weiter wandern
            Durch Kampf zum Frieden!

Der Gesang verhallte feierlich, aber noch regte sich Keiner um das offene Grab. Als sie nach einer stummen Pause aufblickten, bemerkten sie, daß der Prediger aus ihrer Mitte verschwunden war. Auch der alte Todtengräber hatte sich entfernt, da ihm bei dem seltsamen Auftritt nicht geheuer war. Nur seinen Spaten hatte er zurückgelassen. Während Edwin zwischen Mohr und Marquard thränenlos wie ein abgeschiedener Geist in die Grube starrte, füllte diese sich rasch über dem mit Kränzen bedeckten Sarge, da Jeder herzutrat, eine Schaufel voll Erde hinabzuwerfen.

Franzelius trat an Edwin heran; sie reichten sich die Hand, es wurde aber kein Wort gesprochen. Immer noch wollte die Starrheit über dem Verwais'ten sich nicht lösen, und so in dumpfem Schweigen legten sie auch den Heimweg zurück. Er verabschiedete sich von den Freunden vor der Thür des Hauses und stieg allein zu seiner leeren Klause hinauf.

Er fand Alles aufgeräumt, Nichts erinnerte an die Schmerzen, die in den letzten Tagen durch diesen stillen Raum gegangen waren. Im Ofen prasselte ein helles Feuer, auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers war wie sonst das Frühstück aufgetragen, die Drehbank wieder an ihre Stelle neben das Fenster gerückt und alles Werkzeug darauf geordnet wie sonst. 261

Auf Balder's Stuhl aber lag das kleine Stemmeisen, mit dem Franzelius den Sarg zugeschraubt hatte.

Bei diesem Anblick brach die Starrheit, die Edwin gefesselt hatte; er stürzte auf den Sessel nieder und ließ den bittersten Thränen ihren Lauf. 262



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