Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Zweites Kapitel.

Dieses Zimmer, von den Freunden seiner Bewohner »die Tonne« genannt, war ein großes, dreifenstriges Gemach, die Wände mit einer leichten grauen Tünche bedeckt, die Dielen blankgescheuert, über den Fenstern statt der Vorhänge drei schmale Lambrequins von grünem Kattun, der ganze Zuschnitt von der einfachsten Art. Ein Pult an dem Fenster zur Rechten, eine kleine Drechselbank an dem zur Linken, an den Fensterpfeilern zwei hohe Büchergestelle, dann noch zwei Betten an den Langwänden und ein paar Rohrsessel und kleine Schränkchen aus weißem Holz, dazu eine niedrige, verräucherte Zimmerdecke, die hie und da große Risse zeigte und den Einsturz drohte. Was aber bei aller Dürftigkeit dem Raum etwas Vornehmes gab, waren zwei Rafaelische Kupferstiche über den Betten, in schlichtes braunes Holz gefaßt, und auf den Büchergestellen zwei antike Büsten, der Kopf des Aristoteles von der bekannten Herme, und der finsterblickende, eisenstirnige Demosthenes. Auch der niedrige Ofen war mit einem Bildwerk geschmückt, das man anzusehen nicht müde wurde, der Maske von Michelangelo's 17 jungem Gefangenen, der mit geschlossenen Lidern den rührend schönen Kopf wie qualenmüde und schlafsüchtig auf die Schulter zurücksinken läßt. Bis dahin aber drang der Mondschein nicht, der nur noch mit einem schrägen Strahl das Bett hier an der Wand streifte.

In diesem Bette lag, die Augen der Thüre zugekehrt, ein junger Mensch mit blassem, fast weiblich zartem Gesicht, das von einer Fülle dichter blonder Haare umgeben war. Wie alt dieser Jüngling sein mochte, war aus den Zügen schwer zu errathen, da eine knabenhafte Heiterkeit, die den Mund belebte, seltsam mit einem sehr reifen Zug der schön geschnittenen Augen im Widerspruch stand. Er war in eine leichte Decke eingewickelt, und ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Stuhle daneben. Als Edwin eintrat, stützte er sich langsam auf und streckte ihm eine blasse, zartgebildete Hand entgegen.

Nun? sagte er. War es schön? Hat es dir gut gethan?

Guten Abend, Balder, erwiederte Edwin. Oder vielmehr guten Morgen! Du siehst, ich betreibe Alles gleich gründlich, auch die Nachtschwärmerei. Aber ich sehe, Kind, ich darf dich nicht wieder allein lassen. Ich glaube wahrhaftig, du hast im Mondschein gelesen.

Das Gesicht des Liegenden überflog eine tiefe Röthe. Sei mir nicht böse, sagte er mit einer klaren, seelenvollen Stimme. Ich konnte nicht schlafen, und da das Licht ausgebrannt war und die Nacht so hell – aber nun erzähle, wie war's? Hat die Cur schon gewirkt?

Morgen, so viel du hören willst. Heute kein 18 Sterbenswort, und das zur Strafe für deinen Leichtsinn, dir die Augen zu verderben und den Kopf zu erhitzen. Weißt du, daß du wieder eine ganz glühende Stirn hast? – und er strich ihm mit zärtlicher Sorge über das weiche Haar. Ich werde dich beim Medicinalrath verklagen. Und vom Souper scheint auch keine Rede gewesen zu sein; da steht noch der Teller mit deinem Butterbrod.

Mich hungerte nicht, erwiederte der Jüngling und ließ den Kopf sacht wieder auf das Kissen sinken. Auch dachte ich, wenn du so spät nach Hause kämst und hättest vielleicht nach der ungewohnten Aufregung noch Lust, etwas zu essen –

Edwin trat mit dem Teller an das Bett. Wenn ich nicht ernstlich böse werden soll, du hinterlistiger Mensch, sagte er, so wirst du die Güte haben, dein Pensum auf der Stelle nachzuholen. Doch um es dir zu erleichtern, will ich die Hälfte auf mich nehmen. Himmel, was einem so ein ungehorsames Kind zu schaffen macht! Also brüderlich getheilt, oder ich verklage dich morgen bei Jungfer Regine, die wird dich schon zur Raison bringen.

Wieder übergoß eine lebhafte Röthe das Gesicht des Jünglings, aber Edwin that, als merke er es nicht. Er hatte sich auf das Bett gesetzt und fing an zu essen und dem Bruder von Zeit zu Zeit ein Stück in den Mund zu schieben, der es halb lachend geschehen ließ. Das Brod ist gut, sagte Edwin; die Butter könnte besser sein. Aber das ist Reginchens schwache Seite. Nun noch einen Trunk, so frisch unser Keller ihn hergiebt.

Er schenkte sich ein Glas voll Wasser und trank es 19 auf einen Zug aus. Balder, sagte er, ich kehre zur Wahrheit und Natur zurück, nachdem ich in Gefahr war, vom Luxus entnervt zu werden. Stelle dir vor, ich habe im Theater Eis gegessen! Es war nicht anders zu machen, die Andern thaten es auch, und ein Philosoph muß Alles kennen lernen. Uebrigens war es die fünf Groschen nicht werth, denn ich habe nichts Neues davon gelernt und nur den Kummer dabei gehabt, daß du es nicht essen konntest. Einmal und nicht wieder. Gute Nacht!

Während er sich auszog, sagte er: Dieser unverschämte Mond! Sobald wir etwas überflüssiges Geld haben, müssen wir uns Rouleaux anschaffen, daß man in solchen Nächten doch ein Auge zumachen kann. Uebrigens ist diese Beleuchtung noch immer bescheiden gegen so ein Opernhaus in Gala. Es überfiel mich, wie ich in die Loge trat, mit so dreister Gewalt, daß ich am liebsten gleich wieder hinausgeflüchtet wäre und den ganzen Spectakel draußen im Korridor mit erlebt hätte. Du kannst mir glauben, Kind, den eigentlichen und besten Genuß haben die Logenschließer. So draußen in den kühleren Gängen auf weichen Teppichen hin und her zu wandeln, immer das verstohlene Summen und Säuseln des Orchesters im Ohr, dazwischen dann und wann eine Kraftstelle mit Pauken und Trompeten, die durch die Mauern gedämpft wie ein melodisches Gewitter klingt, manchmal, wenn eine verspätete große Dame hineinrauscht, durch den Spalt der Thüre einen kurzen Blick in das Paradies von geschminkten Houris in Tricot und auf die 20 fabelhaften Sonnenauf- und Untergänge – wahrhaftig eine beneidenswerthe Lage gegen die Armen im Fegefeuer drinnen, die für ihr schweres Geld in Plüsch eingepfercht die Sünden des Herrn Taglioni abbüßen müssen und auf all ihre fünf Sinne zugleich wie mit Fäusten loshämmern lassen. Es wird eine Zeit kommen, wo man mit Schaudern von dieser Barbarei lesen und uns beneiden wird, daß unsre Nerven das ausgehalten haben.

Und doch bist du bis zu Ende geblieben?

Ich? Je nun – erstens, ich saß recht bequem – diese Fremdenloge, für die ich ein Billet hatte, ist ein kleiner Salon und war zufällig fast leer. Und dann – ich will doch aber jetzt das Fenster schließen. Es fängt an kühl hereinzuwehen, findest du nicht? Auch deine Freundin Miezica hat sich fortgeschlichen.

Balder schwieg, sah aber, während er die Augen scheinbar geschlossen hatte, unverwandt zu dem Bruder hinüber, der sich in der Zerstreuung nur halb ausgekleidet auf das Bette warf und das Gesicht gegen die Wand kehrte. Eine halbe Stunde verging so, ohne daß Einer von Beiden sich geregt hätte. Plötzlich wandte sich Edwin um, und seine Augen begegneten dem stillen, sorgenvoll auf ihn gerichteten Blick des Bruders.

Kind, sagte er, ich sehe, es geht nicht. Zum ersten Mal im Leben führen wir eine Komödie mit einander auf, ich wenigstens, indem ich etwas vor dir auf dem Herzen behalten möchte. Es ist eine rechte Narrheit. Wozu hat der Mensch einen Bruder, noch dazu einen, mit dem er so zu sagen verheirathet ist, als um Alles 21 brüderlich mit ihm zu theilen, nicht bloß das Butterbrod und was er sonst ißt, sondern auch was an ihm nagt. Ich werde mich zu dir setzen und dir beichten, was mir passirt ist. Eigentlich nichts Besonderes; schon mehr Leuten soll dergleichen begegnet sein, aber wenn man's an eigner Haut erlebt, zum ersten Mal – all unsre Schulweisheit, Horatio, läßt sich nicht träumen, was für ein sonderbar erfreulicher, unbequemer, lästiger, melancholischer, mit Einem Wort, verrückter Zustand das ist.

Er war vom Bett aufgesprungen und kauerte sich nun am Fußende von Balder's Lagerstatt nieder, halb sitzend, halb schief zurückgelehnt, dergestalt, daß er im Schatten blieb und von dem Bruder weg auf die Wand gegenüber sah.

Bereite dich darauf vor, Unerhörtes zu hören, sagte er jetzt, immer mit einem Ton, dem es anzumerken war, daß er sich Gewalt anthat, zu reden. Oder weißt du schon wieder einmal Alles, was ich dir sagen will, junger Hellseher? Um so besser! So wird meine Beichte dich langweilen, und es schläft dann wenigstens Einer von uns Beiden. Nämlich, Theuerster, es ist zwar lächerlich zu sagen, aber ich glaube, es ist dennoch nur allzu wahr: ich bin in dem Zustand, den mir unser Leibarzt an den Hals gewünscht hat, um den Teufel durch Beelzebub zu vertreiben, das heißt, ich bin verliebt, und so hoffnungslos, besinnungs- und vernunftlos, wie nur je eine unerfahrene junge Motte ins Licht geflogen ist.

Ich bitte dich, Kind, fuhr er fort, indem er wieder aufsprang und durchs Zimmer ging, höre nur erst, wie 22 das gekommen ist, um die ganze Größe dieses Wahnsinns zu ermessen. Du weißt, daß ich neunundzwanzig Jahre alt und dennoch von dieser Kinderkrankheit glücklich verschont geblieben bin. Es braucht ja auch nicht jeder Mensch den Scharlach zu kriegen. Was die gesunde und naturgemäße Anziehung des »ewig Weiblichen« betrifft, so war ich, als unsre geliebte Mutter starb, schon alt genug, um klar einzusehen, daß so Etwas, wie sie, schwerlich zum zweiten Mal auf Erden wandeln würde. Für die täglichen Lebens- und Liebensbedürfnisse – was so ein Menschenherz braucht, um die nöthige Blutwärme zu behalten, – nun, dafür war ja hinreichend gesorgt durch unsere brüderliche Liebe, von der miserablen, unliebenswürdigen und doch sehr liebebedürftigen Menschheit ganz zu geschweigen, die Unsereinen auch beständig in Athem hält. Und dann: sollte man ganz umsonst aus der Wissenschaft der reinen Vernunft seinen Lebensberuf gemacht haben, um dennoch wie jeder erste beste gedankenlose Muttersohn sich in das erste beste Weibergesicht zu vernarren, ohne einen andern zureichenden Grund, als daß der Blitz einschlägt, der Himmel weiß warum? Es scheint unmöglich; aber ich fürchte, ich habe das Unmögliche möglich gemacht.

Er setzte sich wieder auf das Bett, diesmal aber so, daß er Balder das volle Gesicht zukehrte. Ich erlaube dir, mich gründlich und ohne jede Schonung zu studiren, sagte er lächelnd. So also sieht ein Mensch aus, mit dem plötzlich die Elemente durchgehen, daß alle Besinnung, Weisheit, Stolz, und wie der Trödel sonst heißen mag, nichts hilft. Ich habe immer mit einem stillen 23 Schauder das Märchen vom Magnetberg gelesen. Als ein Junge dacht' ich, trotzig wie ich war: wenn ich nur auf dem Schiff gewesen wäre, ich hätte schon so viel Segel beisetzen, so viel Mann an die Ruder schicken und so steuern wollen, daß der Zauber mir nicht beigekommen wäre. Und so dacht' ich auch heute Abend noch, während der ganzen ersten Stunde. Dann aber –

Märchen noch so wunderbar,
Weiberkünste machen's wahr.

Das Steuer ist zerbrochen, die Ruder versagen den Dienst, und gerade das, was Stahl und Eisen in mir war, folgt am widerstandslosesten dem Zuge des Magneten und hilft erst recht mit, daß Kiel und Bord aus den Fugen gehen.

Er lehnte sich wieder zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Die Hand zitterte, auf der Stirn stand ein kühler Schweiß.

Nur Eines verstehe ich nicht, sagte Balder, indem er beiseit rückte, um dem Bruder Platz zu machen: warum soll das Alles hoffnungslos sein?

Höre nur zu, mein Knabe, und du wirst Alles begreifen, bis auf das Unbegreifliche, woran ich selber noch herumräthsle. Denn ich bin kein Maler und kann dir ein gewisses Gesicht nur in einem schlechten Schattenriß vorführen. Also ich trete in die Loge, die noch ganz leer war. Ich hoffte, sie würde es bleiben. In meinem Sommeranzug für vierzehn Thaler und ohne Handschuh kam ich mir nicht sehr gesellschaftsfähig vor, und der Logenschließer hatte mir auch einen Blick zugeworfen, als 24 wollte er sagen: Du gehörst wohl eher auf die Galerie hinauf, guter Freund, als in dieses Allerheiligste, wo ich sonst nur Leute aus der großen oder aus der halben Welt einlasse. Auch setze ich mich, so einfältig es sein mag, nicht gern auf einen Stuhl, der besser angezogen ist, als ich. Nun, der Schaden war einmal geschehen, ich beschloß, eine desto elegantere Haltung anzunehmen, wie ich sie bei Privat-Collegien an meinen jungen Diplomaten beobachtet und bisher immer für Narrenspossen gehalten hatte. So lege ich mich denn in einen Fauteuil recht engländermäßig zurück und blinzle halb auf die Bühne, halb ins Parquet. Es war, wie gesagt, ein solches Geschwirr und Geflirr da unten, die armen Geschöpfe in weißem Flor mit Gold und großen Blumenkränzen warfen ihre Arme und Beine so toll durch einander, und die Geigen tremulirten so wahnsinnig, daß ich schon dachte: wenn das eine Weile so fortgeht, gehst auch du fort.

Auf einmal wird die Logenthür aufgerissen, sperrangelweit, während ich mich durch eine bescheidene Spalte hindurchgedrückt hatte, und eine einzelne junge Dame rauscht herein, ein zwerghafter kleiner Bedienter in Livree und hohen Vatermördern, die dem Jüngelchen fast die großen rothen Ohren absägten, nimmt ihr eine Mantille von blauer Seide ab, der Logenschließer stürzt vor, schiebt mit einem verächtlichen Seitenblick auf mich den Sessel zurecht und legt diensteifrig einen Theaterzettel auf die Logenbrüstung. Die Dame sagt dem Kleinen ein halblautes Wort, dann setzt sie sich an den Eckplatz zunächst der Bühne, hebt einen winzigen Operngucker vor 25 die Augen und fängt an, ohne die mindeste Notiz von mir zu nehmen, sich mit voller Seele ihrem Kunstgenuß hinzugeben.

Ich sollte sie dir nun beschreiben. Aber das hat seine Schwierigkeiten. Entsinnst du dich des Pastellbildchens von der Dresdener Galerie, das ein Franzose gemalt hat, ich habe den Namen vergessen, – warte, ich glaube, er hieß Liotard – wir sahen eine Photographie davon in dem Schönheitenalbum des Medicinalraths, la belle Chocoladière stand darunter –? Nun, so ungefähr war das Profil, das da vor mir saß, und doch wieder himmelweit verschieden, viel zarter, schlanker, kindlicher; nicht das Prätentiöse und Kaltherzige, das jener Ladenmamsell durch ihre vielen Anbeter und die Routine im Herzenbrechen nach und nach das Gesicht zu reinem Alabaster gemacht hat. Aber der Schnitt des Näschens, die langen Wimpern, der stolze kleine Mund – basta, deine Phantasie wird schon nachhelfen.

Nun, die erste Viertelstunde ging ganz leidlich vorüber. Nur daß ich vom ersten Augenblicke an nichts Anderes mehr sah, als meine Nachbarin, die mir von ihrem Gesicht nur ein schmales Viertel, reizend wie eine kleine Mondsichel zu sehen gab. Dafür konnte ich mich desto mehr mit ihrem dunkelbraunen Haar beschäftigen, das ganz ohne besondern Aufputz in einem dicken Scheitel über die silberweiße glatte Stirne ging und hinten mit ein paar Korallennadeln einfach aufgesteckt war, förmlich italienisch. An dem blassen Hälschen darunter kamen einige krause Löckchen hervor, die mir da hinten einen sehr 26 beneidenswerthen Platz zu haben schienen, obwohl sie im Schatten blieben. Wie die Toilette war, ob nach der neuesten Mode und nach Frauenbegriffen untadlig, kann ich dir nicht berichten; mir fehlen die technischen Vorkenntnisse dazu. Aber ein gewisser Instinct sagte mir, daß es nichts Geschmackvolleres geben könne, nichts Vornehmeres in aller Einfachheit; und an der ganzen reizenden Person nicht das Geringste von Schmuck, nicht einmal Ohrringe, das Kleid oben am Halse mit einem kleinen Sammetschleifchen geschlossen, ohne Broche. Die Hände, die das Opernglas hielten, ganz winzige Kinderhände, steckten in lichtgrauen Handschuhen; ob sie Ringe trug, konnte ich also nicht sehen.

Ich hatte gemerkt, daß ein allgemeines Aufsehen entstand, als sie in die Loge trat. Hundert Operngucker richteten sich sofort auf sie, und selbst die erste Solotänzerin, die eben ihre luftigsten Sprünge machte, verlor eine Weile die Alleinherrschaft über ihre Bewunderer. Meine Schöne aber schien diese Huldigung sehr kalt zu lassen. Sie verwandte keinen Blick von der Bühne, mit einem Ernst, einer Andacht, die etwas Rührendes und Drolliges zugleich hatten. Auch als der erste Akt zu Ende war und nun ein wüthender Applaus losbrach, war es allerliebst anzusehen, wie sie den Operngucker eilig hinlegte, um mitzuklatschen, mehr wie ein Kind, wenn es noch ein Biscuit haben möchte und »bitte, bitte!« macht, als wie eine vornehme Beschützerin der schönen Künste, die sich einmal herabläßt, in den Beifall des süßen Pöbels miteinzustimmen. 27

Sie hatte ihr Schnupftuch fallen lassen, ein schneeweißes, spitzenbesetztes Läppchen von Spinneweb, das man bequem in einer Nußschale untergebracht hätte. Ich hob es eilig auf und überreichte es ihr, indem ich ein paar nicht eben geistreiche Worte stammelte. Sie sah mich, ohne eine Miene zu verziehen, mit einem Gesicht an, wie eine Prinzessin, und nickte gnädig Dank. Ein Wort wurde nicht an mich gewendet. Dann nahm sie den Gucker wieder vors Gesicht und widmete sich durch den ganzen Zwischenakt, wie es schien, eifrigen Toilettenstudien. Wenigstens observirte ihr Glas sehr lange die Loge gegenüber, die ganz voll Damen war.

Ich hätte Viel darum gegeben, ihre Stimme zu hören, schon um zu wissen, ob sie eine Fremde war. Aber so sehr ich mein Gehirn zermarterte, es wollte mir auch gar nichts einfallen. Uebrigens sah sie ganz danach aus, als ob sie nach der ersten Freiheit, die ich mir ihr gegenüber nehmen möchte, mit einem durchbohrenden Blick aufstehen und mich allein lassen würde.

Eben arbeitete ich an einer recht hübschen Bemerkung über das Ballet im Allgemeinen und das heutige im Besonderen, als der Zwischenakt zu Ende war und sie sich nun wieder völlig in das Spectakel unten vertiefte.

Ein Gedanke blitzte mir durch den Kopf, der, wie du gestehen wirst, mir alle Ehre machte, aber leider erfolglos blieb. Ich verließ die Loge, aß draußen das schon erwähnte Eis, und während ich, mir den Bart wischend, wie gelangweilt von der Komödie im Corridor 28 noch ein paar Mal auf und ab schlendere, frage ich so verloren den Logenschließer, ob er die Dame kenne, die in der Fremdenloge sitze. Er behauptete aber, sie zum ersten Mal zu sehen. Die Oper sei heute nach den Ferien mit dem neuen Ballet wieder eröffnet worden. – So zog ich unverrichteter Sache ab und ging auf meinen verlorenen Posten zurück.

Ich fand inzwischen meinen Platz besetzt; ein sehr geputztes ausländisches Paar, Amerikaner oder englische Nabobs, die ganz von Juwelen starrten, hatte sich auf den besten Plätzen neben der Schönen breit hingepflanzt. Im ersten Augenblick war ich Willens, mein älteres Recht geltend zu machen. Dann aber war es mir ordentlich lieb, im dunkeln Winkel zu stehen und von der ganzen eleganten Abgeschmacktheit rings um uns nichts zu sehen und zu hören, sondern mich nur mit der reizenden Kopfform, dem Hälschen mit den krausen Löckchen darüber, den schlanken Schultern und einem kleinen Streif des süßen Gesichts zu beschäftigen. Ich hörte, wie der Herr in gebrochenem Französisch sie anredete. Sie antwortete ohne Verlegenheit, mit dem besten Pariser Accent. Nun wußte ich, was ich wissen wollte. Also eine Erbfeindin in jedem Sinne des Worts! –

Wenn ich dir sage, Bruder, daß ich die zwei folgenden Stunden wie eine Bildsäule gestanden und nichts gedacht habe, als, wie man neunundzwanzig Jahre alt werden kann, eh man begreift, was es mit der alten Legende von der Schlange im Paradiese auf sich hat – so wirst du mich für halbtoll halten. Du thust mir 29 Unrecht, Liebster: ganz toll war ich, ein abschreckendes Beispiel von der Hinfälligkeit aller männlichen Tugenden. Ich bat es Vater Wieland hundertmal ab, daß ich ihn einen armseligen Weiberknecht gescholten, weil er seine griechischen Weisen mit all ihrer Seelenstärke und stoischen Würde zu Schanden werden läßt an dem Lächeln einer Laïs oder Musarion. Hier wurde nicht einmal gelächelt, keine Verführungskünste kamen ins Spiel – und ein armer Privatdocent der Philosophie streckte auf Gnade und Ungnade die Waffen, weil ein hoffährtiges kleines Näschen, ein paar schwarze Augenwimpern und dito krause Löckchen nicht die geringste Notiz von ihm nahmen.

Du sollst aber schlafen, Kind; ich will's kurz machen. Es ist ohnehin langweilig genug für jeden Dritten. Fünf Minuten vor dem letzten Fallen des Vorhangs stand sie auf, es hatte leise an der Logenthür geklopft; als sie an mir vorbeihuschte, fühlte ich einen elektrischen Schlag bis in die Fußspitzen, das war mein Glück, sonst hätte ich mich aus meiner Versteinerung schwerlich so rasch wieder herausgerissen, um ihr folgen zu können. Draußen stand der Gnom mit den Vatermördern und dem semmelfarbenen, gescheitelten Kindskopf, das blaue Kapuzenmäntelchen überm Arm, mit großen, respectvollen Augen sie anstarrend. Sie warf rasch, fast ohne seine Hülfe, obwohl er sich auf den Zehen streckte, die luftige Hülle um, zog die Kapuze über den Kopf und eilte der Treppe zu, das Jüngelchen hinterdrein, meine Wenigkeit desgleichen. Jeder, an dem sie vorbeikam, stutzte und sah ihr mit erstaunten Augen nach. Ich hatte meine 30 Schadenfreude daran, daß ich nicht der Einzige war, dem etwas so Menschliches passirte.

Unten am Eingang harrte ein eleganter Wagen, der Kammerzwerg öffnete den Schlag, machte einen mißglückten Versuch, seine Herrin hineinzuheben, schwang sich dann hinten auf, und fort saus'te die Equipage, ehe ich so viel Besinnung hatte, in eine Droschke zu springen und auf ihrer Fährte nachzujagen.

Es ist vielleicht besser so! dacht' ich, wie ich nun wieder mit mir allein war. Wohin sollte es führen? – Und nun bemühte ich mich, wieder Philosoph zu werden, und zwar in des Worts verwegenster Bedeutung, nämlich Privatdocent der Logik und Metaphysik, ein vom Staate mit der Erlaubniß, sub specie aeterni zu verhungern, gnädigst ausgestattetes Individum, dem, wenn es sich in Prinzessinnen vernarrt, die venia legendi entzogen werden sollte, da es den Beweis liefert, daß es von der Weltweisheit nicht einmal die ersten Elemente begriffen hat.

So, und da hast du die ganze Geschichte. Ich hoffte, ich würde dich damit verschonen können, der Spuk würde mir endlich aus den Gedanken kommen, wenn ich das aufgeregte Blut durch ein paar Stunden Hinundherlaufen in der Nachtluft wieder zur Raison gebracht hätte. Es ist mir leider nicht gelungen. Die Linden schwärmten von verliebtem Volk, Musik, wo man hinhörte, ein so hitziges Sternschießen quer über den ganzen Himmel, endlich der sentimentale Mondschein, der vollends Alles aus Rand und Band brachte – meine letzte 31 Hoffnung ist der Schlaf, der mir schon so manches Fieber aus den Nerven gespült hat. Siehst du, da geht auch eben der Mond hinters Dach, unsere Nachtlampe lischt aus, man kann versuchen, ob man endlich zur Ruhe kommt.

Er erhob sich langsam, wie Jemand, der seine Glieder nur mit Mühe regieren kann, von dem Bett des Bruders, strich dem Schweigsamen noch einmal mit der Hand liebkosend über die Wange und sagte: Ich kann nichts dafür, Kind, wahrhaftig, ich hätte es gerne für mich behalten, denn ich weiß, du nimmst dir meine Angelegenheiten immer mehr zu Herzen, als ich selbst. Aber die verwünschte Angewohnheit, Alles mit dir zu theilen! Na, es ist nicht so schlimm. Morgen stehen wir ganz vernünftig und geheilt auf, und wenn noch etwas nicht in Ordnung sein sollte, – wozu hat Vater Kant den schönen Tractat geschrieben »von der Macht des Gemüths, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein«?

Er beugte sich herab und berührte leicht mit seinen Lippen die blasse Stirn des Jünglings. Dann warf er sich auf sein Bett. Vom Hof klangen noch ein paar Accorde herauf. Auch das verhallte jetzt, und nach einer Viertelstunde hörte Balder an den ruhigen Athemzügen ihm gegenüber, daß Edwin wirklich eingeschlafen war. Er selbst lag noch lange mit offenen Augen und sah still die Maske des Gefangenen auf dem Ofen an, in Gedanken, die einstweilen sein Geheimniß bleiben mögen. 32



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