Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Achtes Kapitel.

So hatte er sie nun verloren! – seine tapfere kleine Frau – seinen guten Kameraden – seine verstehende, in all seinem Sinnen und Denken, Fühlen und Wollen heimische Freundin! Die rechte Hand sollte sich ohne die linke behelfen, der volle, ganze Mensch war zu einem kümmerlichen Ueberbleibsel, einem nothdürftig zusammenhaltenden Trümmerwerk geworden.

Es war so plötzlich gekommen, so unerwartet, daß in der ersten Stunde die Betäubung das Schmerzgefühl fast verschlang. Wenn ihm je etwas Irdisches sicher und unerschütterlich schien, so war es der Besitz dieses Herzens gewesen. Die geheime Furcht, die sich in das leidenschaftlichste Liebesglück einschleicht, daß eine solche Uebermacht der Empfindung von ihrer Höhe herabsinken und dem gemeinen Loos des Wechsels verfallen könnte, war seiner Seele immer fern geblieben. Er hatte nie mit Angst und Zweifeln um die Liebe dieser Frau sich bemüht; sie war ihm lange gewiß, eh er es ahnte; wie sollte ihm der Gedanke kommen, daß es je anders werden könnte? Und nun hatte sie sich von ihm gewendet! 280

Keine Regung des Vorwurfs, der Bitterkeit, daß sie gerade jetzt, wo er sie mehr als je bedurfte, ihm fehlen konnte, stieg in ihm auf. Er hielt sie zu hoch, um sie einer kleinen Empfindlichkeit, einer gewöhnlichen Weiberschwäche fähig zu glauben: daß sie etwa gegangen wäre, »um sich vermissen zu lassen«. Wenn sie fühlen konnte, daß ihre Stelle nicht mehr neben ihm sei, mußte sie gute Gründe gehabt haben, Gründe, die nicht bloß vor ihrem schwergeprüften Herzen, sondern auch vor ihrer Vernunft Stich hielten. Was das für Gründe sein mochten, war ihm, so gut er sie kannte, nicht klar. Kannte sie nicht auch ihn und wußte, daß er nie von ihr lassen würde? Aber er wußte auch, Wen sie gesehen hatte. Und daß dieser Besuch bei ihrem plötzlichen Entschluß den Ausschlag gegeben, stand ihm völlig fest.

Was es aber auch sein mochte – er hatte sie verloren! Zwar – mitten in seiner tiefen Herzensnoth tröstete ihn eine dunkle Stimme in seinem Innern: es sei nicht möglich, nicht denkbar, daß er sie für immer verloren haben könne. Wenn sie geahnt hätte, wie er heute schon zu ihr zurückkehren würde, wie schauerlich ihn das öde Haus umgeben, wie schlaflos diese Nacht werden mußte – vielleicht wäre sie geblieben. Und es konnte nur eines Wortes, eines Blickes von Auge in Auge bedürfen, um alle Gespenster, die sich zwischen sie gedrängt, für immer zu bannen. Aber wenn sie dann auch mit ihm zurückkehrte – heute fehlte sie ihm, und gerade heute hatte er den langen Tag sich ihr entgegengesehnt, 281 wie nie, und die Stunden dieses Tages nur ertragen, weil er wußte, die letzte würde ihn in ihre Arme führen.

Seltsam, mitten im bittersten Entbehren und Vermissen wurde es auf einmal hell und still in ihm. Denn so ist die Kraft einer wahrhaft den Menschen ausfüllenden edlen Liebe, daß sie in ihrer glorreich aufflammenden Glut alle andern Empfindungen verzehrt und selbst bei Versagung des Geliebten, bei Verzicht auf das Glück der Nähe und Erwiederung den Menschen, dessen Wesen sie durchlodert, selig macht. Alles Glück, das Edwin in diesen vier Jahren ruhigen Besitzes genossen, erschien ihm als eine blasse Dämmerung gegen die Sonnenhelle, die ihn plötzlich in der Trennung verklärte. Zum ersten Mal war er in allen Tiefen seines Wesens von dem Gefühl durchdrungen, daß er die ganze Welt hingeben würde, um dieses Weib wieder sein zu nennen.

Mit der trunkenen Beklommenheit eines verliebten jungen Menschen, der von dem Ziel seiner Sehnsucht noch himmelweit entfernt ist und sich einstweilen durch die Kühnheit seiner wachen Träume für alle Entbehrung entschädigt, rief er die geliebte Frau zu sich her und sagte ihr tausend verwirrte, selige, süße und traurige Dinge. Er warb um sie, wie wenn sie ihm nie ein gutes Wort gegönnt hätte, er stammelte seine Sehnsucht ihr ins Ohr und wartete mit Herzklopfen auf einen Laut von ihren Lippen, der ihn begnadigte. Auf dem Tisch vor dem Sopha, wo er noch immer im Dunklen lag, stand ihr Arbeitskörbchen. Gerade wie sie sich mit seinem Buch, seiner Feder zu schaffen gemacht hatte, nahm nun er die 282 kleinen Knäule mit Seidenfäden, den silbernen Fingerhut und das Scheerchen eines nach dem andern heraus und spielte damit; den Fingerhut hatte er angesteckt und drückte ihn an die Lippen. Es war ihm so tröstlich, Etwas, das ihr gehört hatte, berühren zu dürfen; als wären es Pfänder, die sie ihm auslösen würde, wenn er sie selbst wieder hätte. Nach Berlin! sagte er plötzlich vor sich hin. Warum sollen wir auch nicht einmal wieder hin? – Er sagte »wir«, als würden sie morgen zusammen die Reise machen. Daß sie nicht neben ihm saß, war ihm in diesem Augenblick ganz entfallen.

So lag er in seinem dunkeln Sophawinkel zwischen Traum und Wachen, und die Bilder all seines vergangenen Glücks und all seines künftigen gingen an ihm vorüber. Er war so in sich versunken, daß er es überhörte, wie es draußen auf der Straße lebendig wurde, ein wunderliches Summen und Surren, wie von einem großen Menschenschwarm, der sich verstohlen heranbewegt und Tritte und Stimmen dämpft, um ein heimliches Vorhaben nicht zu verrathen. Es mochte neun Uhr sein, eine Stunde, in der ein solches Zusammenrotten in der kleinen Stadt, außer bei Feuersgefahr, unerhört war. Jetzt fiel der Schein einiger hin und her wankender Lichter in das dunkle Zimmer und schien sich vor dem Hause festzusetzen. Aber noch immer hatte der Träumer drinnen kein Arg. Erst als es wieder ganz still geworden war und jetzt ein leiser zweistimmiger Gesang draußen auf der Gasse anfing, fuhr Edwin in die Höhe. Was war das? Wer singt da draußen diese 283 wohlbekannte schöne Melodie, die er nie ohne tiefe Erschütterung hören konnte, seit sie damals seinem Balder den letzten Gruß der Freunde in die ewige Ruhe nachgerufen hatte? Integer vitae – da erklang es wieder, von jungen, frischen Stimmen vor seinem Hause gesungen, ein Gruß des Lebens an den Lebenden. Er horchte zuerst ohne darüber nachzugrübeln, wie es wohl komme, daß die alte Weise gerade jetzt draußen angestimmt wurde. Ihr Wohllaut drang ihm so sanft ans Herz, und die Worte, die er auswendig wußte und zum Ueberfluß deutlich vernahm, schienen ihm wie der freundliche Zuspruch eines guten Geistes, der ihm nahe verwandt war. Erst bei der vierten Strophe erhob er sich sacht und trat an das geschlossene Fenster. Da sah er die Straße Kopf an Kopf mit Menschen gefüllt, die alle das Gesicht ihm zugewendet hatten, ohne ihn auf dem dunklen Hintergrunde auch jetzt noch zu bemerken; denn der Ausdruck der Erwartung, der auf allen lag, veränderte sich nicht, als er sich näherte. In der Mitte standen die Sänger, Schüler seines Gymnasiums aus den oberen Klassen, sein College, der Gesanglehrer, vor ihrem dichtgedrängten Halbkreis, beim Schein einiger Windlichter so eifrig den Tact schlagend, als ob es eine solenne Musikaufführung in der Aula gelte. Unter den Zuhörern aber erkannte Edwin viele von den angesehensten Bürgern der Stadt, den Vorstand des Arbeitervereins und einige andere Freunde und Nachbarn und konnte nicht länger im Zweifel darüber sein, daß ihm dies Ständchen gelte, eine Entdeckung, die ihn, selbst in 284 seinem dunklen Versteck, bis an die Schläfen erröthen machte.

Was bewog diese guten Leute, von denen er wohl wußte, daß sie seine Freunde waren, es gerade heut und auf diese Weise ihm auszusprechen? Wer hatte diese stille Verschwörung angezettelt, so heimlich, daß selbst Franzelius nichts davon erfahren, der ihn sonst doch wohl vorbereitet haben würde?

Eben beschloß er, den einfachsten Weg zur Lösung des Räthsels zu wählen, hinauszugehen und selbst nachzuforschen, als die Thür behutsam aufgeklinkt wurde und einer seiner jüngeren Collegen, der Geschichtslehrer des Gymnasiums, mit einem Freudenruf in das dunkle Zimmer trat. Also sind Sie doch zu Hause! rief er, Edwin lebhaft die Hand drückend. Wir fürchteten schon, wie es hier finster blieb, der Pedell möchte sich geirrt haben, der fest behauptete, er hätte Sie mit dem Abendzug zurückkehren sehen. Daß Sie heute ganz früh wieder fortgereis't waren, hatte man freilich herausgebracht. Nun wurde natürlich das Ständchen verschoben. Aber wie Sie wiederkamen, war kein Halten mehr; in der Eile wurden alle Betheiligten zusammengetrommelt, und nun hilft Ihnen Nichts, Sie müssen aus Ihrem Versteck heraus und sich den Leuten zeigen, wenn es auch, was die Reden betrifft, unter den obwaltenden Umständen nicht bei dem alten Programm hat bleiben können.

Er theilte dem Staunenden nun in der Eile mit, wie sich Alles zugetragen. Das Gerücht, daß Edwin 285 entlassen werden sollte, wegen seines Vortrags im Arbeiterverein und seiner nie verleugneten freien Richtung, war trotz des Amtsgeheimnisses unter die Schüler gedrungen, die mit Leib und Seele an ihm hingen, und hatte sich durch diese Kanäle in die Kreise der Bürger und Arbeiter fortgepflanzt. Sofort war der Gedanke aufgetaucht, durch eine feierliche Demonstration der Gefahr, den theuren Lehrer und Freund zu verlieren, womöglich vorzubeugen. Wenn die Stadt ihren einmüthigen Willen an den Tag legte, sich Edwin nicht nehmen zu lassen, werde man höheren Orts vielleicht stutzig werden. So war ganz in der Stille eine Adresse vorbereitet worden, mit einem Fackelzug sollte sie dem Gefeierten überreicht und der Festabend durch ein Mahl im Bürgerverein beschlossen werden. Von alle Dem war so viel zu dem Rector des Gymnasiums durchgedrungen, daß er in der Angst vor Aergerniß nach unten und oben nichts Klügeres zu ersinnen wußte, als durch den Telegraphen bei seiner vorgesetzten Behörde um Verhaltungsmaßregeln zu bitten. Sobald er die Antwort hatte, ließ er die Rädelsführer unter den Schülern zu sich kommen und eröffnete ihnen, es sei durchaus nicht die Absicht, ihnen ihren Lehrer zu nehmen, nur müsse Alles vermieden werden, was Aufsehen machen und die kirchliche Behörde reizen könnte. Von einem Fackelzug und anzüglichen Ansprachen schriftlich oder mündlich könne nicht die Rede sein, dies sei die Bedingung ferneren guten Einvernehmens, das Niemand erwünschter wäre, als 286 ihm, da er selbst für den verehrten Collegen, um den es sich handle, die größte Hochachtung fühle.

So haben wir uns denn wohl oder übel dazu bequemen müssen, werther Freund, Ihnen nur ein paar Lieder vorzusingen, schloß der junge Mann. Möglich, daß auch das unserm Hauptpastor Götze die Nachtruhe raubt. Aber warum mischt er sich in unsere Angelegenheiten und turbirt unsere Cirkel? Schlimm genug, daß die Jungens nun einmal mit Handschlag gelobt haben, nichts weiter zu unternehmen. Unser kleiner Primus hatte eine Rede ausgearbeitet, die bewiesen hätte, daß er seinen Thucydides mit Nutzen gelesen. Und so singen, dünkt mich, hätt' ich sie auch noch nie gehört!

Edwin drückte dem Freunde statt aller Antwort die Hand und trat dann mit ihm aus dem Hause auf die Straße hinaus, wo das erste Lied eben zu Ende gesungen war. Alle, die da versammelt waren, entblößten das Haupt, als sie ihn erblickten, und man schien zu erwarten, daß er eine Rede halten würde. Er ging aber nur auf den alten Musiklehrer zu, schüttelte ihm mit ein paar herzlichen Worten die Hand und umarmte dann den Primus. Wir kennen uns, meine jungen Freunde, sagte er zu den Uebrigen; wir wollen auch in Zukunft treu zusammenhalten, und daß ihr mir gerade dieses Lied gesungen habt, werde ich als eine meiner besten Freuden ewig im Gedächtniß behalten. Ich sage euch ein andermal, warum. Hier aber sind noch andere Freunde, denen ich danken muß. Bester Herr Wolfhart, redete er einen alten, weißhaarigen Tischlermeister an, auch Sie haben 287 sich hierher bemüht, mir eine Liebe und Ehre anzuthun, obwohl Sie, wie ich weiß, nicht gut zu Fuße sind! Wie soll ich Ihnen dafür danken – und Ihnen – und Ihnen Allen! Nun, ich denke, der schöne Gesang unserer wackeren Jugend wird Ihnen die Mühe vergüten, besser als ich es könnte, wenn ich Ihnen eine lange Rede hielte. Zwar, ich hätte Ihnen Allen Manches zu sagen, aber die Straße ist nicht der rechte Ort dazu, und wir treffen uns schon wieder an einem gelegneren. Daß Sie ein gutes Zutrauen zu mir haben und wissen, ich meine es ernst und ehrlich und es mache mir Nichts größere Freude, als brüderlich, was ich habe, mit Gleichgesinnten zu theilen, das danke ich Ihnen herzlich und hoffe, es soll immer so bleiben. Und nun wollen wir unsere Sänger bitten, uns noch mit ein paar Liedern das Herz zu erfreuen.

Während jetzt der Gesang wieder anhob, drängten sich Viele zu Edwin heran, drückten ihm die Hand und flüsterten ihm zu, wie sehr sie sich dieser Gelegenheit freuten, ihm einmal zu zeigen, was man auf ihn halte, und wie der Gedanke, ihn zu verlieren, Alle wahrhaft erschreckt habe. Er nahm diese Freundschaftsbezeigungen in seiner schlichten Art entgegen, antwortete nur wenig und wehrte, so gut er konnte, die Eifrigen ab, indem er that, als ob er andächtig dem Gesang zuhöre. Im Innersten aber war er wunderlich bewegt, zugleich ergriffen von dieser schönen und herzlichen Feier, und mitten in der Freude tiefbetrübt, daß er sie ohne Die hinnehmen mußte, die am tiefsten mit seinem Leben verflochten war. 288 Mehr und mehr versank er in diesen Kummer, der ihn für Alles, was um ihn her vorging, unempfindlich machte. Als die letzten Töne verhallt waren und jetzt das dunkle Gewühl sich still verlief, die Sänger sich noch einmal von ihm verabschiedeten und diejenigen seiner Collegen, die an der Ovation sich zu betheiligen gewagt, mit einer letzten Gutenacht ihn an die Thür seines Hauses zurückbegleitet hatten, trat er in einer so dumpfen Niedergeschlagenheit über die verödete Schwelle, als wäre ihm statt alles Erfreuenden ein schweres Leid geschehen und es graue ihm davor, daß er nun in der langen Nacht mit seinem Schmerz allein bleiben solle.

Wieder warf er sich auf das Sopha, aber die selige Gewißheit des Glücks, in der er vorhin hier geruht hatte, war entflohen. Nie hatte er es klarer empfunden, daß er ein für alle Mal die Fähigkeit verloren hatte, eine Freude zu genießen, die sie nicht mit ihm theilte, daß sein Wohl und Wehe an die Gemeinschaft mit diesem seinem andern Ich unabänderlich geknüpft war, daß schon der bloße Gedanke, sie verlieren zu können, ihm jeden Aufschwung der Seele niederschlug.

Da plötzlich war es ihm, als höre er einen leichten Schritt draußen in der Gasse herankommen – und jetzt trat es auf die Stufen – schien vor der Hausthür, die nur angelehnt war, einen Augenblick zu zögern – und kam dann durch den dunklen Flur herein – ein Schritt, den er so gut kannte! – aber nein, unmöglich! Sie ist ja fern – sollten seine Gedanken die Macht gehabt haben –? – und doch – eine Hand faßt draußen 289 nach dem Thürgriff – mit stockendem Herzschlag fährt Edwin in die Höhe und will eben rufen: Wer ist da? und sich darein finden, ein fremdes Gesicht eintreten zu sehen – da öffnet sich die Thür, und sie, die Alles, was sich eben vor ihrem Hause zugetragen – mit welchen Gefühlen! – von fern und unerkannt unter der Menge stehend miterlebt und nicht früher sich zu nähern gewagt hatte – sie steht, stumm und am ganzen Leibe zitternd, wie eine Missethäterin, die sich selbst ihrem Richter stellt, an der Schwelle ihres Zimmers, das sie mit so verstörter Seele verlassen hatte.

Im nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen. Wie außer sich von dem Uebermaß des unverhofften Glückes hob er die wankende Gestalt auf und trug sie mehr, als daß er sie führte, nach dem Sopha.

Lea! rief er, du – du leibhaftig – an meinem Herzen wieder – ich halte, ich fühle dich – komm – sage ein Wort, fasse dich – o du weißt nicht, was du mir damit angethan hast, daß du nicht fortgereis't bist!

Sie hatte sich von ihrer Verwirrung inzwischen erholt und war nur noch unfähig, ein Wort hervorzubringen. Er aber – Alles was er vorhin in Gedanken gesagt hatte, seine ganze zu heller Leidenschaft aufgewachte Liebe, sein Werben um ihr Herz, seine Bräutigamsangst und Wonne sprach er nun vor ihr aus, ihre Hände, ihre Wangen, den stillen Mund, nach dem ihn so sehnlich verlangt hatte, wieder und wieder mit den bebenden Lippen suchend. Und nun bist du da! rief er; nicht vor mir geflohen, hast nicht mich armen Hülflosen in 290 meiner Noth allein gelassen – nein, mein treues, tapferes Weib, nun erst ganz mein und schöner und seliger als jemals – und alle Götzenbilder, die ich neben dir hatte, in Staub und Trümmer zerfallen für ewige Zeiten!

Sie machte sich plötzlich von ihm los.

O Edwin, flüsterte sie, du machst mich selig und elend zugleich. Du weißt nicht – ich bin ein schlechtes Weib – klein und feige und nicht werth, daß du mich so vergötterst. O das, das noch sagen müssen – aber es hilft nichts – ich darf keine Lüge zwischen uns lassen – du mußt mich sehen, wie ich bin – wenn du dann auch die Schätze wieder zurücknimmst, die du mir eben in den Schooß geschüttet hast!

Sprich, wenn es sein muß, sagte er mit seinem fröhlichsten Lächeln. Ich bin neugierig, wie weit ein Mensch, der einem andern eben das Leben gerettet hat, es in der Kunst bringen kann, sich hassenswürdig zu zeigen.

Er hielt ihre Hände fest, sie aber glitt vor ihm auf den Teppich nieder und beichtete, wie eine große Sünderin auf den Knieen, Alles, was wir bereits wissen. Er ließ sie reden und warf nur dann und wann ein ironisches Wort oder ein muthwilliges Auflachen dazwischen. Bist du nun fertig? fragte er, als sie schwieg.

Sie nickte und machte noch immer keine Anstalten, sich aufzurichten.

Deine Sünden sind schwer! sagte er. Vor Allem die eine: daß du einem fremden Manne, wenn es auch ein Freund war, dem ich alles Beste gönne, den Kuß gegeben hast, den ich heute früh selbst mit auf den Weg zu 291 nehmen so schmählich versäumt habe. Indessen – in Anbetracht, daß auch ich aus dem Zauberschloß nicht ganz sündlos entronnen bin – sei dir nur die Buße auferlegt, daß du in Zukunft, wenn du deinen eigenen Mann zu küssen wünschest, nie glaubst, eine solche Thorheit schicke sich nicht für denkende Wesen, die eine Vernunftehe geschlossen, sondern deinem Herzen alle süße Unvernunft erlaubst – wie jetzt in dieser Stunde. Lea – hat es je glücklichere Menschen gegeben?

Ich fürchte, ich überleb' es nicht! – hauchte sie an seinen Lippen. Dann, sich seiner Umarmung entziehend: Du zerbrichst mich, sagte sie. Und du mußt mich jetzt sanft anfassen – nicht um meinetwillen – – Edwin, du weißt ja noch nicht, ich – ich trage ja noch ein anderes Leben in mir! – –

Diese Erde hat Freuden, die von keinen himmlischen zu überbieten und von keiner Menschenzunge auszusagen sind. 292



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