Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Drittes Kapitel.

Als Edwin bald darauf nach Hause kam und an Christianens Thür vorbei, hinter der er laut und lebhaft sprechen hörte, die dunkle Hühnerstiege hinaufkletterte, war es ihm lieb, in der Tonne weder Mohr's, noch Franzelius' Stimme zu vernehmen. Er brannte nach einer vertraulichen Stunde mit seinem Bruder. Um so unwillkommener überraschte es ihn, Balder dennoch in der gewohnten täglichen Gesellschaft zu finden. Mohr saß ihm gegenüber vor dem Schachbrett, das sie auf eine Ecke der Drechselbank gestellt hatten, um den letzten Tagesschein sich noch zu Nutze zu machen. Er hatte eine Flasche Rheinwein, von dem er einen kleinen Vorrath in dem Keller des Hauses niedergelegt hatte, um nicht auf Kosten der Brüder hier seinen Abendtrunk zu halten, neben sich auf dem Fensterbrett stehen und schien von Wein, Schachspiel und dem Dampf seiner Cigarrette so benommen, daß er Edwin's Eintritt kaum bemerkte. Franzelius saß mitten im Zimmer rittlings auf einem Stuhl, auf dessen Lehne er die breiten Hände gelegt und das Kinn darauf gestützt hatte, während seine finsteren Augen 242 unverwandt nach der Büste des Demosthenes auf dem Büchergestell hinaufstarrten. Auch er wendete kaum den Kopf nach dem Eintretenden, und der Gruß, den er ihm gönnte, klang mehr wie das Knurren eines Hofhundes, als wie ein menschlicher Laut.

Edwin war nicht besser zum Sprechen aufgelegt. Er stand einen Augenblick hinter dem Stuhl des Bruders, strich ihm ein paar Mal mit der Hand über das dichte Haar und trat dann an sein Pult, wo er scheinbar in Zeitschriften zu lesen anfing. Nur einmal wandte er sich zu den Spielenden um und sagte: Es wäre wohl besser, Heinrich, du opfertest deinen Latakia, der entsetzlich qualmt, auf dem Altar der Freundschaft. Die Zeit der offenen Fenster ist vorbei, und Balder hat schon dreimal gehustet.

Mohr öffnete augenblicklich das Fenster und warf die Cigarrette in den Hof.

Dann schwiegen sie wieder alle Vier, bis Balder aufstand und sagte: Mehr als fünfmal matt zu werden, kann man einem hölzernen König nicht zumuthen. Es ist überhaupt eine hoffnungslose Sache, sich mit dir einzulassen. Du bist Meister.

Daran bin ich was Rechts! lachte Mohr verächtlich auf, indem er die von Balder gedrechselten Figürchen in die Schachtel warf. Meister in einer Kunst, in der gerade die mittelmäßigsten Köpfe oft die größten Virtuosen sind. Ja es ist noch die Frage, ob das Schachtalent nicht überhaupt eine Art Krankheit ist, eine Hypertrophie des Combinationssinns. Siehst du, Edwin, ich z. B. 243 – wenn ich an diesem Organ ganz normal wäre, hätte ich's im Drama weiter gebracht. Ich plane euch die schönsten Schachaufgaben durch fünf Akte zusammen, und wenn ich's hernach bei Lichte besehe, sind's eben nur Holzfiguren, keine lebendigen Geschöpfe. Basta! Ich gelobe hiermit, vier Wochen lang keinen Springer und Läufer anzurühren, bis ich mein Lustspiel im Reinen habe.

Er leerte sein Glas und goß dann den Rest der Flasche langsam hinein. Uebrigens guten Abend, Edwin! sagte er. Wir haben lange nicht das Vergnügen gehabt, dich hier zu sehen. Auch heute scheinst du, gleich unserem Volksbeglücker, der noch keine zehn Worte gesprochen hat, mit deinen Gedanken nicht gerade in der »Tonne« zu verweilen.

Der Buchdrucker stand mit einem heftigen Ruck von seinem Reitsitz auf, fuhr sich mit beiden Händen durch das buschige Haar und sagte: Es ist wahr: ich bin selbst am klarsten darüber, daß ich längst dahin gekommen bin, hier ein überflüssiger Gast zu sein. Deßhalb – und noch aus einem andern Grunde – ich hoffe, unsere Gesinnung bleibt darum doch die alte –

Was hast du wieder für Hirngespinnste? sagte Edwin, immer noch in seine Blätter vertieft.

Balder war auf Franzelius zugehinkt und hatte seine Hand ergriffen. Ich wollte dich schon bitten, Reinhold, sagte er halblaut, komm doch einmal des Vormittags; du findest mich da allein, und ich hätte dir noch über deinen letzten Aufsatz –

Der Andere wandte sich ab. Nein, murrte er, es 244 ist besser so, klüger, wir machen ein für alle Mal einen Strich darunter. Es ist mir lieb, daß auch Edwin noch gekommen ist. Ich wollte es schon vorhin sagen, aber ihr waret so in das Spiel vertieft: ich nehme heut Abschied von euch – auf unbestimmte Zeit –

»Thoren nennen es auf ewig,« citirte Mohr. Was Teufel ist in dich gefahren, Cajus Franzelius? Willst du eine Arbeitercolonie unter den Rothhäuten gründen, nach Schultze-Delitzsch'schen Principien? Oder steuerst du nach dem Salzsee von Utah, den Mormonen ihre Unsterblichkeit zu verleiden? Oder – halt, jetzt hab' ich's – er kann den Anblick eines Menschen nicht ertragen, der Rheinwein trinkt, während das Kameel in der Wüste Sahara oft nicht einmal Pfützenwasser zu saufen kriegt.

Der Buchdrucker schien gereizt erwiedern zu wollen. Edwin kam ihm zuvor.

Du wirst wissen, was du thust, sagte er. Wenn du dich von alten Freunden trennst, da diese Waare doch nicht auf jedem Markt zu kaufen ist, so mußt du Gründe haben. Es wäre freundschaftlich, Franzel, uns diese Gründe mitzutheilen. Wer weiß, ob es so gründliche Gründe sind, wie du dir jetzt einbildest.

Ich danke dir, Edwin, erwiederte Jener mit stockender Stimme. Es thut mir wohl, daß dir's nicht ganz gleichgültig ist, ob wir unseren Umgang aufgeben, so wenig in den letzten Wochen dabei herauskam. Was meine Gründe betrifft –

Ich bin wiederum bereit, das Local zu verlassen, 245 wenn beschränkte Oeffentlichkeit gewünscht wird, sagte Mohr ruhig, indem er aufstand.

Persönliches spricht da nicht mit, fuhr der Düstere fort. Daß wir Zwei uns nicht verstehen, – so wenig angenehm es manchmal ist, die Zielscheibe für deine frivolen Späße zu sein – es könnte mich doch nicht bestimmen, aus der Tonne ganz wegzubleiben. Die Sache ist ernsthafter; kurz herausgesagt: ich habe mich entschlossen eine Zeitschrift herauszugeben, die meine Principien noch nachdrücklicher und unverhohlener, als bisher die Flugblätter gethan, bekennen und verfechten soll. Die Zeitschrift wird zweimal in der Woche erscheinen, unter dem Titel: der Volkstribun. Ich danke dir für diesen Spottnamen, Mohr, den ich mir nun, wie die Geusen den ihrigen, zum Ehrennamen gemacht habe. Das Programm wird mit den letzten Consequenzen des Aberglaubens und traditionellen Wahnes brechen und sich, da die Reichen gute Gründe haben, die Tradition zu conserviren, die das Wasser trübt, in dem sie fischen wollen, ausdrücklich an die Armen und Elenden wenden. Ich habe dies als meine Lebensaufgabe erkannt, der ich jedes Opfer zu bringen bereit bin, – auch das schwerste.

Er blickte dabei Balder an, senkte aber sofort die Augen wieder und that, als ob er seine Mütze suche.

Die Brüder schwiegen. Mohr aber ging auf ihn zu, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sagte: Höre, Franzel, obwohl ich dir zuwider bin, du mußt mir dennoch erlauben, dir vor diesen Zeugen meine Hochachtung zu erklären. Ich beneide dich um eine solche 246 Lebensaufgabe, obwohl ich sie für eine complete Narrheit halte. Wenigstens ändere den Titel. Deine Leser sind schwerlich in der römischen Geschichte so bewandert, um über den Unterschied zwischen Tribun und Tribüne völlig klar zu sein. Uebrigens, warum sollen wir darum auf das Vergnügen deines Umgangs verzichten? Ich biete mich dir sogar zum Mitarbeiter an: falls du, wie ich hoffe, ein Feuilleton bringst, wäre ich nicht abgeneigt, einzelne pikante Aphorismen –

Laß einmal die Possen! unterbrach ihn Edwin unwillig. Franzel, was soll das heißen? Weil du eine Zeitschrift gründest, müßten wir uns hier auf Nimmerwiedersehen die Hand schütteln? Du magst doch thun, was du nicht lassen kannst. Sollen wir unsers Bruders Hüter sein? Oder sind wir bisher für jedes deiner Worte, das wir nicht unterschreiben konnten, solidarisch haftbar gewesen?

Nein, erwiederte der Buchdrucker, indem er seine breiten Hände in die Taschen vergrub. Aber gerade darum – auch in Zukunft sollt ihr davor sicher sein, soweit es auf mich ankommt. Ich weiß es leider nur zu gut, daß wir über Manches nicht mehr so einverstanden sind, wie vor Jahren. Ich aber bin entschlossen, meine Schiffe zu verbrennen; keine Winkelzüge, keine halben Worte mehr. Das können die Herren am Ruder nicht vertragen. Es wird Lärm geben, sie werden mit ihren gewöhnlichen groben Mitteln dreinschlagen, – Arrest, Haussuchungen, Beschlagnahme der Papiere, 247 Fahnden auf Mitverschworene. Ich will nicht, daß auch ihr – da ich zu Niemand so oft komme, als zu euch –

Meine sämmtlichen Papiere mögen sie mir versiegeln, sagte Mohr trocken. Die Mittelmäßigkeit, von der dieselben ein strafbares Zeugniß ablegen, ist wenigstens nicht staatsgefährlich. Im Gegentheil, je talentloser Einer ist, desto brauchbarer ist er als steuerzahlendes Individuum, als Schaaf in der Heerde.

Franzelius griff nach seiner Mütze.

Du wirst uns das nicht anthun, sagte Balder. Laß es doch erst darauf ankommen. Und was sollen sie hier finden? Wie ich Edwin kenne –

Ich würde sie ebenfalls mit aller Gemüthsruhe kommen sehen, lächelte Edwin. Nein, Franzel, du siehst, wenigstens was uns betrifft, Gespenster. Kannst du es nicht im Nothfall sogar beschwören, daß ich keine Neigung zur Socialdemokratie habe, vielmehr ein unverbesserlicher Aristokrat bin, wie du mich oft genug gescholten hast?

Und wenn sie dich um deinen Katechismus befragen, wirst du ihn verleugnen? Wirst du in Abrede stellen, daß wir über die Principien einverstanden sind, und nur darin auseinandergehen, ob die Zeit schon reif ist? Du schweigst; nun siehst du –

Wissenschaftliche Ueberzeugungen sind etwas Anderes, als Volksreden, und die Polizei vergreift sich Gott sei Dank nicht mehr an der Gedankenfreiheit eines Privatdocenten der Philosophie. Aber da wir darauf gekommen sind – noch einmal und, wie es scheint, zum letzten Mal: hältst du mich für eine Memme, Franzel? 248

Dich! Wie kannst du nur –

Oder glaubst du nicht, daß ich mich eher viertheilen lassen, als den Geist verleugnen würde? Nun, wenn du mich also für einen Menschen hältst, dessen Freundschaft du dich nicht gerade zu schämen hast, so laß dir sagen: was du thun willst, scheint mir nicht viel zweckmäßiger, als wenn du einem Säugling, dem die Zähne noch nicht durchgebrochen sind, ein gebratenes Huhn vorsetzen wolltest, statt der Muttermilch oder des Liebig'schen Präparats, an dem er sich bisher hat genügen lassen. Wer das meinem Kinde thäte, dem würde ich allerdings das Haus verbieten oder seine voreilige Diät wenigstens unschädlich zu machen suchen.

So sprichst du, weil du das Volk nicht kennst, braus'te Franzelius auf. Sie sind keine Unmündigen mehr, die Zähne sind ihnen durchgebrochen, und sie haben sogar Haare darauf; wo es aber noch nicht geschehen ist, da eben soll unsereins ihnen dazu verhelfen, ihnen die harte Speise bieten, daß sie sich die Zähne daran durchbeißen, statt ihnen den traditionellen Kindsbrei zu kochen, statt mit Eiapopeia- und Lieb-Engelein-Kram sie immer wieder einzuwiegen, wenn sie Männer werden und die Kinderschuhe der Bevormundung –

Ereifre dich nicht unnütz! unterbrach ihn Edwin. Wer von uns wird das natürliche Wachsthum der Geister hemmen wollen, statt es nach Kräften zu fördern? Aber was du vorhast, ist eine gemachte, eine übereilte Cultur, deine demagogische Begeisterung ist Treibhaushitze, und darum wiederhole ich: bringe keine unnützen Opfer, 249 die nicht nur dir selbst, sondern auch vielen deiner Pfleglinge verderblich sein müssen. Nicht aus jedem Holz läßt sich ein Apollo schnitzen; nicht jeder Muttersohn, der ein Schurzfell vorbindet und im Schweiße seines Angesichts sein Brod ißt, wird von dem Sündenfall seiner Mutter Eva die Vorstellung fassen können, die ein Jünger Spinoza's oder Kant's sich davon machen kann. Warum willst du, da noch so viel schreiende Bedürfnisse gröberer Art zu befriedigen sind, diesen unsern minder begabten Brüdern noch Bedürfnisse schaffen? Warum ihnen erst beweisen, daß ihnen etwas fehlt, um hernach, wenn sie mühsam den Mangel zu fühlen begonnen haben, doch nur eine sehr fragwürdige Nothhülfe zu gewähren? Du erzeugst einen künstlichen Durst, und kannst ihnen dann nur eine Birne anbieten, um ihn wieder zu beschwichtigen. Denn die Quellen, die uns fließen, sind ihnen, wie die Dinge stehen, doch noch eine gute Weile verschlossen.

Edwin hat Recht! rief Mohr, zum ersten Mal ohne sein ironisches Zucken des Mundwinkels. Die Leute schlafen und lassen sich allerlei träumen, und Franzelius Gracchus geht herum, wie Macbeth, und mordet den Schlaf. Nie hab' ich begriffen, wie ein Mensch so unmenschlich sein kann, irgend Wen, der schläft, aufzuwecken. Aber da predige man diesen Humanitariern Menschlichkeit! Ihr seid gerade so eigennützig, wie die Pfaffen und Dunkelmänner auch. Um nur euer Licht anzünden zu können, trommelt ihr die Menschheit schon um drei Uhr aus den Betten. 250 Und wenn sie es uns dennoch Dank wüßten? wenn der Alp sie gedrückt oder böse Träume sie geängstigt hätten? rief der Buchdrucker heftig. So aber steht es um das Volk. Sein Schlaf unter der Nachtmütze des Aberglaubens ist nicht mehr so erquicklich traumlos wie vor hundert Jahren. Allerlei Stimmen haben sie halb aufgeschreckt; nun liegen sie in der Dämmerung und wissen nicht, ob es schon Zeit ist, aufzustehn. Aber, was red' ich davon zu euch? Ihr kennt die Zeit nicht, ihr habt den Pulsschlag der Menschheit niemals durch euer Herz zittern fühlen, ihr seid, mit all eurem klugen Wissen und guten Wollen –

Sprich nicht weiter, Franzel, flüsterte Balder. Du bist aufgeregt; warum sollen wir uns noch in der Abschiedsstunde, wenn du denn wirklich dich von uns trennen willst, böse Worte sagen? Daß wir uns wiederfinden werden, daß nicht viel Zeit darüber vergehen wird, davon bin ich überzeugt.

Dich – dich verliere ich nie! murmelte der Erglühende, nur für Balder hörbar, in tiefer Erregung. Du hast Recht, setzte er lauter hinzu. Es ist traurig genug, daß die Wege sich trennen. Man soll sich das Nothwendige nicht noch überflüssig erschweren. Lebwohl, Edwin. Fast könnte ich dich um die Fähigkeit beneiden, etwas, das du für ein geistiges Gut hältst, für dich zu behalten; denn allerdings, »wer thöricht gnug sein volles Herz nicht wahrte« – Aber – es hilft nichts: aliis inserviendo consumor. Adieu Mohr. Mit dir –

Er wollte etwas hinzusetzen, besann sich aber eines 251 Besseren und ging aus der Thür. Draußen blieb er einen Augenblick stehen, als erwarte er noch etwas. Er hatte sich nicht getäuscht. Balder kam ihm nach, unter dem Vorwande, ihm noch etwas sagen zu müssen. Er drückte ihm aber nur wortlos die Hand, fiel ihm dann um den Hals und riß sich hastig wieder los. Dann stolperte Franzelius die Treppe hinunter, wie ein Mensch, der einen schweren Kopf oder die Augen zugedrückt hat.

Er folgt seinem Dämon! sagte Edwin kopfschüttelnd. Ich habe es kommen sehen und vergebens aufzuhalten versucht. Aber das Wasser fließt einmal den Berg hinab.

Es wird bald an eine Schleuse kommen und dann für eine gute Weile gestaut werden, brummte Mohr. Schade um den guten Kerl! Du kannst mir glauben, Edwin, es war mir selbst immer fatal, daß ich ihn beständig hänseln mußte. Im Grunde habe ich ihn nicht nur respectirt, sondern gern gehabt. Er hat ja gerade, was mir fehlt, er ist nur Massenmensch, und weil er für sich selber gar nichts zu bedeuten wünscht, ist es ihm auch gleichgültig, ob etwas an ihm ist, oder nicht. Er nimmt vorlieb mit sich selbst – ich glaube, wenn er sich für was Apartes hielte, würde er mit freiwilligem Ostracismus gegen sich selbst wüthen; glückliche Eintagsfliege!

Balder trat wieder ins Zimmer, sie sprachen von anderen Dingen, Mohr fragte nach dem Privatissimum, das Edwin der jungen Zaunprinzessin las, wie Lea in der »Tonne« genannt wurde. Edwin aber, der wieder 252 mit all seinen Gedanken bei der auf morgen verheißenen Beichte seiner räthselhaften Freundin war, gab nur zerstreut zur Antwort: er trage ihr Geschichte der Philosophie vor, nach freilich sehr eigenen Heften. Er erzähle ihr ohne alle Kunstsprache, wie sich in verschiedenen Menschenköpfen das Weltgeheimniß verschieden abgespiegelt, wie nachdenkliche Geister es sich zu deuten versucht und das Unaussprechliche in immer tiefsinnigeren Formeln ausgedrückt hätten. Ich bin nun bis zur Ideenlehre gekommen, schloß er, mit der man einem so sinnigen Wesen, wie dieses Mädchen ist, noch ein großes Vergnügen machen kann, ohne sonderliche Beschwerde. Wie weit es mit dem Aristoteles glücken wird, soll mich wundern. Im Allgemeinen aber bestätigt sich hier wieder der Satz, daß, wo ein wirkliches Bedürfniß vorhanden ist, auch die Organe dafür vorgebildet sind, wie sich ja auch nur das Gefühl des Hungers meldet, wenn ein Geschöpf einen Magen besitzt. Es ist eine Lust, dies Mädchen zuhören zu sehen. Sie hat lange nach Erkenntniß geschmachtet; nun lebt sie förmlich auf, wie eine durstige Pflanze im Sommerregen.

Gratulire zu der Frau Doctorin! lachte Mohr.

Die Blicke der Brüder begegneten sich unwillkürlich.

Du hörst, wir halten erst am Plato, zwang sich Edwin zu scherzen. Ob meine Schülerin trotz ihrer Zaun- und Lagunenstudien erhaben genug denkt, um an unserer Tonnen-Philosophie Geschmack zu finden, möchte ich sehr bezweifeln. – –

Indessen war Franzelius, da er so langsam ging, 253 als ob ihn jeder Schritt einen neuen Entschluß kostete, nur erst bis in das Vorderhaus gelangt. Als er an die Glasthür kam, die in den Laden führte, blieb er plötzlich stehen.

Auf dem Stuhl hinter dem Schaufenster, auf dem gewöhnlich Madame Feyertag thronte, saß heute das Reginchen. Es war schon sehr dunkel in dieser Ecke, denn das Gas im Laden wurde im Sommer überhaupt nicht angezündet, und der September gehörte nach dem Feyertag'schen Kalender noch zu den Sommermonaten. Dennoch hatte der Buchdrucker draußen auf den ersten Blick erkannt, wer da in der Ecke saß und an einem großen Strumpf strickte.

Er schien einen Augenblick mit sich zu kämpfen. Dann klinkte er leise auf und trat mit einem: Guten Abend, Fräulein Reginchen! in den Laden.

Herrgott, haben Sie mich aber erschreckt! rief das Mädchen und fuhr von ihrem Sitz in die Höhe.

Ich bitte sehr um Entschuldigung, stotterte Franzelius, ich hätte anklopfen sollen. Aber es geht mir so viel im Kopf herum – bleiben Sie ruhig sitzen, Fräulein Reginchen. Ich – ich wollte nur – ich komme –

Er hielt seine Mütze krampfhaft in der Faust und bürstete den Schirm derselben mit dem Ellenbogen.

Die Mutter ist ausgegangen, sagte Reginchen, nur um ein bischen Conversation zu machen. Der Vater ist noch in der Werkstatt. Wenn Sie etwa mit ihm reden wollen –

Ganz und gar nicht – aber erlauben Sie – – 254 Er hob eine Stricknadel auf, die ihr entfallen war, ließ darüber seine Mütze fallen, und als nun sie sich danach bückte, stießen sie beide ziemlich unsanft mit den Köpfen zusammen. Er wurde über und über roth. Sie aber brach in ein helles Lachen aus.

Das kommt von den kurzen Tagen, sagte sie. Aber der Vater spart mit dem Gas. Ich lasse auch so viele Maschen fallen!

Dann schwiegen sie wieder eine Weile.

Endlich sagte der Buchdrucker, indem er sich vor den Schrank mit den Damenschuhen stellte und so fest hineinstarrte, als ob er die einzelnen Paare zu zählen hätte:

Sie sind glücklich, Fräulein Reginchen. Sie bleiben hier im Hause. Ich – ich muß – ich werde von heute an –

Wollen Sie verreisen, Herr Franzelius?

Nein, Fräulein Reginchen, oder vielmehr ja! – es kommt auf Eins heraus. Ich – es freut mich, daß ich Sie noch getroffen habe – ich möchte – ich wäre nicht gern ohne Abschied –

Bleiben Sie denn so lange fort?

Das kann Niemand wissen. – Vielleicht komm' ich nie wieder. Fräulein Reginchen, ich kann nicht hoffen – sehen Sie, ich – ich habe Sie immer sehr verehrt –

Sie lachte wieder mit ihrem hellen Kinderlachen; aber wenn es im Laden nicht so dunkel gewesen wäre 255 und er sie angesehen hätte, hätte er wohl bemerkt, daß sie dunkelroth geworden war.

Jemine! sagte sie. Verehrt! Das hat mich noch kein Mensch. So ein dummes Ding, das noch gar nichts kann und versteht, wie die Mutter mir alle Tage sagt –

Sie kennen Ihren Werth nicht, Reginchen, und das ist das beste Zeugniß dafür, daß – ich meine, daß es kein falscher Werth ist. Aber entschuldigen Sie, daß ich Ihnen das so grob ins Gesicht sage. Es ist ja das erste – und letzte Mal. Und Sie natürlich – wenn ich nicht mehr komme – Sie werden mit keinem Gedanken mehr an mich denken.

Das kluge Kind schien zu wissen, daß Schweigen zuweilen die beste Antwort ist. Sie hustete ein paar Mal. Dann sagte sie: Wo reisen Sie denn hin?

Wohin Wind und Wellen treiben! antwortete er düster pathetisch und ging jetzt mit schweren Schritten den Laden auf und ab.

Also zur See! Herr du meine Güte, da hätt' ich aber Angst. Wissen Sie, Herr Franzelius, daß ich nun jedesmal zusammenfahren werde, wenn wir Ostwind haben und die Scheiben klirren und die Gasflamme zittert – und Sie dann auf der wilden See –

Werden Sie das wirklich, Fräulein Reginchen? fragte er hastig und blieb vor ihr stehen. Wenn das Ihr Ernst wäre – aber nein, warum sollen Sie sich unnütze Sorge machen um einen Menschen, der doch nie wieder – ich freilich – mir wird es eine rechte Herzstärkung sein unterwegs – und was ich noch sagen 256 wollte: ich möchte mir ein Andenken an Sie und diese Stunde mitnehmen.

Ein Andenken? – Sie sah unwillkürlich auf ihr Strickzeug, das er ebenfalls unverwandt anstarrte. – Ich bin erst beim Hacken, sagte sie, und bis er fertig ist, werden Sie wohl nicht warten wollen.

Nein, Fräulein Reginchen, sagte er, halten Sie mich nicht für so unbescheiden, daß ich mir ein solches Geschenk, eine Handarbeit von Ihnen, ohne Weiteres ausbitten würde. Aber – wenn gerade von den Arbeiten Ihres Vaters – ich habe zwar einen ungeschickten Fuß, der in fertige Stiefel schwerlich hineinpaßt –

Ich könnte Ihnen ja Maß nehmen.

Das könnten Sie allerdings; aber nein, Reginchen, erstens würde ich solch einen Dienst von Ihnen –

Ich thäte es gern, und bin's ja auch gewöhnt.

Nein, nein! Ein Wesen, wie Sie, und so ein Unglücksmensch, wie ich – aber wenn ich ein fertiges Paar fände –

Er sah sich rings an den Wänden um, seufzte, fuhr sich mit der Hand in die Haare und schien ihren Blick um jeden Preis vermeiden zu wollen.

Sie haben nicht den kleinsten Fuß, sagte jetzt das Mädchen, indem sie mit Kennerblick seine groben Stiefel betrachtete. Wenn er nur auch so lang wäre, wie er dick ist. Aber vorn ist er so kurz abgekappt; da wird es schwer halten –

Nicht wahr? Zwei Elephantenfüße! sagte der Buchdrucker bitter auflachend. Wir Leute aus dem Volk, die 257 wir seltener treten, als getreten werden, wir brauchten nicht einmal so grobe Füße zu haben. Aber es kann auch nichts schaden. Wer weiß, wann die Reihe an uns kommt. Nun denn, Fräulein Reginchen, wenn es nicht sein kann –

Warten Sie, rief sie, indem sie aufsprang und die innere Scheibe des Schaufensters öffnete, ich meine, da wäre doch noch was für Sie. Wenn Sie nämlich auch Wasserstiefel brauchen können. Aber da Sie ja in See gehen –

Wenigstens durch Dick und Dünn. Zeigen Sie mir immerhin die Wasserstiefel, Fräulein Reginchen.

Er setzte sich auf einen niederen Schemel und sah ihr zu, wie sie sich behende in das Schaufenster hinüberbog und zwei große Kniestiefel, die dort als Musterstücke paradirten, mit einiger Mühe losmachte und in den Laden verpflanzte. Dabei seufzte er wieder, als wenn er die schwersten Schmerzen litte. Während er die Stiefel, die vortrefflich paßten, d. h. im Grunde viel zu groß waren, einen nach dem andern mit Reginchens Hülfe anzog, sprach er keine Silbe. Erst als er in diesen mächtigen blanken Futteralen wie eingewurzelt vor ihr stand, zog er sein blaugewürfeltes Tuch aus der Tasche, trocknete sich die Stirn damit und sagte, indem er es langsam wieder einsteckte: Bitten Sie den Vater, mir mit meinen alten Stiefeln die Rechnung zu schicken. Und jetzt, Fräulein Reginchen, noch Eins: pflegen Sie mir nach wie vor meine Freunde da oben, – besonders Balder. Er – Sie wissen es vielleicht nicht – er wird nicht sehr 258 alt werden; daß er wenigstens, so lange er lebt, nur Liebes und Gutes –

Er wandte sich ab, weil ihm die Stimme versagte, und wischte sich verstohlen mit der Mütze die Augen.

Herr Jemine! rief das Mädchen erschreckend, was sagen Sie da? Der Herr Walter –

St! machte Franzelius und legte seine breiten Zeigefinger an den Mund. Sie sind ein gutes und verständiges Mädchen – Sie werden es für sich behalten. O Fräulein Reginchen, wenn das nicht wäre, wenn Manches nicht so wäre, wie es ist – wovon Sie gar keine Ahnung haben – weiß der Himmel, ich – ich machte auch aus meinen Gefühlen kein Geheimniß und sagte Ihnen – aber nein! So lange dieser einzige Mensch – und ein solcher Freund – Haben Sie ihn recht lieb, Reginchen, so lieb als Sie können. Wird es Ihnen schwer, Balder lieb zu haben?

Sie verstummte wieder. Die Frage schien ihr denn doch verfänglich. Er betrachtete sie mit einem seltsamen Ausdruck von Angst und Leidenschaft, plötzlich faßte er ihre beiden Hände in seiner großen Faust, drückte sie so stark, daß sie mit Mühe das Schreien zurückhielt, und brach dann in die Worte aus: Wenn es Engel gäbe, Sie wären einer. Leben Sie wohl. Denken Sie – vergessen Sie – Sie haben nie einen besseren Freund gehabt, als mich! Das wollt' ich Ihnen nur noch zum Abschied sagen – Fräulein Reginchen!

Er riß sich los und stapfte mit den Riesenstiefeln so eilig hinaus, als fürchte er, wenn er länger bliebe, trotz dieser festen Säulen seinen Schwerpunkt 259 zu verlieren und dem Schusterstöchterlein zu Füßen zu fallen.

Das Reginchen sah ihm durch das Schaufenster nach. So oft sie sonst über ihn gelacht hatte, heute konnte sie es nicht. Das Weinen war ihr näher. So hatte noch nie ein Mensch zu ihr gesprochen. Daß sie ihm gefiel, hatte sie längst gemerkt und sich sogar etwas darauf eingebildet, weil sie glaubte, er müsse ausnehmend gelehrt sein, da er immer mit Drucksachen zu thun habe. Aber daß er sie »verehrte«, daß er sie beinah für einen Engel hielt – Und was bedeutete das mit Herrn Walter?

Sie saß wieder auf ihrem Stuhl im Winkel. Ich will ihm noch über Nacht ein Paar Strümpfe stricken, die er mit auf die Reise nehmen kann, dachte sie. Wenn ich nur damit fertig werde. Er hat auch gar zu große Füße! 260



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