Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Elftes Kapitel.

Als Marquard am nächsten Vormittag seinen Krankenbesuch in der »Tonne« machte, fand er wieder die alte Hausordnung. Das Reginchen war trotz der späten Heimkehr von ihrer Landpartie früh um sechs am Brunnen gewesen, eine Stunde später hatte sie den Brüdern die bläuliche Milch hinausgetragen und das Zimmer ausgeräumt, ohne dabei zu plaudern; denn vor Edwin, so freundlich er ihr begegnete, hatte sie großen Respect und gerieth bei seinen harmlosesten Scherzen in Verwirrung. Auch die Brüder hatten, nach alter Gewohnheit, ihren Tag schweigend begonnen. So fand sie der Doctor; Balder saß an seiner Drehbank mit einem elfenbeinernen Schachspiel beschäftigt. Marquard plauderte scheinbar unbefangen längere Zeit mit ihm, fragte nach Diesem und Jenem und fühlte ihm den Puls, ohne etwas zu verordnen, als daß er fleißig von dem Wein trinken möchte.

Auf der Treppe aber, als Edwin ihn begleitete, wandte er sich plötzlich um und sagte halblaut: Du, es darf nicht so fortgehn mit dem Jungen. Das Hocken und Haushüten taugt nicht, an der verdammten 159 Drehbank ruinirt er sich vollends die Brust. Ich an deiner Stelle thäte einen Machtspruch.

An meiner Stelle? seufzte Edwin mit einem Achselzucken. Bester Freund, wenn du an meiner Stelle, d. h. nicht Arzt, sondern Philosoph wärest, wüßtest du, daß es keinen Machtspruch giebt, der das innerste Wesen eines Menschen verwandelt. Habe ich nicht alle Listen versucht, ihn hinauszulocken? Als ich ihn bei seiner schwächsten, will sagen, seiner stärksten Seite faßte, bei seiner brüderlichen Liebe, ihm vorspiegelte, ich selbst verfiele draußen ohne ihn in Melancholie, da hättest du sehen sollen, was er für Anstrengungen machte, einen munteren Kameraden abzugeben, um mich auf Spazierfahrten und -gängen zu erheitern. Aber ich kenne ihn zu gut. Ich sah, wie er litt unter dem Straßenlärm und Gewühl, selbst da wir einmal nach Tegel fuhren, war ihm nur so lange behaglich, als wir unterwegs allein waren. Draußen fanden wir einen Haufen reifspielender Backfische, verschiedene strickende Mütter und Tanten, einzelne Liebespaare, kurz, die Berliner Pläsirfische. Da drängte er so bald als möglich zur Rückkehr. Du mußt wissen, es thut ihm weh, wenn die Leute ihn angaffen, und das passirt ihm öfter als irgend Einem; er fällt überall auf durch seine Schönheit und Lahmheit, und weil er einen Blick hat, wie kein anderer Mensch.

Ich wollte, er wäre weniger apart; wir behielten ihn länger.

Edwin blieb stehen, faßte Marquard am Arm und flüsterte: Du fürchtest – 160

Nichts – und Alles. Es ist ein so zartes Gewebe, eine Fliege kann es zerreißen. Aber möglich, daß es doch zäher ist, als wir denken, setzte er hinzu, da er Edwin's Hand auf seinem Arm zittern fühlte.

Der Wein, den du geschickt hast, hat ihm gutgethan, sagte Der. Ich danke dir; es war ein guter, menschenfreundlicher Gedanke. Ihn anders zu wünschen, als er nun einmal ist, dazu kann ich mich nicht entschließen. Er wäre nicht mehr dieser einzige Mensch, wenn er Nerven und Muskeln hätte, wie ein Stallknecht. Und würde er dabei glücklicher sein? Denn du glaubst nicht, wie glücklich er ist, welche unermeßliche Fähigkeit er hat, mit seiner Seelenfülle alle Armseligkeit um uns her zu verklären, allen gemeinen Staub in Gold zu verwandeln. Wenn ich ihm jetzt keine Sorge machte, es bliebe ihm kaum etwas zu wünschen übrig.

Was dich betrifft, Philosoph, so hätt' ich auch noch ein Wörtchen mit dir zu reden. Ich habe dir's neulich schon oben auf eurer Stube angedeutet, aber da war Balder zugegen, der ist wie ein Mädel; gewisse Dinge kann man in seiner Gegenwart nicht bei Namen nennen. Höre, Mensch, du bist an deiner ganzen Nerven-Misère selber Schuld; 's ist eine Sünde und Schande, wie du dem Schmarotzergewächs, dem Gehirn, erlaubst, dem übrigen Organismus die besten Säfte wegzusaugen. Wie kann da von Gleichgewicht der Kräfte die Rede sein? Item ich sage dir: es ist dein ganzes Weh und Ach aus Einem Punkte zu curiren.

Du kannst Recht haben, Fritz, erwiederte Edwin 161 ruhig, während sie über den Hof gingen. Aber siehst du, das ist nun eine Medicin für mich, wie die vorhin besprochene für Balder. Wir haben nicht die Naturen dazu, sie einzunehmen; und wenn wir uns zwingen würden, würde das Uebel uns auf die edleren Theile schlagen.

Natur! Natur! braus'te der Doctor auf und sah durch seine goldene Brille den Freund fast ingrimmig an. Ich stehe dir dafür, mein Sohn, deine gute Natur, die du nur mit dem verwünschten übersinnlichen Idealismus so lange geängstigt hast, bis sie nicht mehr zu mucksen wagt, – auf der Stelle würde sie sich wieder aufrappeln und ganz munter werden, wenn du nur einmal vom hohen Pferde der Speculation herunterstiegest und dich auf deine gesunden fünf Sinne besinnen wolltest. Wetter auch! Ein frischer Kerl, wie du, und lebt wie die Einsiedler in der thebaischen Wüste von Heuschrecken und wildem Honig, und wenn ein weibliches Geschöpf an seiner Höhle vorbeigeht, ruft er: Apage, Satanas! Schon auf der Universität hatte ich meine liebe Noth mit dir. Das scheint nun aber so fortgehen zu wollen, bis vor lauter Geist die einfältig mißhandelte Natur überschnappt und aus der Haut fährt.

Eine recht hübsche pathologische Vorlesung, lächelte Edwin. Ich bitte mir die Fortsetzung nächstens aus; man kann immer etwas dabei lernen. Trotz alledem, Fritz, einen Kuppelpelz verdienst du dir nicht an mir.

Unsinn! Wer redet davon? Aber wenn ich, neben meiner täglich wachsenden Praxis, Zeit übrig behalte, 162 kleine Romane zu spielen, bei denen doch auch der Geist seine Rechnung findet –

Auch das Herz, mein Junge?

Nun meinetwegen auch das Herz, obwohl dieser Muskel sehr überschätzt und mit all euren Sentimentalitäten nur zu einer gefährlichen Hypertrophie gebracht wird. Ich bin jetzt eben wieder einer kleinen Hexe auf der Spur –

Einer schönen Helena oder Galatee?

Vornehmer, mein Sohn, und leider sehr unnahbar – bis jetzt. Aber wie ist mir denn? Du mußt ja schon ihre Bekanntschaft gemacht haben.

Ich?

Hast du nicht in der Loge neben ihr gesessen, vorgestern erst? Wenigstens sagte mir der Logenschließer, sie habe immer denselben Platz.

Edwin erblaßte.

Ich erinnere mich dunkel, sagte er. Saß sie nicht ganz vorn, braune Haare, sehr weißer Teint, blaue Augen –

Schwarze oder braune, mein Sohn. Uebrigens können wir nur Dieselbe meinen – und ich, edel wie ich bin, ich trete alle meine Ansprüche feierlich an dich ab.

So müßtest du mir wenigstens deine Equipage leihen, um diese Liebschaft standesgemäß zu betreiben, lachte Edwin gezwungen. Denn auf dem Fuß eines Privatdocenten wird man dieser Prinzessin schwerlich den Hof machen können.

Sei ohne Sorge. Ich kenne den Irrwisch freilich noch nicht genau; sie hat all meine Conversationskunst 163 zu Schanden gemacht. Aber so fürstlich sie ihr Näschen zu rümpfen versteht – nebenbei gesagt: ein Näschen zum Tollwerden – richtig ist es keinesfalls mit ihr. Junge Damen, die so allein ins Theater gehen, finden hernach ihre Gesellschaft zu Hause. Aber ich werde schon dahinterkommen, in wessen Bauer dieser Paradiesvogel sein Nest hat – gestern kam mir nur leider ein alter Geheimrath in die Quere, der mich über seine Leber consultirte, als ich eben diesem stolzen Näschen nachgehen wollte. Ist es dann so, wie ich vermuthe, so sollst du sehen, mein Sohn, was so ein schnöder Materialist für seine Freunde zu thun fähig ist.

Er sprang lachend in seinen leichten Wagen, nahm dem Kutscher die Zügel aus der Hand und fuhr rasch davon.

Edwin sah ihm nach. Er konnte ihm nichts übel nehmen; hatte er selbst doch gestern Möglichkeiten erwogen und Eindrücke in sich bekämpft, die das räthselhafte Wesen in keinem besseren Lichte erscheinen ließen. Aber es von einem Andern aussprechen zu hören, als eine Sache, die sich von selbst verstehe, machte ihm fast einen körperlichen Schmerz.

Er hatte zwei Bände seines Goethe mitgenommen, um sie ihr zu bringen. Jetzt dachte er, es möchte das Klügste sein, ihr Haus, ihre Nähe, jeden ferneren Verkehr mit ihr zu meiden. Aber nur einen Augenblick tauchte ihr Gesicht wieder vor ihm auf und klang ihre Stimme in seinen Ohren, so war es um alle Bedenken geschehen. Wenn sie nun doch besser wäre, als der Schein? Und was sollte sie von dem wunderlichen 164 Menschen denken, der sich erst so eifrig ihr aufgedrängt, um sich dann nie wieder blicken zu lassen?

Er wollte sie aber wenigstens heute nicht sehen, gab die Bücher nur an die gestreifte Weste ab, die ihm die Thür öffnete, und auf die Frage des Knaben, ob er gemeldet zu werden wünsche, erwiederte er trocken: Es sei nicht nöthig; Ende der Woche werde er die Fortsetzung bringen.

Wie er die Treppe hinabstieg, lobte er sich um seine Standhaftigkeit und beschloß, auch auf der Straße nicht mehr zu ihren Fenstern zurückzusehen. Das ging denn aber doch über seine Kräfte. Er blieb sogar, als ob er unschlüssig wäre, wohin er sich wenden sollte, drüben auf der Schattenseite einen Augenblick stehen und ließ dann wie zufällig die Augen auch nach dem Fenster mit der Palme und dem anderen mit dem goldenen Vogelhause wandern. Hinter einer herabgelassenen Marquise glaubte er etwas sich bewegen zu sehen. Der Gedanke, es könne ein Männerkopf sein, schoß ihm siedendheiß durch das Herz. Er drückte die Augen ein und ging seines Weges.

Er hatte gestern versprochen, heute das Privatissimum in dem Häuschen an der Lagune zu beginnen. Während er mechanisch seine Schritte nach jener Gegend wandte, schien es ihm doch fast unmöglich, daß er jetzt irgend welche zusammenhängende Gedanken vortragen sollte. Auch lag die Bekanntschaft mit dem kleinen Maler und seiner Tochter so weit hinter ihm, wie durch Monate getrennt, und war ihm so gleichgültig, wie die Menschen, die an ihm vorbeigingen. Er beschloß, nur hinzugehen, 165 um sich für heute zu entschuldigen, am liebsten die ganze übernommene Verpflichtung wieder abzuschütteln.

Der Empfang aber, den er in dem kleinen Hause fand, machte seine Vorsätze zu Schanden.

Der kleine Maler stand in seinem abgetragenen Sammetröckchen, das barettartige Mützchen keck auf das linke Ohr gerückt, in der Thür und rief, da er Edwin von fern zwischen den Holzhaufen herankommen sah, in den Flur hinein: Er kommt, er kommt! – Dann ging er ihm rasch entgegen, faßte seine Hand mit seinen beiden und sagte: So habe ich denn richtig meine Wette gewonnen und eine wahre Schadenfreude über mein kluges Kind, daß es auch einmal weniger gescheidt war, als sein alter Vater.

Worauf haben Sie gewettet? fragte Edwin.

Ob Sie kommen würden oder nicht. Lea meinte, Sie hätten es nur versprochen, um es ihr nicht geradezu ins Gesicht zu sagen, daß Sie eine so unwissende Schülerin nicht unterrichten wollten. Sie hätten auch trotz aller Freundlichkeit einen so vornehmen Blick um sich her geworfen – zerstreut und so gewissermaßen müde –

Bester Herr, unterbrach ihn Edwin, Ihr Fräulein Tochter hätte für ihren Scharfblick wohl verdient, die Wette zu gewinnen. Ich bin etwas müde und zerstreut, mein Kopf rächt sich dafür, daß ich ihn mir zu oft zerbrochen habe, und die Sprünge, die er davon behalten, wollen nicht so rasch wieder heilen. Wahrhaftig, wenn Sie und Ihr Fräulein Tochter es nicht wären, thäte ich klüger, unsere Stunden auf eine gesundere Zeit zu vertagen. Aber wenn Sie vorlieb nehmen wollen – 166

Lea! Lea! rief der kleine Mann und lief in das Häuschen voraus. Wo steckst du denn?

Das Mädchen trat eben aus dem Atelier, in dem einfachen braunen Kleide von gestern. Ihre schwarzen Augen grüßten Edwin mit einem stillen, fast verwunderten Blick.

Ich höre, mein Fräulein, sagte er scherzend, Sie haben eine Wette meinethalben verloren. Sie glaubten, ich würde nicht wiederkommen, und da man zu glauben pflegt, was man wünscht –

Sie sah ihn mit einem Blick an, der ihn bat, ihrer Verwirrung zu schonen.

Es ist wahr, sagte sie erröthend, ich bin nachträglich erst darüber erschrocken, daß ich Jemand gestehen soll, wie unwissend und confus ich bin. Ich habe fast nicht geschlafen vor Unruhe.

So müssen wir eilen, Sie wieder zu beruhigen, lächelte er. Ich will jede Wette eingehen, daß Sie schon die nächste Nacht vortrefflich schlafen werden.

Wissen Sie auch, um was wir gewettet haben? rief der Maler lustig sich die Hände reibend: der Verlierer soll Ihnen etwas malen. Nun können Sie froh sein, daß Sie etwas von Lea bekommen, statt einer armseligen Pinselei von mir. Sehen Sie, so belohnt sich die Tugend.

Sie waren in das Atelier getreten, das heute viel sorgfältiger aufgeräumt schien. Statt des Pultes mit dem Malapparat stand an Lea's Fenster nur ein einfaches Tischchen mit Schreibzeug und einer Mappe. 167 Aber ein frischer Blumenstrauß war auf das Fensterbrett gestellt, hohe Georginen und Astern in brennenden Farben gemischt, als sollten sie das traurige Grau der kahlen Mauer drüben verdecken.

Wir haben es uns überlegt: Sie werden hier doch ungestörter sein, als drüben im Wohnzimmer, neben der klappernden Wirthschaftsmaschine. So; und nun wird der Zaunkönig von seiner unkindlichen Brut aus dem Nest geworfen! sagte der Alte, indem er dem Mädchen sanft die Wange streichelte. Lieber Doctor, glauben Sie mir: man mag schlimm daran sein mit ungerathenen Kindern; aber die wahren Tyrannen sind die guten und wohlerzogenen. Das ist eine ärgere Sclaverei, als das härteste Pantoffelregiment einer Frau. Nun denn, adieu, Kind, und sei fleißig; ich will indeß hinten am Pferdestall die Studie malen, die ich mir schon lange vorgenommen. Es ist gerade die rechte Beleuchtung.

Er küßte sie auf die Stirn und ließ den Lehrer mit seiner Schülerin allein.

Als er nach einer Stunde zurückkam, hörte er im Flure draußen die tiefe, wohlklingende Stimme Edwin's. Er hätte für sein Leben gern einen Augenblick gehorcht, um was sich's denn eigentlich handle. Aber es widerstrebte seinem Zartgefühl, und er hoffte, nachher von dem Mädchen selbst zu erfahren, wie die Stunde abgelaufen.

Edwin stand auf, als der kleine Mann eintrat. Ich bin wohl schon zu lange geblieben? sagte er. Hoffentlich giebt mir Fräulein Lea das Zeugniß, daß ich sie nicht gelangweilt habe. 168

Lea sagte nichts. Sie stand vor dem Tischchen wie ein Mensch, der eben aus einem Traume aufwacht und nicht gleich weiß, wo er sich befindet. Die Mappe vor ihr war nicht geöffnet, die Feder auf dem Schreibzeug nicht eingetunkt worden.

Edwin fragte, ob er die Studie nicht sehen dürfe. Nein, nein, erwiederte der kleine Mann eifrig, meine Skizzen sind nur für mich. Und heute zumal habe ich mehr mit den Augen studirt, als mit der Hand. Ich will es Ihnen nur verrathen, setzte er geheimnißvoll lächelnd hinzu, ich wage mich da an Etwas, das wahrscheinlich meine Kräfte übersteigt. Schon lange hat es mich gereizt, ein Bild von unserer Lagune zu machen. Sie glauben nicht, was das alte schlammige, unsäuberliche Kanälchen manchmal für coloristische Reize entwickeln kann, so mit der richtigen Luft, versteht sich. Nun hab' ich mir auch ein Vordergründchen ausspeculirt, wie ich's brauche, das eigentlich die Hauptsache sein wird, denn mit dem Wasser komm' ich schwerer zurecht. Sie haben vor einer Woche hinten einen Holzhaufen weggefahren, der schon Jahre lang da gestanden, mir recht ausgesucht im Wege, da er mir den günstigsten Prospect auf die Feuermauer und den Quai verbaute. Und sehen Sie, nun ist da ein Stacket frei geworden, vor dem die schönsten Unkräuter üppig aufgewuchert sind, ich habe kaum was daran zu arrangiren. Wenn ich's herausbringe, wird es mein bestes Bild und kann vielleicht eine neue Epoche in meiner Entwicklung bezeichnen.

Er rieb sich vergnügt die Hände und trat zu seiner 169 Tochter heran. Ich hoffe, Kind, sagte er, du wirst nicht ein so gelehrtes Frauenzimmer geworden sein, daß du vergessen hast, dem Herrn Doctor eine Erfrischung anzubieten. Wirklich vergessen? So will ich gleich – wir haben ein Fläschchen guten alten Portwein im Haus – ein Geschenk unserer vortrefflichen Freundin, der Professorin. Apropos, lieber Doctor, was ich Sie bitten wollte: Sie müssen mir den Gefallen thun, die Professorin zu besuchen. Wir sind ihr so viel Dank schuldig für die Erziehung meiner Lea – sie war ordentlich ein bischen piquirt, daß ich einen Lehrer für das Kind genommen, ohne ihn erst ihr vorzustellen. Die beste Frau von der Welt und in manchen Stücken, z. B. in Kirchengeschichte und Dogmatik, ausnehmend gebildet. Es wird Sie nicht gereuen, den kleinen Weg – sie wohnt in der Louisenstraße – wenn ich Sie begleiten darf –

Mit Vergnügen, lieber Herr König, erwiederte Edwin. Aber erst lassen Sie mich die Geberin kennen lernen, ehe ich von ihrer Gabe koste. Fräulein Lea hat heute gelernt, daß ein griechischer Weiser die Welt aus dem Wasser hat entstehen lassen. Für heute bitt' ich also nur um ein Glas Wasser. Das nächste Mal wollen wir sehen, ob die Wahrheit im Weine sei.

Lea brachte das Glas Wasser, sie war aber so stumm, daß der Vater beim Weggehen sie besorgt fragte, ob ihr nicht wohl sei. Mir war nie wohler, sagte sie mit einem strahlenden Aufblicken ihrer schönen, ruhigen Augen.

Kopfschüttelnd begleitete der kleine Mann Edwin 170 hinaus, der sich mit einem freundlichen Händedruck von seiner Schülerin verabschiedete.

Lieber Doctor, sagte er draußen, ist es nicht wunderbar, daß ein Vater aus seinem eigenen Kinde nicht klug werden kann? Freilich, jeder neue Mensch ist ein neues Wunder Gottes. Es ist damit nicht, wie mit unserm anderen Erzeugnissen, die genau nur ein Abdruck unseres Wesens sind und uns über uns selbst, unsere Kraft oder Ohnmacht aufklären. Nur bei den großen Meistern, da mag es ähnlich sein, da ist aus dem Anhauch der göttlichen Kunst noch etwas Neues hinzugekommen, das nichts Menschlichem gleicht und den Künstler selbst befremdet. Ich stelle mir vor, daß Rafael auch aus seiner sixtinischen Madonna, als sie fertig vor ihm stand, nicht viel klüger geworden ist, als ich aus meiner Tochter. Ja ja, lieber Freund, das sind überschwängliche Geheimnisse; man kann nur beten und danken, daß man gewürdigt wird, sie zu erleben. 171



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