Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Neuntes Kapitel.

Lea saß in ihrem kleinen Wohnzimmer an dem Tisch, auf dem die Lampe stand und die Theemaschine summte. Sie schien aber weder mit dieser sich beschäftigt zu haben, noch mit dem Buch, das zugeklappt vor ihr lag, sondern in der einsamen Stube nur in ihre Gedanken vertieft gewesen zu sein. Sie sprang auf, als die Männer eintraten, ihr erster Blick fiel auf den Unbekannten, etwas wie Enttäuschung überflog ihr Gesicht! – Ob das Ohr sie betrogen und sie geglaubt hatte, Edwin habe den Vater begleitet?

Sie sprach nicht. Sie hörte mit gesenkten Augen den Bericht, wie es mit dem Kranken stehe. Der Vater stellte seinen Gast ihr vor als den Freund ihres ehemaligen Lehrers; sie verneigte sich in sichtbarer Verwirrung. Erst nach und nach, da Mohr selbst aufthaute und von seiner alten Universitätsfreundschaft mit Edwin zu plaudern anfing, wurde auch sie freier und machte auf die liebenswürdigste Art die Wirthin. Sie gefiel dem Gast sehr; er wunderte sich sogar, daß Edwin niemals von ihrem Aeußeren gesprochen hatte, das doch wahrlich der 140 Rede werth war, obwohl eine krankhafte Blässe sie älter erscheinen machte und ihre Bewegungen, wenn sie sich gehen ließ, etwas Müdes und Schlaffes hatten. Nachdem sie den Thee eingeschenkt, nahm sie eine Handarbeit und setzte sich in einen Lehnstuhl etwas abseits, nicht weit von der Nische, in der die Büste ihrer Mutter stand. Ein warmes Licht belebte die stillen Züge des Bildes, und bei der durchsichtig bleichen Farbe Lea's, zumal wenn die schönen, glänzenden Augen auf ihre Arbeit gesenkt waren, fiel dem Gast die Aehnlichkeit der Lebenden mit der schon Verklärten fast beunruhigend auf. Er gerieth darüber wieder in seine eigenen trüben Sorgen und Ahnungen, und hätte nicht der kleine Maler in unverwüstlicher Heiterkeit das Gespräch fortgeführt, wäre die Stimmung in dem behaglichen Gemach mehr und mehr ins Düstere gerathen.

Dem Zaunkönig aber schien mit jeder Viertelstunde wohler in seinem Nest zu werden. Er holte, als Mohr ihn aus Höflichkeit bat, ihm etwas von seinen Sachen zu zeigen, mit einer Schüchternheit, aus der aber doch eine stille Genugthuung durchschimmerte, eine große Mappe aus dem Atelier herüber und fing an, die Zeichnungen darin vor seinem Gast auszubreiten. Das sind frühere Entwürfe, sagte er. Ich hatte, als meine Frau noch lebte, die Gewohnheit, wenn wir so Abends bei einander saßen, – das Kind da ging noch früh zu Bett – meine Phantasie auf einem weißen Blatt herumspazieren zu lassen. Dieselbe war damals noch nicht so bescheiden und gezähmt, wie jetzt, sie erlaubte sich die anspruchsvollsten Sprünge und Capriolen, gerade als ob 141 sie einem großen Maler gehörte, der mit der Hand ihr nachkommen könnte. Schon damals freilich wußte ich, daß ich kein Poussin und kein Claude sei; aber so ganz unter vier Augen, und wenn ich über Tag als mittelmäßiger Künstler redlich mich abgequält hatte, durfte ich mir ein paar Abendstunden lang doch wohl vorträumen, was ich alles malen würde, wenn ich einer von den Großen wäre. Jetzt kommen diese Anwandlungen seltener, und ich hüte mich dann, sie zu fixiren. – Wenn ich's gar nicht lassen kann, fege ich eine Weile bloß mit der Kohle auf einem Blatt herum, und mein Aermel thut mir dann den Dienst, Alles bis auf die letzte Spur wieder wegzuwischen.

Mohr blätterte in den Zeichnungen, die etwas überschwänglich ins Große gingen, und die Art, wie er über dies und das sich äußerte und der malerischen Intention in den oft sehr unzulänglichen Linien nachspürte, schien dem Maler ungemein zu gefallen. Als die Kukuksuhr elf schlug und der Gast aufstand mit der Entschuldigung, schon zu lange geblieben zu sein, lud ihn der kleine Hausherr auf's Freundschaftlichste ein, bald wiederzukommen, wenn ihm an diesem bescheidenen Theetisch die Stunden nicht allzu lang geworden wären. Die Mappe, fügte er lächelnd hinzu, kommt auch gewiß nicht wieder zum Vorschein.

Lieber Herr, erwiederte Mohr, ich fürchte, Sie würden dies menschenfreundliche Anerbieten bereuen, wenn ich davon Gebrauch machte. Ich habe eine Ader in mir von jenem »Unbehaus'ten, dem Unmenschen ohne Rast 142 und Ruh«, und Sie sind mir zu werth, um Sie nicht mit meiner näheren Bekanntschaft zu verschonen. Aber freilich, Niemand kann für sich stehen. Wenn es mir einmal gar zu unwohl in meiner Haut ist, werde ich kommen und Sie bitten, mich eine Stunde lang still in diesen Sophawinkel setzen zu dürfen. Ihre Theemaschine singt einen so melodischen Discant, man vergißt darüber ganz, was in dieser besten Welt gewöhnlich für ein mißtöniges Hundewetter ist.

Er gab Vater und Tochter die Hand und verließ das kleine Haus in einer seltsam widerspruchsvollen Stimmung. Was soll man wünschen! rief er vor sich hin, indem er fühllos gegen den Schneewind am Geländer des Flusses stehen blieb und in die trostlos dunkle Tiefe starrte. Dieser Mann, dem Alles zum Besten dienen muß, weil er sich als ein Kind Gottes wohlaufgehoben glaubt in Zeit und Ewigkeit, der mit Allem vorlieb nimmt, mit seiner Beschränktheit, seiner Schwäche, seinem Können und Nichtkönnen – der aus jeder Noth eine Tugend macht, selbst aus der Herzensnoth seines einzigen Kindes, das er doch liebt – ist er nun ehrwürdig oder abscheulich? Ist diese Gottsucht, die ihm Alles adelt, ihm hinter jedem Zaun ein Paradies zeigt, ist sie nicht im Grunde doch auch nur verkappte Selbstsucht? diese Frömmigkeit nicht doch auch, von der geistigen Verblendung abgesehen, eine moralische Selbstverhätschelung auf Kosten Anderer? Ich, der ich zum ersten Mal dieses Haus betrete, ich kann das liebe Mädchen nicht ohne Mitleiden und Ingrimm über ihr Loos 143 betrachten, und der eigene Vater bringt es übers Herz, im Vertrauen auf die Gnade seines lieben Gottes, der das verirrte Schaf schon wieder zur Heerde zurückführen werde, wenn der Wolf nur erst unschädlich gemacht sei, zu sehen, wie das schöne, sinnige, geduldige Wesen sich verzehrt, weil man ihm die rechte Nahrung vorenthält! Wahrhaftig, wir Wilde sind doch bessere Menschen! Wenn ich je eine Tochter haben sollte – –

Er vollendete den Satz nicht. Der Sturm trieb ihm plötzlich ein so heftiges Schneegestöber ins Gesicht, daß er Mund und Augen eine Weile schließen mußte und sich unwillkürlich an das Geländer anklammerte. Als er wieder aufsah, schien der Anfall wunderbarer Weise plötzlich ausgetobt zu haben; der Mond trat sogar mit nebligem Schimmer aus dem schwarzen Gewölk, und einen Augenblick sah man deutlich die Häuser drüben am Quai, in denen, da es auf Mitternacht ging, nur noch hie und da ein Licht flimmerte.

Es wird Zeit, nach Hause zu gehen, murmelte der Verspätete. Da unten in den Kähnen schläft auch schon Alles. Wie einem Menschen zu Muthe sein muß, der in der Kajüte eines Spreekahns zur Welt kommt und darin wieder stirbt, nachdem er sechzig Jahre lang von seinem Fenster aus in diese Cloaca maxima geblickt hat!

Er war noch nicht hundert Schritte längs dem Flusse hingegangen, als er unten auf einem der größten mit Holz beladenen Kähne einen Haufen Menschen bemerkte, die in aufgeregter, aber verstohlener Geschäftigkeit zu einem Knäuel zusammengedrängt auf dem Verdeck 144 standen. Nur dann und wann flog der Schein einer rothen Schifferlaterne über die Gruppe und beleuchtete die breiten, blondhaarigen Gesichter von Männern und Frauen, die etwas am Boden Liegendes umstanden und miteinander zu streiten schienen, was damit anzufangen sei, Alles aber mit gedämpften Stimmen, als ob ihnen daran liege, die Sache unter sich abzumachen.

Oben an der Wassertreppe, der Scene gerade gegenüber, blieb Mohr stehen und strengte sich an, die Ursache des nächtlichen Zusammenlaufs zu erkennen.

Eine scharfe Weiberstimme ließ sich jetzt aus dem Summen und Murmeln vernehmen.

Uns den nassen Klumpen Unglück aufladen? Das fehlte noch! Da hätten wir viel zu thun. Das ist nun schon die dritte charmante Bescherung in dieser Woche: erst der besoffene Leiermann, dann das neugeborne Wurm und jetzt –

Schrei' nicht so, Mutter, begütigte sie ein stämmiger Kerl, der die Laterne eben seinem Nachbarn aus der Hand riß und der liegenden Gestalt ins Gesicht leuchtete. Du hetzest uns die Polizei auf den Hals.

Das will ich auch, rief das Weib, nun erst recht! Wie wir vergangene Ostern die Nähmamsell aus dem Wasser gezogen haben, und ich habe sie noch in mein eigenes Bette gebracht und ihr einen Thee gekocht, bis sie wieder zu sich kam – was that das liederliche Stück? Stahl noch denselben Tag in einem Laden sechs Paar Handschuhe, und weil wir sie bei uns gehabt hatten, mußten wir auch noch vor die Polizei, als ob wir 145 Hehlerei trieben. Und ich sollte mich noch einmal mit Menschenfreundlichkeit einlassen? Gott behüte und bewahre! Gleich auf die Polizei mit der ganzen Selbstmörderbrut und damit Punctum. Karl, du ziehst dir was Warmes an und läufst, was du laufen kannst, bis du einen Schutzmann findest. Wir hätten hier eine unbekannte weibliche Frauensperson aus dem Wasser gezogen, die mausetodt wäre und so weiter.

Halt, rief plötzlich eine rauhe Stimme dazwischen. Alle wandten sich nach der Wassertreppe um und sahen verwundert Mohr in großen Sätzen die Stufen herabstürmen und über den schmalen Steg aufs Verdeck stürzen.

Im nächsten Augenblick hatte er dem Schiffer die Laterne aus der Hand gerissen und war neben der Entseelten in die Kniee gesunken. Der Lichtschein fiel grell auf das bleiche Gesicht, um dessen halbgeöffnete Lippen noch der Krampf des scheidenden Bewußtseins zu zucken schien. Die finstern Augenbrauen waren schmerzlich gespannt, von den Augen selbst schimmerte nur ein schmaler Streif unter den müde zugedrückten Lidern vor. Dieses starre, fast männliche Gesicht hatte durch den Tod einen weichen, kindlich hülflosen Ausdruck erhalten, der nun selbst auf die rohen Gemüther der Schiffsleute eine versöhnende Macht ausübte.

Mohr ließ die Laterne fallen, daß sie erlosch. Einen Augenblick war schwarze Nacht auf dem Verdeck.

Als die Frau des Kahnführers, die durch den plötzlichen Zwischenfall völlig verstummt war, die Laterne wieder angezündet hatte, richtete Mohr sich auf. 146

Wie lange ist es her, daß ihr die Dame gefunden und herausgezogen habt? fragte er.

Noch keine halbe Stunde. Seit wann sie aber schon geschwommen hat, kann Keiner wissen, sagte der Mann, dem der Kahn gehörte. Ich hatte schon geschlafen, und plötzlich wache ich auf, weil mir einfällt, meine neue Jacke liegt noch draußen, und wenn's die Nacht so fortschneit, ist sie morgen ruinirt. Wie ich nun hier ans Steuerruder komme, höre ich was unten im Wasser, wie ein Kloben Holz, der gegen die Wand schlägt. Das Frauenzimmer hat einen harten Schädel, daß er bei der Gelegenheit nicht caput gegangen ist. Kennen Sie sie, Herr?

Mohr antwortete nicht. Er hatte genug zu thun, sich zu fassen und in der Eile mit sich zu Rathe zu gehn.

Habt ihr eine Trage? fragte er. Ihr könnt drei harte Thaler verdienen, wenn ihr die Dame darauflegt und sie nur hundert Schritte weit nach einem Hause transportirt, wo man sie aufnehmen wird. Für alles Uebrige steh' ich, und wenn's nachträglich vor die Polizei kommt, daß ihr's nicht angezeigt habt, nehme ich die Verantwortung auf mich. Aber schnell, eh es zu spät ist! – So! legt sie ausgestreckt nieder und deckt sie mit diesem Mantel zu! Und nun vorwärts! –

Kein Wort wurde mehr gesprochen. Seine rasche, gebieterische Art, die verheißene Belohnung und die Aussicht, sich die unbequeme Geschichte vom Halse zu schaffen, trieben die Schiffsleute zur Eile. Zwei stämmige Männer hoben die Regungslose auf eine flache Tragleiter, die zum Ausladen der Obstkörbe gebraucht 147 wurde, und banden sie über der Brust mit einem breiten Gurte darauf fest. Kleider und Haare troffen noch, als sie aufgehoben und sorgsam die Wassertreppe hinaufgeschafft wurde. Dann setzten sich die Träger mit ihrer Last in Bewegung, während die Uebrigen unten auf den Kähnen zurückblieben, das Geld unter sich vertheilend. Nur Mohr folgte der Bahre. Er hatte sich nicht getraut, die Leblose anzurühren; nur im Hinauftragen, als er neben ihr blieb, um zu verhüten, daß sie nicht herabfalle, hatte ihre niederhängende Hand sein Gesicht gestreift, mit einer eisigen Kälte, von der ihm alles Blut erstarrt war.

Vor dem nahen Häuschen des Malers hieß er die Träger warten. Er mußte lange an dem Glockenzuge reißen, der am Thor des Holzplatzes angebracht war, bis man drinnen sich regte. Furchtbar lange Minuten! Wer sagte ihm, ob es nicht an hundert Athemzügen mehr oder weniger hing, daß diese unbewegte Brust noch einmal Lebensluft einsaugen würde?

Nun ging endlich drinnen hinter den Holzhaufen eine Thür, ein Lichtschein wankte ihm entgegen, er hörte die Stimme des Zaunkönigs: was es noch so spät gebe? Wenige Worte genügten, den gutherzigen kleinen Mann zu athemloser Eile anzutreiben. Alsbald öffnete er mit zitternden Händen das Pförtchen neben dem großen Thor, und ohne weiter eine Silbe zu sprechen, bewegte sich der traurige Zug durch die finstere Gasse dem kleinen Hause zu. 148



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