Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Zweites Buch.

Erstes Kapitel.

Wer es unternimmt, eine »wahre Geschichte« zu erzählen – und die unsere ist so actenmäßig beglaubigt, wie irgend eine, die ein Romanschreiber jemals als »aus Familienpapieren mitgetheilt« auf sein Gewissen nahm – wer das Leben darstellt, wie es erlebt, nicht erdichtet wird, muß sich auf allerlei Einrede und Widerspruch gefaßt machen. Das Unwahrscheinlichste ist bekanntlich das, was am häufigsten geschieht, und Nichts findet wiederum weniger Glauben, als was Niemand bezweifelt: daß es Ausnahmen von der Regel giebt. Auch auf der Bühne sind wir es nicht gewohnt, daß ein Liebhaber eine Charakterrolle spielt, so wenig es den Lesern dieser durchaus wahrhaftigen Geschichte einleuchten wird, wenn wir die urkundlich nachgewiesene Thatsache berichten, daß Edwin, seinem freiwilligen Gelübde getreu, wirklich das Ende der Woche heranwartete, ehe er das gefährliche Haus in der Jägerstraße wieder betrat, ja daß er selbst noch eine Verschärfung hinzufügte, indem er es erst Nachmittag werden ließ und bis dahin sich wie sonst beschäftigte. Daß wir wissen, wie alt er geworden, 206 ehe ihn die erste Liebe befiel, macht die Sache nur unglaublicher, da »Kinderkrankheiten« in reiferen Jahren nur um so heftiger aufzutreten pflegen. Von seiner Philosophie, von dem Einfluß dieser gestrengen Wissenschaft auf seine Gemüthsart haben wir noch zu wenig Proben erhalten, um seine stoische Enthaltsamkeit daraus zu erklären. Wie sich's damit aber auch verhalten haben mag: als er endlich an jenem Sonnabend Nachmittag den verhängnißvollen Weg antrat, befand er sich in einer nichts weniger als philosophischen Verfassung. Die Hand zitterte merklich, mit der er Balder über das Haar strich; statt der zwei Bändchen des Wilhelm Meister, die er zu sich stecken wollte, ergriff er nur den zweiten und den Band mit der Farbenlehre, die bei der schönen Geheimnißvollen schwerlich den Sieg über ihren Balzac davontragen konnte. Dem Meister Feyertag aber, der ihn unten im Hof in ein gebildetes Gespräch zu verwickeln suchte, antwortete er so confus, daß der wackere Mann sehr glücklich darüber war und seiner Frau erzählte, der Doctor fange an, vor seiner Intelligenz und geistigen Impotenz Respect zu kriegen; er habe ihm heute Dinge gesagt, die furchtbar gelehrt und beinah ganz unverständlich gewesen seien.

Unterwegs suchte unser nicht eben heldenhaft gestimmter Held sich auf den Fall vorzubereiten, den er fast als eine Gunst des Glückes ansah: daß er sie nicht zu Hause finden, oder abgewiesen werden möchte. Er beschloß, dies wie ein Mann zu ertragen und keinen Versuch zur Bestechung und Aushorchung der gestreiften Weste zu machen. Als ihn aber der gravitätische Knabe 207 mit den Worten empfing: Fräulein sind zu Hause und lassen den Herrn bitten, einzutreten – kam es ihm doch vor, als wäre es ihm ganz unmöglich gewesen, wieder zu gehen, ohne sie gesehen zu haben.

Als er den kleinen rothen Salon betrat, stand sie von dem Tischchen auf, an dem sie geschrieben zu haben schien, und ging ihm mit der unbefangensten Freundlichkeit entgegen, wie einem alten Bekannten, den man längst erwartet hat. Die ablehnende Kälte war aus ihren Zügen verschwunden; nur der Ausdruck einer gewissen helldunklen Zerstreutheit erinnerte manchmal an ihr früheres Gesicht. Sie dankte ihm, daß er Wort gehalten und sogar wieder etwas Neues bringe. Aber, fügte sie hinzu, ich darf Sie nicht ferner bemühen, zumal wenn Sie es so machen, wie das erste Mal, und die Bücher draußen abgeben. Sie werden Ihre Zeit besser anwenden können, als mit Botengängen für eine Unbekannte, und daß die nähere Bekanntschaft der Mühe lohnen würde, kann ich Ihnen nicht verbürgen.

Er antwortete mit einer höflichen Phrase, die Nichts von dem verrieth, was in ihm vorging. Ihre Gegenwart hatte es ihm wieder so wunderlich angethan, daß er eine Weile brauchte, um sich zu sammeln. Sie schien ihm heute, in einem einfachen Kleide von roher Seide, das Haar leicht in Zöpfe geflochten und wieder ohne allen Schmuck, noch unglaublich reizender als die ersten Male. Dazu war etwas Scheues, fast Trauriges in ihrer Stimme und jeder ihrer Bewegungen, was ihn mitansteckte und mehr als ihre frühere Sicherheit einschüchterte. 208

Sie wären gewiß auch heute wieder fortgegangen, wenn ich Sie nicht ausdrücklich hätte hereinbitten lassen, sagte sie. Es hätte aber so viel Discretion nicht bedurft, um mich zu überzeugen, daß Sie eine Ausnahme machen von der allgemeinen Regel. Ich wußte gleich in der ersten Viertelstunde damals: Sie sind nicht wie die anderen Männer, vor deren Zudringlichkeit ein alleinstehendes Mädchen sich nur mühsam schützen kann. Darum habe ich mich darauf gefreut, Sie wiederzusehen, Ihnen mündlich zu danken. Ich lebe so ganz allein, und obgleich es mein eigener Wunsch ist, die Tage sind doch lang, das Bedürfniß, einmal eine andere Stimme als das Gezwitscher der Vögel und die nichtssagenden Bemerkungen dienstbarer Geister zu hören, meldet sich, ehe man es denkt. Auch, was man gelesen hat, möchte man gern besprechen. Nur freilich – setzte sie zögernd hinzu und tippte mit ihrem rosigen Zeigefinger auf das Buch neben ihrer Schreibmappe – gerade über das zu reden, was Sie mir neulich gebracht haben –

Was haben Sie davon gelesen?

Viel von den Gedichten; ich kannte sie fast alle schon aus Sammlungen, einige selbst aus der Schule. So zusammen aber sind sie erst recht schön, so weit ich sie verstehe. Dann aber – den Werther; zum ersten Mal; – Sie werden es kaum glauben, obwohl ich schon einundzwanzig Jahre alt bin.

Sie Beneidenswerthe!

Wie so?

Ich habe ihn zu funfzehn Jahren verschlungen, 209 damals viel zu jung und grün, um dies schönste und reifste von allen Jünglingswerken zu genießen.

So bin ich vielleicht schon zu alt, sagte sie erröthend, oder noch immer zu jung. Denn – es wird Ihnen sehr einfältig und vielleicht ganz unbegreiflich scheinen: ich habe Mühe gehabt, damit durchzukommen.

Das heißt, verbesserte sie sich rasch, alles Einzelne fand ich wunderschön, das Feuer, die Klarheit, die hohen, melancholischen Gedanken, und wie die Natur ihm lebendig wird – ich habe mir Manches aufgeschrieben, um es immer wieder zu lesen. Aber das Ganze, die Geschichte selbst – Sie werden mich gewiß für kindisch oder herzlos halten, wenn ich Ihnen gestehe, daß es mich nicht ein bischen gerührt hat, wie Werther sich mit der Pistole erschießt.

Er sah ihr ruhig lächelnd in die schwarzen Augen.

Nicht einmal so viel, wie der »Père Goriot« Sie gerührt hat? – sagte er.

Nein, versetzte sie halblaut. Ich kann mir nicht helfen, es ergreift mich Nichts, was ich mir nicht allenfalls auch zutrauen könnte. Dieser gute Vater Goriot, dem Alles, was er für seine Töchter thut, so schlecht gelohnt wird, die Töchter selbst, die eine förmliche Leidenschaft haben, viel Geld auszugeben und fabelhaften Luxus zu treiben, das verstehe ich Alles sehr gut. Ich habe auch einen Vater gehabt, der sich für mich aufgeopfert hätte, wenn es hätte sein müssen, wie ich für ihn, und wie man sein Herz an tausend schöne Dinge hängen kann, die nur die Reichen besitzen dürfen, das ist mir auch nichts Fremdes. Aber 210 daß ein Mensch nicht mehr leben mag, weil er – weil er verliebt ist – in die Frau eines Anderen – davon habe ich gar keine Vorstellung. Was sehen Sie mich so an? Glauben Sie mir nicht? Das können Sie dreist. Ich sage immer, was ich denke.

Ich sehe Sie nur an, sagte er, weil ich Ihre Worte, an denen ich nicht zweifle, mit Ihrem Gesicht und Ihren einundzwanzig Jahren nicht zu reimen weiß.

Und warum nicht?

Halten Sie es nicht für eine abgeschmackte Galanterie: aber mit solchem Gesicht, dächt' ich, geht man nicht einundzwanzig Jahre durch die Welt, ohne wenigstens an Anderen zu erleben, zu welchen lebensgefährlichen Thorheiten ein sterblich verliebter Mensch sich fortreißen läßt. Und sollte Sie das nie gerührt haben, wenn Sie Jemand unglücklich gemacht hatten, auch wenn Ihr eigenes Herz aus dem Spiele blieb? Sie werden auch wohl den Hunger nur vom Hörensagen kennen, und doch rührt Sie der Anblick des Elends.

Freilich, erwiederte sie nachdenklich; aber Sie irren, wenn Sie glauben, ich selbst hätte nie Noth gelitten. Ich habe Zeiten erlebt – aber das ist eine Sache für sich. Was mir dagegen von Liebe vorgekommen ist – entweder ist es mir unwahr und lächerlich erschienen, oder es hat mir geradezu Abscheu und Grauen erregt, niemals Mitgefühl.

Sein Erstaunen wuchs mit jedem ihrer Worte, deren Aufrichtigkeit er nicht bezweifeln konnte. Aber wenn es so war, wie sie sagte und ihr unschuldig ernster Blick 211 bestätigte – wie war sie in jener mehr als zweideutigen Gesellschaft in diese verdächtige Wohnung gekommen? Warum, wenn sie nichts zu bereuen hatte, diese Flucht vor den Menschen, diese räthselhafte Vereinsamung, bei solcher Jugend und Unabhängigkeit?

Er merkte, daß sie ihn über sein Verstummen verwundert ansah, und sagte, nur um etwas zu sagen:

Wenn Sie so gering von der Leidenschaft denken, die bekanntlich seit Anfang der Schöpfung neben dem Hunger allein das Weltgetriebe erhalten hat, so hat Ihr Romanlieferant allerdings eine schwere Aufgabe. Oder wäre Ihnen mit Tendenzromanen nach neuestem Muster gedient, durch die sich nur gerade so viel Liebesgeschichte hindurchzieht, als nöthig ist, um die Leihbibliotheken nicht von vorn herein abzuschrecken?

Nein, lachte sie, ich bin gar nicht so verwöhnt. Mein Gott, was hab' ich meinem guten seligen Vater Alles vorlesen müssen, immer nur französische Sachen, die manchmal, wie ich wohl merkte, wenn er mich ein Kapitel überspringen ließ, wenig für ein junges Mädchen taugten. Aber wissen Sie, was ich nicht begreife? Warum die Herren Schriftsteller ihren Vortheil so schlecht verstehen und nicht lauter Geschichten schreiben, in denen es recht hoch hergeht, recht vornehme, reiche, glänzende Verhältnisse, schöne Parks, Schlösser, eine zahllose Dienerschaft, jeden Abend Feuerwerk, Concert und Ball. Dergleichen werde ich nie müde zu lesen, wie ich auch als Kind immer wieder die Märchen lesen konnte, in denen eine Fee oder ein Zauberer über Nacht prächtige Paläste 212 aufbaut, aus Gold und Edelsteinen, die Krippen der Pferde von Silber, die Hufe mit Diamanten beschlagen. Soll nicht die Poesie eine schönere Welt schildern, als diese uns nur zu gut bekannte mit all ihren petites misères? Statt dessen sind nun die Dorfgeschichten Mode geworden, von denen so viel Wesens gemacht wird. Wem mag das nur amüsant sein, zu lesen, wie Christen eine Frau sucht und bald einen reinlichen, bald einen verwahrlos'ten Bauernhof betritt? Und dann handelt es sich immer um ein paar hundert Thaler mehr oder weniger; wenn die da wären, wäre die ganze Geschichte aus. Sehen Sie, und das – Sie müssen mir meine Offenherzigkeit nicht übel nehmen – das ist mir auch im Werther so seltsam gewesen: lauter beschränkte Verhältnisse, kleinbürgerliche, kleinstädtische Menschen, und die Heldin selbst – ich will nicht von den Butterbroden reden – aber ist das eine große, vornehme Seele? Liebt sie nun Werther oder liebt sie ihn nicht? Und wenn sie ihn liebt – aber Sie lächeln. Ich sage gewiß recht dumme Sachen. Belehren Sie mich nur, wenn es Ihnen der Mühe werth scheint. Es ist so langweilig, immer nur für sich zu denken, wo man freilich immer Recht behält.

Mein theures Fräulein, sagte er, ich habe von jeher wenig Trieb gefühlt, Menschen, die mit ihrer eigenen Empfindung im Reinen waren, an sich selbst irre zu machen, auch wenn ich anders empfand. Warum sollen Sie nicht das Recht haben, Ihre Neigung nur dem Schönen und Glänzenden zuzuwenden? Ich wünsche 213 Ihnen nur, Sie gehörten zu den wenigen Bevorzugten, die ihr Lebelang die Kehrseite dieser Welt nicht zu sehen bekommen. Wer mit der einmal bekannt geworden ist, der hat freilich ein Interesse dabei, auch in der Enge und Beschränktheit dieses kümmerlichen Daseins Güter und Schätze zu finden, die ihm das Herz ausfüllen und das Leben lieblich machen. Sie aber –

Sie irren sehr, unterbrach sie ihn ernst. Ich habe Ihnen schon gesagt: auch ich weiß, wie einem zu Muth ist, wenn man im Schatten sitzt und es wärmt einen kein Strahl von der Sonne, die Anderen ihre Feenschlösser erleuchtet. Aber gerade deßhalb will ich durch Bücher an all das nicht erinnert werden, was ich hinlänglich im Leben erfahren und gar nicht lustig und »poetisch« gefunden habe. Und wie es auch mit der äußeren Misère, ihren Reizen und Freuden stehen mag: die innere Armseligkeit, die kleinlichen, halben, verkümmerten und verhungerten Empfindungen, der Druck, in dem eine Menschenseele so kläglich hinlebt – wollen Sie auch das als eine würdige Aufgabe der Dichtkunst hinstellen?

Er schickte sich eben an, ihr zu antworten, mit heimlichem Staunen, welch ein herber, schmerzlicher Ton aus ihren Reden herausklang, als die gestreifte Weste in der Thür des Eßzimmers erschien und beide Flügel weit öffnete. Der dienende Zwerg hatte seine blonden Härchen offenbar eben erst frisirt, die Halsbinde fester geschnürt und ein paar weißbaumwollene Handschuhe angezogen, die seine kurzen Kinderhände nur unbehülflicher machten. 214

Verzeihen Sie, daß ich mich in meiner Tagesordnung nicht stören lasse, sagte das schöne Wesen, plötzlich wieder in einen heiteren Ton übergehend. Sie sehen da meinen Tyrannen. So klein er ist und so unterthänig er sich anstellt – wenn ich die Essensstunde nicht einhalte, verscherze ich seine Gnade. Der junge Herr nimmt es sonst an Verstand und Pflichtgefühl mit manchem Erwachsenen auf; aber sein Magen ist noch ganz Kind. Der muß alle zwei, drei Stunden seine Gerechtigkeit haben, oder er wird sehr übler Laune. Ich darf Sie aber dennoch einladen, mein Gast zu sein. Mein Restaurant versorgt mich so reichlich, daß selbst Jean zuweilen an der Aufgabe erlahmt, die Portionen, die ich übrig lasse, zu bezwingen. Sie haben schon gegessen? So leisten Sie mir wenigstens noch Gesellschaft; denn meine gewöhnliche, die ich Ihnen gleich vorstellen werde, ist doch nur ein Nothbehelf.

Sie ging ihm rasch voran in das kleine Eßzimmer, wo der Knabe behende einen zweiten Sessel an das zierlich gedeckte Tischchen schob. Aber ehe sie sich setzte, trat sie an das Vogelhaus und öffnete das vergoldete Gitterthürchen. Sehen Sie, sagte sie, indem sie wie zum Zeichen, daß es nun anfangen solle, dreimal in die Hände klatschte, da kommen sie schon herangeschwirrt. Einige wissen wohl, was es nun geben wird und instruiren jetzt die Neulinge, die Blöden da hinten, die sich nicht herauswagen. Sie müssen nicht glauben, daß ich Vergnügen daran fände, die armen Geschöpfe hier einzusperren. Ich lasse mir nur darum fast jeden Tag neue kaufen, lauter 215 einheimische, wie Sie sehen, um sie hier ein bischen zu füttern und dann, wenn sie mir bei Tische Gesellschaft geleistet haben, sie wieder fliegen zu lassen. Manche freilich wollen nicht wieder weg; denen ist nicht zu helfen. Wer um gute Kost und Pflege seine Freiheit daran geben mag, der soll nur hinterm Gitter bleiben. Tu l'as voulu!

Er hörte das still mit an, indessen sich ein Theil der bunten, gefiederten Schaar aus dem Käfich stürzte, auf dem Tisch und in den Winkeln des Zimmers herumflatterte, während die Anderen scheu im Bauer blieben. Das Fenster stand weit offen; einige der unscheinbarsten, nachdem sie sich einen Augenblick besonnen, auf dem Fensterbrett ihre Schnäbel gewetzt und die Flügel probirt hatten, schwangen sich mit lautem Zirpen und Zwitschern hinaus. Die übrigen, unter denen ein schöner Goldfink der vornehmste zu sein schien, drängten sich um das Büffet und die zugedeckten Schüsseln auf dem Tisch, in begieriger Erwartung der Dinge, die da kommen sollten.

Ich will gern den ganzen Tag allein sein, sagte die junge Herrin, als sie nun Platz genommen und Edwin mit einer reizenden hausfräulichen Geberde auf den Stuhl ihr gegenüber genöthigt hatte; aber allein zu essen, ist schrecklich. Man kommt sich niemals so unmenschlich, so selbstsüchtig und hartherzig vor, als wenn man ganz allein einen Bissen nach dem andern in den Mund steckt. Ich denke dann gleich an die Hunderttausende, die jetzt nichts zu essen haben; das kann mir meine Lieblingsgerichte verleiden, daß ich mit einer wahren Angst mich kaum halb satt esse. Nun sehen Sie aber dieses ungezogene 216 Gesindel! Wie sie sich um jedes Krümchen zanken und raufen und der größte Fresser da, die kleine Elster, den Amseln nicht einen Bissen gönnt! Willst du wohl bescheiden sein, du häßliches Ding?

Sie nahm ein silbernes Salzlöffelchen und tupfte dem Vogel, der sich so breit machte, ein paarmal sacht auf den Rücken, ohne mit ihrer Erziehung einen besonderen Eindruck zu machen. Dann schnitt sie kleine Biscuits von ihrem Nachtisch in Würfel, streute von den verzuckerten Mandeln dazwischen und vertheilte diese Leckerbissen auf ein halb Dutzend kleine Teller, die sie im Kreise auf dem Tisch herumstellte. Sogleich sammelten sich die Schmarotzer um ihr Futter; nur wenige Schüchterne, die auf dem Büffet blieben, nahmen mit den Krümchen vorlieb, die sie ihnen zuwarf, während die Kecksten sich auf den Rand der Fruchtschale gesetzt hatten und ungestört von den prachtvollen Birnen und Pfirsichen schmaus'ten.

Indessen fing sie selbst an zu essen, nachdem sie Edwin vergebens wiederholt genöthigt hatte, und bestand wenigstens darauf, daß er den süßen spanischen Wein versuchen mußte, von dem sie aus einem schlanken Krystallgläschen nur nippte, um ihm Bescheid zu thun. Sie aß auch in demselben Stil, winzige Portionen, die sie mit dem silbernen Besteck gleichsam vom Teller wegpickte, und während sie von vier- oder fünferlei Gemüsen naschte und nur einer süßen Speise reichlicher zusprach, rührte sie die Fleischgerichte kaum an. Er scherzte mit ihr darüber: ob sie zu den Vegetarianern gehöre. Sie ließ 217 sich den Namen von ihm erklären, den sie nicht verstand. Das ist eine schöne Einrichtung, sagte sie mit nachdenklichem Kopfnicken. Ich bin eigentlich eine geborene Vegetarianerin, ohne es bis heute zu wissen, und habe mich oft genug darum auslachen lassen. Sehen Sie das Rebhuhn da, wie es seinen gebratenen Schnabel so wehmüthig in die eigene gespickte Brust bohrt! Ich kann das nicht ansehen, ohne mir Gewissensbisse zu machen, daß ich an dem frühen Hintritt dieses lebensfrohen Geschöpfes Schuld bin. Und das gute Wesen habe ich nicht einmal persönlich gekannt. Aber von den Hühnern zu essen, die meine Mutter selbst gemästet hatte, konnte ich nie übers Herz bringen. Sie nannte das Affectation! Lieber Gott, dazu hatte ich damals einen viel zu gesunden Appetit, um sentimental zu sein auf Kosten meines Magens. Jetzt habe ich an Wenigem genug und glaube, ich könnte ganz von Brod und Früchten leben.

Wie sie das Alles sagte, mit einer Mischung von harmloser Munterkeit und weiblicher Bewußtheit, dazu die vollendete Sicherheit ihres Benehmens ihrem Gast gegenüber – es wurde ihm mehr und mehr räthselhaft, was er von dem wundersamen Wesen denken sollte. Er hatte wenig mit Frauen verkehrt, die ihm besonders merkwürdig geworden wären. Diesem Problem gegenüber, das auch erfahrenen Weiberkennern auf zu rathen gegeben hätte, kam all seine psychologische Weisheit zu kurz. Nur das sagte ihm ein innerstes Gefühl, das sich nicht irre machen ließ: was auch verkehrt, unheilvoll oder gefährlich in dieser Natur oder ihrem Schicksal sein mochte, 218 das Grundwesen war rein und unverfälscht, und selbst die offenbare Koketterie, mit der sie sich in der Rolle einer Fee unter ihren in Vögel verzauberten Prinzen gefiel, hatte etwas harmlos Phantastisches und stand ihr so natürlich zu Gesicht, wie einem Kinde, das im Spiel sich mit allerlei Bändern und Flittern zu einer Prinzessin herausputzt.

Sie sind so still geworden, sagte sie, indem sie eine Frucht schälte und ihm die eine Hälfte auf den Teller legte. Ich merke, es ist Ihnen irgend etwas an mir nicht recht, vielleicht die Unbefangenheit, mit der ich Sie wie einen alten Bekannten behandle. Sagen Sie es offen; ich werde mich freilich nicht ändern können, aber ich möchte Ihnen keinen Zwang anthun.

Ich sinne, sagte er, über den wunderlichen Zufall nach, der mich an diese Stelle gebracht hat. Ist es nicht in der That wie ein Märchen, daß ich Ihnen hier Gesellschaft leiste, und Sie kennen nicht einmal meinen Namen, und ich weiß von Ihnen nicht mehr, als nur den Namen?

Sie hob das silberne Fruchtmesser, das sie in der Hand hielt, auf und drückte es gegen ihren noch eben lachenden Mund, mit einer schalkhaft geheimnißvollen Miene. Lassen Sie sich das genug sein, sagte sie; dies Alles geht ganz mit rechten Dingen zu, ohne jede Zauberei oder schwarze Kunst. Aber gerade darum ist es besser, man freut sich daran, so lang es dauern kann, und verdirbt es sich nicht durch Grübeln oder Nachforschen.

Wird es denn dauern? fragte er ernst.

Noch ein Weilchen, ein paar Wochen vielleicht, wer 219 weiß? Hernach – was hernach kommt, weiß Niemand. Aber wenn es Ihnen wie ein Märchen vorkommt, seien Sie so freundlich und so klug, es dabei zu lassen, dringen Sie nicht weiter in mich, daß ich Ihnen den Zusammenhang erklären soll. Es ist gar nichts Besonderes dahinter, wenigstens nichts besonders Hübsches oder Lustiges. Daß ich Sie kennen gelernt habe, freut mich wirklich; ich war gar zu allein, und in meiner Lage mußt' ich mich vor allen Bekanntschaften hüten, denen ich nicht unbedingt trauen konnte. Warum ich Ihnen gleich vertraut habe, – ich weiß es nicht; aber es ist einmal so, und es würde mich recht betrüben, wenn Sie nicht gut von mir dächten, oder durch meine aufrichtigen Urtheile über Dies und Das, was ich lese oder erlebe, sich davon abschrecken ließen, wiederzukommen. Es darf nicht zu oft sein. Ich will das Geschwätz der Leute nicht herausfordern; aber ein paarmal in der Woche und um diese Stunde vor dem Theater – nur dürfen Sie dann nicht vorher zu Hause gegessen haben. Wollen Sie mir das versprechen?

Sie stand auf und hielt ihm die Hand hin, die er rasch ergriff und herzlich drückte.

Gesegnete Mahlzeit! sagte sie lächelnd. Wir haben das im Hause meiner Eltern gesagt, und es fehlt mir hier, daß Niemand es mir sagt. Jean hat zu viel Respect, und von den Vögeln läßt sich keiner dazu abrichten. Also: ich sehe Sie bald wieder, und Sie bringen mir dann auch die anderen Goethe'schen Sachen, von denen Sie gesprochen haben. 220

Er verneigte sich stumm, indem er die Hand unwillkürlich betheuernd aufs Herz legte, und verließ sie in der wunderlichsten Verfassung.

Als er aus dem Hause trat, fuhr eben ein leichter Wagen vor; der Herr, der selbst kutschirt hatte, warf die Zügel dem hinter ihm sitzenden Bedienten zu und sprang mit dem Ruf: Doctor, sind Sie des Teufels? lachend heraus.

Marquard! Du? Hast du einen Patienten in diesem Hause?

Nur einen, der, wie ich sehe, meine ärztlichen Bemühungen überflüssig macht, da er die Kur selbst in die Hand nimmt. Oder kommst du nicht eben von ihr?

Von ihr? Ich verstehe dich nicht.

Heuchler! Als sähe ich nicht des Herzens Glut schon durch deine Weste brennen! (Marquard liebte die Citate aus Heine.) Bester Junge, einen alten Diagnostiker meines Schlages wirst du so leicht nicht irre führen. Aber wie zum Henker hast du denn ihre Spur wieder aufgefunden?

Laß uns ein paar Schritte die Straße hinuntergehen, sagte Edwin erröthend. Die Fenster stehen offen, man hört oben jedes Wort.

Er faßte den Doctor unter den Arm und zog ihn fort, während er ihm halblaut die Geschichte von dem verlorenen Buchzeichen erzählte, es im Zweifel lassend, ob das zufällige Begegniß sich erst heut zugetragen habe. Und du? schloß er hastig. Wie hast du es herausgebracht, daß hier unsere Logennachbarin wohnt? 221

»Kraft der Ader, die ich rühmlich schlug,« declamirte Marquard mit parodischem Pathos. Nicht älter als zwei Tage ist die Erneuerung meiner Bekanntschaft mit dieser schönen Sphinx, und ich fürchte, sie wird auch diesen dritten Tag nicht lange überleben. Vorgestern, während ich in einem der Häuser drüben einen Kranken besuche, wird plötzlich nach mir geschickt, ein Knabe sei gefährlich krank geworden, ich möchte eilig hinüberkommen – eben in dieses Haus, vor dem wir uns getroffen haben. Wie ich auf Flügeln der Berufspflicht die Treppe hinaufeile und in die Wohnung der Beletage trete – Edwin, ein Arzt ist ein beneidenswerthes Wesen! Alle Thüren öffnen sich ihm, die vor euch gewöhnlichen Sterblichen nur zufällig einmal aufspringen, wenn ihr als ehrliche Finder oder – spitzbübische Sucher anklopft. Stelle dir mein freudiges Erstaunen vor, als das schöne Räthsel, das in der Loge mich so eisig abgefertigt hatte, nun in der holdesten Verwirrung des Schreckens mir entgegenkommt und meine Hülfe in Anspruch nimmt.

Sie war krank?

Nicht sie selbst. Aber sie hat ein Jüngelchen zur Bedienung, eine lächerliche kleine Range, die mich schon amüsirt hatte, als sie mich drüben abrief. Die geheimnißvolle Unbekannte – die übrigens ein gutes Gemüth zu haben scheint, zumal gegen Unmündige – hatte ihrem Groom erlaubt, einen jüngeren Herrn Bruder zu sich einzuladen, und die beiden jungen Lebemänner waren im Bedientenzimmer über eine Flasche Capwein her gewesen, wozu sie eine schauderhafte Cigarre geraucht 222 hatten. Der in solchen Sünden schon verhärtete Magen in der gestreiften Weste hatte die Orgie ohne Schaden überstanden. Der hoffnungsvolle Jean jun. dagegen lag blaß wie eine geknickte Lilie auf dem Bett seines Bruders und hatte das gnädige Fräulein, das den Grund nicht ahnte – die jungen Zechbrüder hatten die Flasche vorsorglich bei Seite geräumt – in einen tödtlichen Schrecken versetzt. Nun konnte ich es Jean, der mich verständnißinnig anblinzte und mich schon unterwegs ins Vertrauen gezogen hatte, unmöglich zu Leide thun, den Fall leicht zu nehmen. Auch sind glückliche Heilungen schwerer Fälle für junge Aerzte empfehlender, als die Behandlung eines Katzenjammers. Ich habe also den bleichen Taugenichts in meinem eigenen Wagen zu seinen arglosen Eltern zurückgebracht und gestern bereits über seine raschen Fortschritte in der Reconvalescenz Bericht erstattet. Eben bin ich im Begriff, das zweite Bülletin zu überbringen; da aber der Patient bereits wieder mit dem besten Appetit Birnen und Klöße aß, als ich ihn verließ, und seine edle Gönnerin ihn selbst zu besuchen vorhat, begreifst du, daß ich nicht viele Visiten mehr im Feeenschlosse zu machen habe; was mir sehr leid that – vor Allem deinetwegen, da meinem Versprechen gemäß –

Ich habe dir schon neulich gesagt –

Daß du ein Cato bist oder ein Plato, was du nun vorziehst. Indessen – auch ohne dir jetzt den Puls gefühlt zu haben – sehe ich an deinem ganzen Habitus, daß du auf dem geradesten Wege bist, es nicht lange mehr zu bleiben. Meinen besten Segen zu deiner Bekehrung, 223 alter Junge, und besseres Glück, als mir zu Theil geworden.

Dir?

Nun, du wirst mir zutrauen, daß ich bei dem gestrigen Besuch mir alle Mühe gab, nicht nur den erfahrenen Arzt, sondern auch den tiefen Kenner des weiblichen Herzens und weiblicher Schönheit herauszubeißen. Oleum et operam, Bester! Eine Statue, sag' ich dir, eine marmelsteinerne Sphinx wäre von meiner Liebenswürdigkeit gerührt worden. Dieser junge Gletscher in Brüssler Spitzen blieb so unnahbar wie am ersten Abend. Und wirst du's glauben: auch mein heimlicher Verbündeter, Jean der Kleine, der mir doch Dank schuldig wäre –: was seine Herrin betrifft, ein rocher de bronze! – Das Kammermädchen, meine letzte Hoffnung, kam nicht zum Vorschein. Und so bin ich heute noch so klug, wie vorher, oder eigentlich nur noch dümmer. Denn all meine Sachkenntniß und Seelenkunde haben mich nicht darüber aufgeklärt, was ich von unserer einsamen Schönheit zu halten habe, ob sie zur halben, ganzen oder gar keiner Welt gehört.

Es wird nicht an Leuten fehlen, die dir endlich doch auf die Spur helfen.

Mag sein, daß Andere mehr wissen, sagte der Arzt, indem er stehen blieb und seine Brille putzte. Indessen, wie ich dir schon neulich sagte: ich gebe sie auf. Ich trete sie dir hiermit zum zweiten Mal und für ewige Zeiten ab und schwöre bei den Gensdarmenthürmen dort, daß es mich nicht einmal viel kostet. Sie ist eine 224 Amphibie, eine schöne, ganz tadellose, ganz zum Verrücktmachen geschaffene junge Schlange. Ich lobe mir das warme rothe Blut. Ich habe da etwas ausfindig gemacht – curioser Weise in eurem Hause – eine Soubrette, die bei eurem Klavierfräulein Stunde nimmt – gar nichts so Exquisites und Prinzeßliches, wie unsere Sphinx – aber dafür – du weißt ja: »die Sterne, die begehrt man nicht« – wenn man nicht ein unverbesserlicher Idealist und Sterngucker ist, wie gewisse Leute!

Er schüttelte Edwin lachend die Hand und trat in das Haus, vor dem sein Wagen wartete. 225



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