Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Drittes Buch.

Erstes Kapitel.

Vierzehn Tage waren seitdem vergangen. Die Herbststürme, die mit aller Macht hereinbrachen, hatten das letzte fahle Blatt aus dem Wipfel der Akazie herabgewirbelt und das Gärtchen mit den Schattenpflanzen unten im Hof, sowie die dürren Ranken der Bohnenlaube durch unablässigen Regen verwüstet.

Auch oben in der »Tonne«, wo man sonst die Kunst verstand, gerade im schlechtesten Wetter den inneren Sonnenschein desto siegreicher leuchten zu lassen, hatte eine seltsam trübe, verschleierte Stimmung geherrscht, ähnlich jenen Herbstnebeln, die sich zähe zwischen Wald und Wiese hinspinnen und nur dann und wann von einem mittäglichen Strahl gelichtet werden. Ueber Edwin lag ein dumpfer Druck, den er mit aller Mannhaftigkeit nicht abzuschütteln vermochte. Mehr als der schneidendste Riß durch sein Leben, die offenbarste Absage von Seiten des geliebten Wesens machte ihm dies räthselhafte Verstummen und Verschwinden zu schaffen. Er fühlte stündlich, es war vorbei; aber zu Ende konnte es noch nicht sein. Er hatte eine Kugel im Fleisch sitzen, ganz nahe 4 an den edelsten Organen des Lebens. Ehe sie herausgezogen war, ließ sich nicht sagen, ob er es überstehen oder sich verbluten würde.

Daneben ängstigte ihn jetzt, wo er wieder das Haus hütete, Balder's Zustand. In den Tagen seiner verlorenen Liebesmühe, wo er den Bruder oft nur Mittags und spät in der Nacht zu sehen bekam, hatte dieser es ihm verbergen können, wie er seine Zeit zwischen hastiger Arbeit und völliger Erschöpfung theilte. Nun ließ sich nichts mehr verhehlen. Marquard, den Edwin gleich bei einem ersten schweren Anfall von Brustkrampf und Beklemmung zu Hülfe rief, schüttelte sehr zornig den Kopf, daß man es in unverzeihlichem Leichtsinn so weit hatte kommen lassen. Er verbot Balder jede Anstrengung und hielt ihn einige der schlimmsten Sturmtage im Bett. Balder wehrte sich lächelnd gegen seine Tyrannei. Er behauptete durchaus nicht zu leiden; vielmehr gerade in der vornübergebeugten Haltung an der Drechselbank fühle er sich freier und leichter um die Brust. Daß er dann der Sorge um ihr Leben, die immer dringender wurde, sich am leichtesten entschlage, hütete er sich wohl zu gestehen. Es half aber nichts, Edwin durchschaute die zweideutige Rede, um so mehr, da er, aus dem langen Traumzustand aufgeschreckt, jetzt zum ersten Mal entdeckt hatte, daß Balder in diesen letzten Wochen das Doppelte für seine Arbeiten eingenommen haben mußte, um nur die laufenden Ausgaben zu bestreiten. Das hatte noch gerade gefehlt, ihm die Erinnerung an jene so hoffnungslos verlorene Zeit bitter und peinlich zu machen. Man soll leichtsinnige 5 Kinder doch nie allein lassen! schalt er, die Thränen der Rührung über den Bruder und des Aergers über sich selbst hinunterschluckend. Da hast du nun was Schönes angerichtet, dich zu Schanden gearbeitet, damit ich desto ungestörter inzwischen nicht nur zum Narren, sondern auch zum Mörder an dir würde. O Kind, alle Herzoginnen der Welt, die mich zu ihrem Hofnarren machen wollten, würden mir kein Haar aus deinem dicken Schopf aufwiegen, der doch wahrhaftig ein paar Händevoll ohne Schaden verlieren könnte. Statt, wie es meine verdammte Schuldigkeit war, mich an die nächste Straßenecke zu stellen und zu warten, ob mir Jemand Arbeit geben möchte, habe ich im nichtswürdigsten Schranzendienst meine Tage vergeudet, indessen du – pfui! Eine schöne brüderliche Liebe von beiden Seiten! Der Eine faulenzt für zwei und läßt sich gedankenlos füttern, der Andere arbeitet für zwei mit solcher Unvernunft, daß er sich beinahe ums Leben und den Andern damit um seinen einzigen Bruder bringt!

Er ließ sich durch Nichts beruhigen, bis er das Liebste, was er besaß, ein paar Dutzend seiner werthvollsten Bücher zum Antiquar getragen und damit der nächsten Noth für einige Wochen abgeholfen hatte. Darauf stürzte er sich, da die Vorlesungen noch nicht wieder begonnen hatten, kopfüber in allerlei Lohnarbeiten, Recensionen von neuen Büchern und andere Beiträge zu wissenschaftlichen Journalen, und saß alle Tage, bis auf einen einzigen kurzen Abendspaziergang durch Wind und Wetter, beharrlich zu Hause, Balder selbst unter seinen 6 Arbeiten nie aus den Augen lassend. Niemand unterbrach diese ihre strenge Clausur, als der getreue Medicinalrath, der lange Mohr, der täglich auf ein paar Stunden zum Schachspielen kam, und das Reginchen, das sie bediente.

Mit diesem guten Kinde schien etwas vorgegangen zu sein, das sein Wesen auf eine geheimnißvolle, aber sehr liebliche Weise verwandelt hatte. Es sang und hüpfte nicht mehr wie ein junger Vogel, plauderte auch nicht in seiner halb kindischen, halb hausmütterlichen Art mit Balder, den es jetzt zu pflegen hatte, aber das sinnende, etwas zerstreute und verdämmerte Wesen, das es plötzlich herauskehrte, stand ihm ohne Frage noch besser zu Gesicht, als die frühere, ganz ungetrübte Laune. – Es schien auf einmal um einen Zoll höher und um ein Merkliches schmaler im Gesicht, die Wangen nicht mehr so blühend, aber zart durchleuchtet von innen heraus. Auch ließ es sich öfters dabei betreffen, mitten in einem Geschäft wie verzaubert stillzustehen und vor sich hin zu staunen. Als Balder sie befragte, was denn mit ihr vorgegangen, wurde sie blutroth und lachte gezwungen, um gleich darauf ein so seltsam stilles Gesicht zu machen, wie man es nie an ihr gesehen.

Selbst Edwin, der sonst weniger auf sie achtete, fiel ihr verändertes Betragen auf. Unsere kleine Hausschwalbe denkt ans Nesterbauen, sagte er. Du sollst sehen, Balder, das dauert nicht bis über das nächste Frühjahr, so kündigt sie uns den Dienst, um ihre eigne Herrin zu werden. 7 Schade drum! Ich kann mir die Tonne gar nicht ohne diesen wandelnden Sonnenstrahl denken.

Balder schwieg. Er hatte sich längst Gedanken darüber gemacht. Und so wenig er sonst an sich zu denken pflegte, diesmal hatte er nicht umhin gekonnt, mit einem frohen Schrecken, der ihm minutenlang das Herz zu sprengen drohte, sich selbst für den stillen Urheber dieser Verwandlung zu halten. Gerade an dem Tage, wo Franzelius von ihnen Abschied nahm, hatte das Mädchen ihn um Schiller's Gedichte gebeten. Sie habe so Viel davon gehört, sie wolle doch sehen, ob sie auch ihr so gefallen würden, wie ihren Cousinen und dem Obergesellen. Das Buch lag in Balder's verschlossenem Fach; er hatte eine Blume darin gepreßt aus einem kleinen Strauß, den sie ihm einmal von einem Spaziergang mitgebracht. Die Verse, die er an ihrem Geburtstag gedichtet, hatten sich mit hinein verloren. Daran dachte er im ersten Augenblick nicht, als er ihr das Buch herausholte. Nachher war es ihm gleich wieder eingefallen, da es zu spät war, und weil die Verse ziemlich unverblümt aussprachen, was er Jahre lang sorgfältig in sein eigenes Herz verschlossen hatte, konnte er kaum zweifeln, sie würden nun ihre Schuldigkeit thun und Alles ausplaudern. Wahrscheinlich wäre es auch so gekommen, ohne jene Dämmerstunde unten im Laden, in der es ihr plötzlich klar geworden war, wie es um eine andere, ebenfalls sehr verschwiegene Seele stand. Es war aber in ihrem Kopf und Herzen nur Raum für einen einzigen Gedanken auf einmal, und so hatte sie, da das literarische Bedürfniß in ihr 8 überhaupt nicht sehr mächtig war, das geliehene Büchlein, das sie in ihren Nähtisch gelegt, gar nicht wieder hervorgeholt und keine Ahnung, welch ein Geheimniß ihr darin schwarz auf weiß enthüllt worden wäre. Es blieb ihr jetzt auch in ihren Mußestunden nicht viel Zeit zum Lesen. So oft sie etwas für sich thun durfte, war sie eifrig darüber her, die bewußten Strümpfe zu stricken, deren ungewöhnliches Format sie auf viele Tage an den künftigen glücklichen Besitzer erinnern mußte.

Balder aber, der von alledem nichts wußte, konnte sich das verwandelte Wesen des heimlich geliebten Kindes um so mehr zu seinen Gunsten auslegen, als sie, da er ihrer Pflege bedurfte, ganz unverkennbar auch gegen ihn zugleich hingebender und zurückhaltender sich benahm. Seine erste Empfindung bei dieser vermeintlichen Entdeckung war, wie gesagt, eine frohe Bestürzung. Er hatte, da er auf jedes Lebensglück gesunder Menschen verzichtet, eine solche Wendung nie für möglich, ja kaum für wünschenswerth gehalten. Er sah sich für einen flüchtigen Gast am Tische dieser Welt an, der von allem Süßen nur zu kosten und nach einem kurzen Naschen, einem bescheidenen Vorschmack aus dem Becher irdischer Freude sich still wieder fortzuschleichen hätte. Seinen Platz ganz wie alle Anderen einzunehmen, bis zur Mitternacht mitzuschmausen und die letzte Neige zu leeren, fiel ihm nicht ein. Um so sorgloser hatte er sich diesem selig hoffnungslosen Gefühl hingegeben, weil er sicher zu sein glaubte, Niemand damit im Wege zu stehen. Dies blonde, harmlose, von unbekümmerter Gesundheit strotzende 9 Kind besaß gerade Alles, was ihm fehlte; daß sie so ganz in der Dumpfheit reiner Natur, ohne geistige Bedürfnisse, ohne Bildung und Verbildung aufgeblüht war, dabei in jeder Miene, jeder Bewegung Kraft und Frische und die heiterste Güte, zog ihn eben als das ihm Versagte, Fremde und Ersehnte zu ihr hin. Er vergaß seine Schmerzen, wenn sie ins Zimmer trat, er dachte an keine Zukunft, da sie selbst lauter Gegenwart und Genügen mit dem Gegenwärtigen zu sein schien; und so war ihm auch der Gedanke bisher fern geblieben, daß in diesem leidenschaftlich traulichen, verstohlen unbefangenen Verkehr sich je etwas ändern könne.

Nun wurde er auf einmal in eine verworrene Stimmung hineingerissen, in der er mit seinem eigenen Herzen nicht mehr aus noch ein wußte, da ihm das, was ihn bisher so rein und ruhig ausgefüllt hatte, plötzlich fast wie eine Schuld und sicher wie die Quelle vieler Schmerzen erschien.

Er hätte aber nicht zwanzig Jahre alt sein müssen, wenn das Wonnegefühl nicht zunächst alles Trübe überwogen hätte. Unvermerkt tauchten längst begraben geglaubte Lebenshoffnungen vor seinem Blick wieder auf. Warum sollte nicht an ihm, wie an so Manchem, ein Wunder geschehen und die Natur sich ihrer unerschöpflichen Heilkräfte besinnen, zumal da die Seele jetzt mitzuhelfen bereit war? Und wenn es wirklich dahin kam, daß er für seine kümmerliche Jugend durch ein spätes Erstarken entschädigt wurde, wie gut hatte es dann sein Stern mit ihm gemeint, daß er ihn gerade in dieser Enge den 10 Schatz hatte finden lassen, der ihn für alle Zeit reich machen sollte.

Er bestärkte sich mehr und mehr in diesem Glauben, so daß er auch Alles, was zu seiner Pflege geschah, mit weit mehr Geduld und ohne Abwehren hinnahm und selbst das Verbot des Sprechens streng beobachtete, so oft ihm gegen Edwin oder das Reginchen ein herzliches Wort auf den Lippen schwebte. Halbe Tage lang konnte er still vor sich hin träumen, die Augen auf die schwermüthige Gipsmaske des Gefangenen ihm gegenüber gerichtet, Verse im Kopf, die er eilig aufschrieb, sobald Edwin den Rücken gewendet hatte. Auch sein alter Kummer, daß er es nicht übers Herz brachte, den Bruder, der selbst nie ein Geheimniß vor ihm hatte, in das seinige einzuweihen, ängstigte ihn jetzt nicht mehr. Wenn er gesund geworden sein würde und nun endlich auch ins Leben hinaustreten und dann mit vollem Recht alle frühe Entsagung von sich werfen dürfe, dann wollte er auf einmal all sein Glück vor dem Bruder ausschütten und ihn für das Versäumte zehnfach entschädigen.

Das Alles war in ihm vorgegangen, während sich draußen die Akazie entblätterte und Edwin mit der Wunde herumging, die nicht bluten wollte. Es war, wie gesagt, eine etwas beklommene Stille oben in der Tonne, und auch die übrigen Bewohner des Hauses schienen sich in der unbehaglich fröstelnden Herbststimmung zu befinden, in der man, wie die ganze Natur, nach und nach verstummt, bis die prasselnden Flammen im Ofen mit dem Schwatzen anfangen und auch den Menschen 11 wieder die Lippen aufthauen. Das Klavier Christianens gab keinen Laut von sich. Der Obergesell, dessen Brummen und Schelten oft bis hinauf klang, so lange die Fenster der Werkstatt noch offen standen, ließ sich nicht mehr vernehmen. Drüben bei dem alten Paar öffnete auch Niemand mehr ein Fenster, um nach dem Thermometer zu sehen, das draußen an der Schattenseite hing. Man wußte ohnehin, daß es kein Wetter war, um eine weiland berühmte Tenoristenkehle ins Freie zu tragen. Auch Meister Feyertag war schlecht gelaunt, obwohl ungewöhnlich viel Wasserstiefel bestellt wurden und das Geschäft stark blühte. Sein Sohn machte ihm Kummer, der in Franzelius' Umgang allerlei toll communistische Ideen eingesogen hatte und den biederen Bourgeois und Fortschrittsmann, der sein Vater war, mit Siebenmeilenstiefeln überholte. All dergleichen Sorge sieht beim Herbstregen zwiefach drohend aus, und man ist um so mehr geneigt, nun das Ende aller Dinge nahe zu glauben, je länger und ungetrübter die Sommersonne uns in Sorglosigkeit gewiegt hat.

Plötzlich aber schien diese Trösterin sich noch einmal zu ermannen und ein Nachspiel feiern zu wollen. Eines Morgens, als Edwin die Augen aufschlug, lachte der schönste blaue Himmel in die Tonne herein, und die Luft war so still und milde, als schäme sie sich all des stürmischen Unfugs der letzten Wochen. Und wie das Gute, gleich dem Bösen, selten allein kommt, brachte auch dieser Morgen noch allerlei unverhoffte Freuden. Zuerst einen Geldbrief, der eine längst in den Schornstein 12 geschriebene Schuld berichtigte, das Honorar für ein Privatissimum über Hegel'sche Philosophie, das Edwin einem nihilistischen Russen hatte lesen müssen. Der Zuhörer war plötzlich verschwunden, und Edwin glaubte ihn entweder in Paris oder in Sibirien. Nun hatte er es vorgezogen, seinen Frieden mit dem Herrn zu machen und sich in Petersburg anstellen zu lassen, und schickte den doppelten Betrag des rückständigen Honorars. Edwin verbot eben Balder, der in der Freude sein Schweigegelübde brach und darauf drang, daß zunächst von dem Gelde die verkauften Bücher wieder angeschafft werden müßten, jede Einmischung in die Finanzwirthschaft der Tonne, die jetzt, da Balder durch heimliche Ersparnisse das Vertrauen schnöde verscherzt, ausschließlich in Edwin's Händen liegen müsse, als Marquard dazu kam, den Patienten sorgfältig untersuchte und ihn für diesmal gerettet erklärte.

Er warnte jedoch vor jeder Aufregung oder körperlichen Anstrengung, die den kaum geheilten Schaden schlimmer wieder aufreißen würde. Dann zu Edwin gewendet: Ich wollte, ich könnte mit dir auch so zufrieden sein, sagte er, indem er ihm scharf ins Gesicht sah. Ich muß dir aber gestehen, dein Aussehen, dein Puls, dein ganzer Habitus will mir durchaus nicht gefallen. Noch ein paar Tage so fortgehockt, gebüffelt, gebrütet, und wir halten genau wieder da, wo wir vor jenem Ballet-Abende waren. Teufel auch! Lieber ein ganzes Cholera-Lazareth behandeln, als einen einzigen denkenden Patienten, der der Mutter Natur immer dreinredet und was sie Nachts an seinen Nerven zurechtflickt, bei Tage mit lauter 13 Tüfteln und Spintisiren wieder zu Charpie zerfasert. Oder steckt gar – vor Balder hast du ja keine Geheimnisse – noch immer deine verrückte übersinnliche Liebschaft dahinter? Das fehlte noch gerade! Wie weit bist du denn mit der kleinen Prinzessin aus der Jägerstraße? Immer noch »Fichtenbaum und Palme«, Langen und Bangen in schwebender Pein?

Wenn es dir von wissenschaftlichem Interesse ist, erwiederte Edwin mit einem leidlich unbefangenen Gesicht, so wisse, daß diese Geschichte aufgehört hat, ehe sie überhaupt recht angefangen. Ich wäre sehr geneigt, die ganze Erscheinung in das Kapitel von den Sinnestäuschungen zu verweisen, wenn mich der Umstand nicht stutzig machte, daß das räthselhaft aufgetauchte und wieder verschwundene Phantom auch dir erschienen ist.

Marquard sah ihn mit einem feinen Blinzeln seiner hellblauen Augen an. Darf ich noch einmal um deinen Puls bitten? sagte er trocken.

Warum?

Weil es für mich von wissenschaftlichem Interesse ist, zu sehen, ob ein Philosoph, der von der Wahrheit Métier macht, lügen kann, ohne eine Beschleunigung seines Pulses. Uebrigens kann ich, wenn du es wünschest, auch meiner Wege gehen und dich als unheilbar dir selbst überlassen. Von heut an wäre ich hier also nur der Hofmedicus der jüngeren Linie.

Er griff nach Hut und Stock und schien gehen zu wollen.

Ich begreife in der That nicht, versetzte Edwin, 14 indem er ruhig fortfuhr, ein Buch aufzuschneiden, warum ich mir die Mühe geben sollte, dir etwas vorzulügen, einem so unfehlbaren Diagnostiker! Diesmal freilich ist dir etwas Menschliches begegnet. In allem Ernst: seit vierzehn oder siebzehn Tagen habe ich das Räthsel in der Jägerstraße nicht wiedergesehen.

Aus einem sehr natürlichen Grunde, lachte der Arzt: weil die Schöne seit vierzehn oder siebzehn Tagen in der Rosenstraße wohnt. O ihr Sophisten! Mit den Fallstricken eurer formalen Logik erdrosselt ihr die Wahrheit und salvirt dabei euer Gewissen!

Balder sah zu Edwin hinüber, der todtenblaß geworden war. Das Buch war ihm aus der Hand gefallen, er konnte nur die Lippen bewegen, ohne ein Wort hervorzubringen.

Da sitzt nun der ertappte Sünder, spottete der Arzt. Ja, mein Sohn, Lug und Trug ist eine schöne Sache, man muß sich nur nicht dabei erwischen lassen. Uebrigens bin ich der Letzte, mich in ein Vertrauen eindrängen zu wollen, das man mir nicht freiwillig gönnt. Guten Morgen!

Er ging mit einem Kopfnicken gegen Balder aus der Thür und stolperte brummend die dunkle Hühnerstiege hinunter. Als er fast schon unten war, hörte er hinter sich seinen Namen rufen und Edwin in großen Sätzen ihm nachstürmen. Marquard, nur noch ein Wort!

Was giebt's?

Ich wollte dir nur noch sagen, – du magst nun denken, was du willst, aber es ist die reine Wahrheit, – 15 ich glaubte sie abgereis't. Was weißt du von ihr? Ist es mehr als eine freie Phantasie, daß sie jetzt in der Rosengasse –

Im dritten Haus um die Ecke, gleich rechts, wenn du von der langen Brücke kommst. Natürlich wieder Beletage. Ich fuhr gestern Nachmittag, da es aber noch ganz hell war, vorbei und erkannte sie sofort, wie sie trotz des Hundewetters am offenen Fenster stand. Es giebt eben nicht zwei Gesichter von so soubrettenhafter Vornehmheit. Und so, halb traurig, halb gelangweilt, – oder, wie ich dachte: halb Sammtmantillen, halb Edwin im Herzen – lehnte sie am Fensterrahmen und krümelte so verloren vor sich hin den Sperlingen Brosamen auf die Gasse. Plötzlich fuhr sie zurück und schlug das Fenster zu. Sie mochte mein Hinaufstarren bemerkt haben, hatte mich auch vielleicht erkannt. Indessen, da ich sie dir ein für alle Mal abgetreten hatte –

Es ist gut, Marquard. Ich danke dir. Adieu!

Damit ließ Edwin den Arzt auf der dunkeln Treppe stehen und stieg hastig wieder hinauf, ohne die erstaunten Anmerkungen zu hören, die Jener ihm nachrief.

Als er in die Tonne zurückkam, bemühte er sich, ein ganz munteres Gesicht zu machen. In er lachte hell auf, als habe ihm Marquard eine lustige Geschichte erzählt.

Es ist richtig, rief er Balder entgegen. Die Tragikomödie soll noch ein Nachspiel kriegen. Was sagst du dazu, Kind? Wir wollen Mohr den Stoff empfehlen zu einer phantastischen Novelle; der Titel verspricht etwas: »Das Gespenst in der Rosengasse«. – Himmel und Hölle! 16 Nun kann noch Alles gut werden, sagte Balder sanft, indem er einen Seufzer unterdrückte. Es war doch unnatürlich, so auseinanderzukommen, und wer weiß, ob es sich nachträglich nicht doch gerächt hätte. Jetzt ist Nichts verloren, als vierzehn Tage, in denen auch sie dich entbehrt haben wird.

O du heuchlerischer Verführer! rief Edwin, der mit großen Schritten, die Hände in den Taschen vergraben, das Zimmer durchschritt. Mich entbehrt? Und was hätte sie dazu gezwungen, wenn es nicht ihr eigner, freier, herzoglicher Wille gewesen wäre? O Kind, Kind, machen wir Beide uns wenigstens kein X für ein U! Es ist einmal wie es ist: ich habe nichts von ihr gewußt, und sie wollte und will nichts von mir wissen. Und nun siehe, theures Kind, was für ein erbärmlicher Schwächling der Mensch und insbesondere dein weiser Bruder ist! Statt sich an diesem vierzehntägigen Laufpaß genügen zu lassen und sich ein für alle Mal als abgedankt anzusehen, ruht er nicht, bis er noch in aller Form seinen Abschied bekommt, wenn man ihn überhaupt noch zu einer Audienz zuläßt. –

Siehst du, fuhr er dann fort, während Balder still bei sich selbst den Schrecken über diese neue Wendung verarbeitete, da haben wir nun unsern vielberühmten freien Willen und den trefflichen kategorischen Imperativ, die gepriesenen Specifica gegen alle moralischen Fieberanfälle. Ich kann dich heilig versichern, Balder, ich bin nicht feige, kein so erbärmlicher Weichling, daß ich die bitterste Medicin nicht schlucken würde, wenn ich wüßte, 17 sie könnte mir helfen. »Du kannst, denn du sollst!« Gewiß, ich kann mich zwingen, nicht zu stehlen, zu morden, die Ehe zu brechen und die übrigen zehn Gebote zu halten, denn ich weiß, sie sind an und für sich theils heilig, theils heilsam, und die bürgerliche Weltordnung ginge aus den Fugen, wenn man etwaige Gelüste nach seines Nachbarn Börse, Leben, Eheweib oder Allem, was sein ist, nicht im Zaum hielte. Aber hier, in meinem Fall, – was befehlen Sie, Herr Imperativ? Was sind Sie so frei zu wollen, Herr freier Wille? Daß es mit dem meum esse conservare übel aussieht, wenn ich einfach einen Strich unter dieses Gelüste mache und wegbleibe, habe ich seit vierzehn Tagen hinlänglich erlebt. Ob es noch schlimmer wird, wenn ich sie wiedersehe, wer sagt es mir? Und so denk' ich, ich gehe hin und frage sie erst noch einmal selbst, ob sie mich für einen Narren oder Ueberweisen hält, wenn ich von Neuem mit einem Feuer spiele, an dem ich mir Frostbeulen hole.

Zum Glück sind wir wieder reiche junge Leute, setzte er nach einer Weile lächelnd hinzu. Und obwohl sie mich darum hochachtet, weil ich sie ohne Handschuhe besuche, möchte es ihr doch allzu erhaben vorkommen, wenn ich noch Ende October mit dem Strohhut käme. Ich werde etwas an mich wenden, Kind, und mich sogar nach einem anständigen Winterpaletot umsehen. Mein alter ist mit Franzelius, der ihn als Sonntagsrock trug, Gott weiß wohin ausgewandert.

Er hatte keine Ruhe mehr bei seinen Heften, machte in aller Eile, beständig halb ernsthaft, halb ironisch an 18 Balder hinredend, so sorgfältig Toilette, wie es überhaupt möglich ist, wenn man nur einen einzigen Anzug besitzt, und stutzte sich zuletzt wieder mit seiner großen Papierscheere vor dem handgroßen Spiegel den Bart. Ich möchte wirklich wissen, sagte er dabei, ohne Balder anzusehen, ob ich ihr weniger gleichgültig wäre, wenn ich ein schmucker Junge wäre, wie du, so daß sie auf mich eitel sein könnte oder vielmehr ihren Naturtrieb zum Luxus durch meine Wenigkeit befriedigt sähe. Daß ich ihr nothwendig sein oder jemals werden könnte, ist leider nicht zu hoffen. Aber so ein eleganter Ueberfluß, etwa wie ein Papagei, oder ein Polysander-Flügel, auf dem sie auch nicht zu spielen versteht – die Aussicht wäre immer noch nicht sehr ehrenvoll, jedoch, in Ermangelung eines Bessern – So! das Gestrüpp ist nun doch wieder hoffähig zurechtgestutzt. Etwas gespensterhaft sehe ich freilich aus; diese vierzehn Tage haben mich mitgenommen. Aber das rührt sie vielleicht: »herzekrank und bleich und treu«. Lebewohl, mein Junge. Ich denke, Mittags dir allerlei mitzubringen.

Er war so wunderlich aufgeregt, daß er Balder umarmte, ihn auf die Stirn küßte und dann mit seiner sehr rauhen und »transcendenten« Stimme, wie Mohr sie nannte, »La donna è mobile« trällernd aus der Thür stürmte. 19



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