Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Drittes Kapitel.

Edwin schlenderte mit Marquard, den er auf dem Heimweg von der Universität getroffen, die Friedrichsstraße hinunter.

Ich habe es mir gleich gedacht, daß es nur eine Seifenblase des Glücks wäre, sagte er. Eine Uebersiedelung in dieser Jahreszeit ist so unmöglich, wie daß er hier allein zurückbleibt. – Ihr würdet ihn gewiß aufs Beste verpflegen, Mohr hat sich sogar erboten, als Vice-Edwin ganz in die »Tonne« zu ziehen. Aber trotz alledem, Bester: rede mir nicht zu. Du weißt nicht, wie wir an einander verwöhnt sind. Er hat Stunden, wo ihm das Sprechen sauer wird. Ich lese dann die Chiffern auf seiner Stirn so fließend, wie meine eigne Handschrift. Und du magst mich immerhin sentimental schelten: auch ich würde mich schlecht ohne ihn behelfen. – Meine besten Gedanken sind mir diese letzten sechs Jahre in seiner stillen Gegenwart gekommen. Wenn ich irgendwo nicht weiter konnte, brauchte ich ihn nur anzusehen, und plötzlich ging mir in seinen Augen ein Licht auf. Ich fürchte im Ernst, ich möchte dumm werden, wenn ich 237 allein vorausginge, und die Herren da unten könnten denken, ich hätte bei der Preisschrift mit fremdem Kalbe gepflügt. Habeat sibi! Es wird sich schon ein anderes Thürchen aufthun.

Du mußt wissen, was du thust, versetzte Marquard, der, in einen eleganten Pelz gehüllt, scheinbar gleichgültig neben Edwin hinschritt. Wenn es ihn nur nicht aufregt, zu denken, daß er das Hinderniß ist. Vielleicht – es ist nur so ein Einfall – könntest du dein Verhältniß zu der Prinzessin in der Rosenstraße zum Vorwand nehmen, daß du nicht wegwillst.

Der gute Rath kommt leider zu spät. Er weiß, daß Alles aus ist.

Was? So übers Knie gebrochen? Wie ist denn das zugegangen?

Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir ein andermal.

Sie gingen eine Strecke schweigend neben einander hin. Endlich sagte Marquard: Von euch allen bin ich der einzige praktische Charakter, wie ich merke; denn auch unser Volkstribun, obwohl er sich mit mehr gesundem Menschenverstand, als ich ihm zugetraut, unter den Kindern des Volks Eine ausgesucht hat, deren Vater Hausbesitzer ist – zu einem soliden Ehemann und ruhigen Bürger wird er es schwerlich bringen. Du, mein edler Philosoph, verliebst dich in ein psychologisches Problem, und unser Ironiker, statt seine Komödie »Ich bin Ich und setze mich selbst« wenigstens im Leben zur Aufführung zu bringen – 238

Was weißt du Neues von ihm? Er ist gestern nicht zum Schach gekommen.

Seine Königin hat ihn matt gesetzt, gerade gestern. Die Partie ist aus, Zaunkönigs saßen mit zerstörten Gesichtern in ihrem Nest, als ich Abends vorsprach. Der unheimliche Nachtvogel, den sie beherbergt, ist ausgeflogen, und Niemand ahnt, wohin.

Sollte das unglückliche Wesen zum zweiten Mal –

Das fürchteten auch ihre braven Gastfreunde, hinter deren Rücken sie sich fortgestohlen hat. Ich habe sie aber beruhigt. Nach einem von Mohr erzwungenen Gespräch, wo er ihr Gott weiß was, gewiß in der besten Meinung, aber auf seine verrückte Manier vorgeschwatzt haben mag, hat sie gewartet, bis Papa König und das gute Mädchen ausgegangen waren. Dann ist sie plötzlich aus ihrem Schmollwinkel hervorgekommen und hat die Köchin gebeten, ihr Geld zu leihen, sie wolle in die Stadt, sich einen Wintermantel kaufen. Wie sie die zwölf oder vierzehn Thaler hatte – das ganze Baarvermögen der Person – ist sie in eine Droschke gestiegen und auf und davon. Daß sie sich eine Pistole anschaffen möchte, da sie vielleicht gegen das Wasser jetzt ein Vorurtheil hat, ist nicht wahrscheinlich, und andere Fahrbillets in die Ewigkeit kann man billiger haben. Auch liegen zu viel Tage zwischen heut und jener Unheilsnacht, als daß anzunehmen wäre, ihr seien nicht inzwischen gelindere Gedanken gekommen. In einem mit Bleistift geschriebenen Abschiedsbillet an Lea hat sie gebeten, ihr nicht nachzuspüren, sie wolle von sich hören 239 lassen, wenn sie noch einmal den Muth fassen könnte, zu leben und Menschen, die es gut mit ihr gemeint, wenn auch gegen ihren Willen, wieder an sich zu erinnern. Ihre Möbel und das Klavier möchten Feyertags verkaufen, die Miethe und die geliehene Summe davon abziehen, das Uebrige an arme Leute geben; ein Brief im allerresolutesten Stil, wie das ganze Frauenzimmer, aber kein Selbstmordsbulletin; darauf verstehe ich mich, da ich einmal Selbstmörderautographen, letzte Aufzeichnungen und Stilübungen zwei Schritt von der Ewigkeit gesammelt habe.

Und Mohr?

Er kam den Abend wieder, er schien irgend einen Plan inzwischen ausgebrütet oder noch eine Frage auf dem Herzen zu haben. Wie er die leere Zelle fand – an ein Entspringen hatte Niemand gedacht, da es ja eine freiwillige Haft war – sei er noch tiefsinniger, grimmiger und unhöflicher geworden, als ohnehin in diesen letzten Wochen. Sogar der kleine Zaunkönig, der sonst viel vertragen kann, schien durch diese sonderbaren geistreichen Unmanieren etwas verschnupft. Uebrigens – Respect vor dem kleinen Manne! Er hat sich gegen das unglückliche Wesen als ein echter Samariter bewährt, während man sonst auf seinem christlich-germanischen Standpunkt Selbstmörder als den Auswurf der Menschheit betrachtet und die armen, bei der Gnadenwahl zu kurz gekommenen Stiefkinder Gottes hinter der Kirchhofsmauer verscharrt. Von Lea's Betragen gegen die Fremde wäre nun vollends ein langer Hymnus zu singen. Meine kleine Adele wird förmlich eifersüchtig, wenn ich erzähle, wie aufopfernd, 240 klug und discret das junge Zaunprinzeßchen sich um die Fremde bemüht hat.

Und noch immer keine Spur von der Veranlassung zu diesem verzweifelten Schritt? sagte Edwin. Wenn ich zurückdenke an unser Bacchanal in Charlottenburg, an ihr Klavierspiel damals – sie schien so guter Dinge, wie wir alle, freilich in ihrer sonderbar finstern Manier –

Marquard zuckte die Achseln. Wer kann es wissen! sagte er. Vielleicht Lea. Wenigstens, so oft ich davon anfing, verstummte sie auf eine eigene Art, wie wer nicht das Talent hat, zu lügen, und daher lieber ein Schloß vor den Mund nimmt. Mohr, der einem Inquirenten leichteres Spiel machen würde, scheint bis gestern noch keine Ahnung gehabt zu haben. Heute früh aber, wie mir eure alte Lore erzählt, sei er in dem Zimmer der Verschwundenen gewesen, angeblich, weil er das Klavier kaufen wollte. Da habe er alle Winkel durchstöbert und endlich etwas gefunden: ein kleines Buch, bei dessen Anblick er ein unarticulirtes Geheul oder Gestöhn ausgestoßen. Was es gewesen sein mag, wissen seine »sogenannten Götter«. Indessen ist er jetzt glücklich; er hat einen Lebenszweck, der ihn ausfüllt: dies Räthsel zu enthüllen und der Entflohenen nachzuspüren.

Ich habe schon gedacht, ob am Ende gar – ist dir ein gewisser Candidat Lorinser nie begegnet?

Der Arzt antwortete nicht; denn eben bogen sie um die Ecke der Dorotheenstraße, und Marquard's spähendes Auge hatte sofort eine dichte Menschenmenge bemerkt, die vor dem Hause des Meister Feyertag lautlos 241 und regungslos eine Droschke umstand. Was ist das? sagte er. Wollen etwa die Nachbarn Jungfer Reginchen auf Brautvisiten ausfahren sehen? So weit sind wir doch noch nicht. – Nein, es scheint irgend ein Unglück –

Edwin hörte ihn nicht mehr. Von einer plötzlichen Ahnung gejagt, erreichte er das Haus in demselben Augenblick, wo ein lebloser Körper, von dem Obergesellen und dem Droschkenkutscher sorgfältig gehoben, die paar Stufen hinaufgetragen wurde. Er hörte nur noch die Leute um ihn her sagen: Da kommt der Bruder! – Dann verließ ihn die Besinnung. Die Nächststehenden hielten ihn, als er die Stufen hinauf schwankend plötzlich zu fallen drohte.

Es war aber nur ein minutenlanger Schwindel, der seine Sinne lähmte. Gleich darauf hörte er wieder Marquard's Stimme: Den Kopf oben behalten, Edwin! Komm! Es muß ja nicht gleich das Schlimmste sein! – Er richtete sich mit Hülfe des Freundes gewaltsam auf und ließ sich in das Haus führen.

Der Flur war gedrängt voll von den Hausgenossen und Neugierigen aus der Nachbarschaft; Alle machten ihnen stillschweigend Platz. Im Hofe standen sämmtliche Gesellen und sahen nach den oberen Fenstern hinauf, als sollte von da eine Botschaft kommen. Es wurde aber kein Wort geredet, das ganze Haus schien plötzlich vor Schrecken den Athem anzuhalten.

Jetzt erschien der Droschkenkutscher wieder in der Thür. Herr du meine Güte, so'n Unglück! sagte er, auf 242 Edwin zutretend. So'n blutjunger Mensch! Ich habe wahrhaftig erst gedacht, 's wär 'ne verkleid'te Mamsell. Bis er dann mit dem fremden Herrn zu reden anfing, da funkelte es ihm denn doch wie 'ner rechten Mannsperson aus den Augen. Dabei hat er sich ein bischen echauffirt, das merkt' ich wohl, und ich habe ihm noch das Fenster zugemacht, und dann konnte er noch spaßen, wie ich ihm sagte, er klapperte ja wie 'ne alte Schildwache. Und nu – so um sich zu kommen! Und ich merkte auch gar Nichts, auf dem ganzen Weg von der Rosenstraße bis hierher, daß er inzwischen in der alten Droschke so zu sagen in die Ewigkeit fuhr! Sie sind wohl der Bruder? Na, mit dem Fahrgeld hat es weiter keine Eile.

Edwin zuckte zusammen. Die Stimme versagte ihm. Marquard gab dem Kutscher Geld und ließ sich seine Nummer sagen, um ihn noch weiter über den letzten Auftritt auszuforschen; dann half er Edwin die Treppe hinauf.

Sie hatten den Leblosen oben auf sein Bett gelegt, noch in dem Mäntelchen, wie sie ihn aus dem Wagen gehoben hatten. Niemand war mit hinausgegangen, als der Obergesell, Meister Feyertag und seine Frau; auch Reginchen war nachgeschlichen, hatte aber nicht gewagt, mit einzutreten, sondern kauerte oben an der Treppe bleich wie ein Gespenst.

Als Edwin auf Marquard gestützt in die Tonne trat, kniete gerade Madame Feyertag neben dem Bett und rieb die kalten Schläfen des Jünglings mit einer starken Essenz. Marquard ließ sie gewähren. Er beschäftigte sich einige 243 Minuten mit dem regungslosen Körper. Dann wandte er sich zu Edwin, der über das Fußende des Bettes hingesunken war. Armer Junge! sagte er. Komm, sei ein Mann, Edwin! Es war doch nur ein Hinfristen auf Wochen. Nun hat er's überstanden, so rasch und kampflos wie nur möglich. Sieh nur das stille Gesicht.

Ein lautes Aufweinen unterbrach ihn. Der Meister führte sein gutes Weib, die wie um ein eigenes Kind ganz fassungslos sich geberdete, mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer; auch der Obergesell, der sich die dicken Thränen übers Gesicht laufen ließ, schlich ihnen nach. Er hatte erst etwas zu Edwin sagen wollen, es aber wieder verschluckt. Wie er dann in die Werkstatt hinunterkam, setzte er sich auf seinen Schemel und stützte den Kopf in beide Hände. Noch nach einer halben Stunde, als die anderen Gesellen sich hereinstahlen, um sich wieder an die Arbeit zu setzen, und darauf gefaßt waren, gescholten zu werden, fanden sie den heftigen Menschen in derselben Stellung. Er war wie umgewandelt; nur als gegen Abend der Lehrjunge leise vor sich hin zu pfeifen anfing, fuhr er wie ein Besessener auf ihn los und schimpfte ihn eine herzlose Kröte, daß er heute das Maul spitzen und den Jungfernkranz pfeifen könne.

Auch sonst blieb es im Hause so still, als wäre mit diesem Einen Leben alle Lebensfreude ringsumher erloschen. Alles ging auf den Zehen und drückte die Thüren sacht ins Schloß. Als die Magd gegen Abend an den Brunnen gehen wollte und oben in dem Zimmer 244 die offenen Fenster sah, schlich sie sich, die Augen trocknend, mit den leeren Eimern wieder weg und holte das Wasser aus einem Pumpbrunnen in einem der Nebenhäuser.

Am Nachmittag war Mohr gekommen, eine Stunde später Franzelius, beide völlig ahnungslos. Aber im Laden saß Meister Feyertag und winkte Jeden, der ins Haus wollte, zu sich herein, um alle lästigen Besucher von Edwin abzuwehren. Mohr sprach kein Wort und verrieth mit keiner Miene seine Bewegung, so daß der Meister ihm kopfschüttelnd nachsah, wie er mit dumpfem Knurren den Laden wieder verließ, um nach der Tonne hinaufzusteigen. Es dauerte aber lange, bis er oben ankam. Vorher hatte er sich in Christianens Zimmer geschlichen und dort im Finstern sitzend den ersten Sturm in seinem Innern austoben lassen, ehe er sich zu Edwin hinaufwagte. Franzelius dagegen war dem Schwiegervater um den Hals gefallen, mit so herzbrechendem Schluchzen, daß der Meister, der bisher immer noch kein rechtes Zutrauen zu seinem Eidam hatte, weil er ihn für einen blutdürstigen Revolutionsmann hielt, im Stillen seiner Frau Recht gab: einen bessern Mann hätte das Reginchen nicht finden können.

Es war seltsam, daß beide Freunde sich nicht getrauten, ihre erste Erschütterung Edwin sehen zu lassen, daß sie den gemeinen Zoll der menschlichen Schwäche erst entrichteten, ehe sie ihren täglichen Gang auch heute antraten. War es die Gewöhnung der letzten Wochen, die Tonne als einen geweihten Ort zu betrachten, dem aller Tumult 245 selbstischer Leiden und Leidenschaften fern bleiben müßte? Oder fürchteten sie, den Anblick des Ueberlebenden nicht zu ertragen, wenn sie sich selbst nicht erst wieder gefaßt hätten?

Sie trafen sich auf der Treppe, da eben Mohr Christianens Zimmer verließ. Ohne ein Wort zu sagen, fielen die alten Widersacher sich in die Arme und küßten und drückten sich, als hätte nie etwas zwischen ihnen gestanden. Ein feierlichstummes Gelübde ewiger Freundschaft wurde zwischen ihnen ausgetauscht. So immer noch sich an der Hand haltend, stiegen sie die letzten Stufen hinauf.

Sie fanden Edwin allein, noch in derselben Stellung, wie Marquard ihn vor einer Stunde verlassen hatte, um seine Patienten zu besuchen. Balder lag wie ein Kämpfer, der auf dem Schlachtfelde gefallen ist, mit seinem Mantel zugedeckt; Edwin ruhte am Fußende des Bettes. Er richtete sich jetzt halb auf und streckte den Eintretenden mit mattem Lächeln die Hände entgegen.

Kommt ihr auch? sagte er. Gut, daß ihr kommt. Er ist so schön! Ich gönne mir's kaum allein, in sein Gesicht zu sehen. Sollte man glauben, daß er die Augen nie wieder aufschlagen wird? Und doch ist es so – Marquard sagt es – der muß es wissen. – Dann nach einer Weile:

Nimm dir einen Stuhl, Franzel. Verzeiht, wenn ich sitzen bleibe. Wir brauchen ja keine Komödie zu spielen – es wird mir sauer, ein Glied zu rühren. – 246 Wenn ihm auch wohl ist und ich ihm alles Gute gönne – es ist doch hart, daß man dies Gesicht bald nicht mehr sehen soll.

Mohr hatte sich auf einen Stuhl dem Bette gegenüber gesetzt, Franzelius lehnte am Thürpfosten und starrte mit überfließenden Augen auf die bleichen geschlossenen Augenlieder und die marmorklare Stirn des geliebten Todten. Als es so dunkel im Zimmer wurde, daß man die Züge kaum mehr unterscheiden konnte, riß Mohr sich in die Höhe. Er bestand darauf, Edwin in seine Wohnung zu führen und ihn mir Wein und einem Imbiß zu stärken. Du hast noch viel vor dir, wofür du deine Kräfte zu Rathe halten mußt. Franzel bleibt hier. Wir wollen ihm Licht hinaufschicken. In die Nachtwache können wir uns theilen.

Willenlos und wie ein Traumwandler ließ Edwin mit sich machen. Der starke Wein, den Mohr ihm aufnöthigte, versenkte ihn eine halbe Stunde lang in einen festen Schlaf. Als er sich plötzlich ermunterte, that er einen Schrei, daß Mohr erschrocken hinzusprang.

Es ist Nichts! sagte er mit trübem Kopfschütteln. Mir träumte nur eben, ich hörte Balder's Stimme; wie ich ihm die Hand fassen wollte, wachte ich auf, und da fiel mir Alles wieder ein. Ich meinte, es sei etwas in mir zersprungen. Ich kann aber sogar wieder auf meinen Füßen stehen. Nur die Augen sind mir noch wie ausgebrannt. Komm, wir wollen ihn nicht zu lange warten lassen. – –

Als sie dann die Thür des Todtenzimmers öffneten, 247 blieben sie überrascht an der Schwelle stehen. Franzelius hatte die paar Stunden benutzt, mit Hülfe der Hausleute eine Art Katafalk aufzurichten. Die Drehbank war in die Mitte gerückt und mit einer Decke überhängt worden; darauf hatten sie einen schnell herbeigeschafften Sarg gestellt und Balder hineingelegt. Ihm zu Häupten stand die Palme, daneben ein paar hohe Lorbeerbäume, die der alte Tenorist herübergeschickt hatte. Seine Frau hatte zwei silberne Armleuchter hinzugefügt, die zu beiden Seiten der Bahre brannten und ein ruhiges Licht über das schöne blasse Antlitz gossen. Statt des Mäntelchens lag ein reines Laken über die Gestalt gebreitet, auf dem die schmalen Hände sanft gebettet ruhten. Zu dem offenen Fenster war die weiße Katze hereingeschlichen und hatte sich, nachdem sie einigemal den Sarg umkreis't, am Fußende hingeknäuelt, mit ihren gelben Augen unverwandt in die Kerzen starrend.

Edwin setzte sich auf Balder's leeres Bett und zog den Freund neben sich. Ich danke dir, sagte er. Wir wollen keine fremde Hand an ihn kommen lassen, nicht wahr? Niemand, als wer ihn geliebt hat.

Franzelius drückte ihm stumm die Hand und wandte sich ab, seine Thränen zu ersticken. Mohr hatte sich an das Schachbrett gesetzt, das auf dem Tischchen im Winkel stand, und fing an, mechanisch die Figuren aufzustellen.


Nicht lange hatten sie so stumm bei einander gesessen, als leise an der Thür geklopft wurde. Mohr ging, um zu sehen, wer draußen sei, kam dann wieder 248 herein und sagte: Der Zaunkönig ist da, mit Lea und der Professorin. Sie wollen nur selbst hören, wie du dich befindest, und dich gar nicht belästigen. Ich dächte aber, wenn du nichts dagegen hast, wir ließen sie herein.

Edwin nickte und stand auf. Als der kleine Maler eintrat und einen Blick auf den einfachen Katafalk warf, stürzten ihm die hellen Thränen aus den Augen. Er haschte blindlings nach Edwin's Hand und hielt sie fest, während er in seinen Hut hinein weinte. Auch das klare runde Gesicht der Professorin verschwand hinter ihrem Tuche. Lea, ohne Edwin anzusehen, war an den Sarg getreten und schien vom Staunen über das unfaßbare Geheimniß des Todes völlig erstarrt. Ihr Gesicht war so still und weiß, wie das des Abgeschiedenen. Nur in ihren Augen, die ohne ein Zucken der Wimpern auf das edle Todtenantlitz gerichtet waren, glomm eine dunkle Flamme des Lebens.

Sie sprachen eine lange Zeit kein Wort. Dann trat die Professorin, ihre Augen trocknend, zu Edwin. Verzeihen Sie, daß ich mitgekommen bin, sagte sie. Mein Herz trieb mich hieher. Sie brauchen nicht zu fürchten, daß ich Ihnen einen Trost aufdringen möchte, der Ihnen keiner wäre. Mir aber – uns Andern gönnen Sie es wohl, daß wir uns an den Glauben halten, der Vater habe sein Kind zu sich gerufen, und wir andern Kinder Gottes würden ihn in jener ewigen Wohnung wiederfinden, auch Sie, lieber Freund, der Sie ihn bis dahin am schwersten entbehren werden.

Ich danke Ihnen, versetzte Edwin. Sie meinen es 249 herzlich gut mit mir. Sie wollen mir das Beste geben, was Sie haben, denn Sie halten mich für sehr verarmt. Auch habe ich freilich viel verloren; denn was ersetzt die Lebensfreude, jeden Blick, jeden Ton, der aus einer solchen Seele kommt, täglich und stündlich einzuathmen! Ich will nicht von ihm sprechen; er hat es nie geduldet, daß ich ihn ins Gesicht lobte, und sehen Sie, so närrisch ist man, ich würde fürchten, daß die arme Hülle da zu erröthen anfinge. Später – hinter seinem Rücken – denn von ihm sprechen, wird der beste Trost sein. Im Uebrigen – glauben Sie wirklich, daß ich ihn nicht täglich und stündlich wiedersehen werde, auch ohne auf ein himmlisches Begegnen zu warten? Wenn ich das erst erwarten müßte, dann freilich stünde es schlimm um mein Zurückbleiben. Aber ich habe ihn ja, er kann mir ja nie entrissen werden; das Glück, einen solchen Menschen in Fleisch und Blut gekannt und geliebt zu haben, kann ja nie vergehen, wie eben Fleisch und Blut vergehen muß. Diese geistige Gemeinschaft ist ja das einzig wahrhaft Lebendige, das einzig Ewige, und so pflanzt es sich in tausend Verwandlungen fort, ein unauslöschliches Flammenmeer, auch wenn das einzelne Hirn und Herz, das eine Weile den Brand mitgenährt hat, verglüht. Es mag zu Asche werden, wenn es seine Feuerkraft nur in andere Geister ausgeströmt hat mit seinem kurzen Auflodern!

Er schwieg. Sie hatte mit stiller Rührung zugehört und kaum merklich den Kopf geschüttelt; aber sie unterdrückte jeden Widerspruch. Edwin war zu Lea getreten.

Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, sagte er, 250 ihre Hand drückend. Große Thränen traten ihr plötzlich in die Augen. Sie sprach aber kein Wort. Sehen Sie, wie schön er ist! fuhr Edwin leise fort. Ich weiß, auch Sie werden diese Züge nie vergessen, und darum freut es mich, daß Sie ihn noch sehen. Aber freilich, sein Lächeln wacht nicht mehr auf, und seine Augen – Liebes Fräulein, es greift Sie zu sehr an. Lassen Sie sich nach Hause führen – ich komme in diesen Tagen – Sie sollen sich schonen –

Er rief mit einem Blick den Vater herbei, der das heftig erschütterte Mädchen sanft bei der Hand faßte und sie hinausführte. Die Professorin umarmte Edwin mütterlich; dann folgte sie den Beiden. Es war wieder ganz still im Zimmer, und so saßen sie mehrere Stunden beisammen, bis Marquard kam und darauf drang, daß Edwin die Nacht bei ihm zubringen müsse. Morgen! erwiederte dieser. Heute laßt mir meinen Willen. Ihr alle geht, und ich bleibe. Seid versichert, es ist das Beste für mich; ich werde schlafen, und mein stiller Geselle wird mich nicht stören.

Marquard wollte zuerst nichts davon hören, es blieb aber dabei. So ließen sie ihn endlich mit dem Todten allein. Es war zehn Uhr, eine kalte, unholde Winternacht; der Wind trieb einzelne Schneeflocken in die offenen Fenster herein, und die Kerzen flackerten dann und wann, als ob sie erlöschen wollten. Edwin hatte sich in seinen Kleidern auf sein Bett geworfen und mit Balder's Mäntelchen zugedeckt. So lag er und hörte draußen den Wind und das Knistern der Kerzen und fern das Rollen der 251 Wagen in der belebten Stadt. Kein Schlaf erbarmte sich seiner Sinne, nur ein hastig wechselnder Traum, der ihm Scenen aus seiner frühesten Kindheit vorüberführte, dazwischen Toinette in einem leichten Wagen neben einem fremden Mann, kalt und traurig ihn anblickend, dann wieder Lea's sinniges Gesicht neben der Büste ihrer Mutter. Wenn er die Wimpern öffnete, um die Bilderflucht loszuwerden, sah er in die gelben runden Augen der Katze, die nicht von der Bahre weichen wollte. Das wurde ihm zuletzt unheimlich. Er stand auf, nahm das Thier auf den Arm und trug es nach der Thür, um es auf die Treppe hinauszuschicken. Als er aber öffnete, sah er eine Gestalt auf der Schwelle kauernd, die eben durchs Schlüsselloch gespäht zu haben schien.

Sie hier, Reginchen? rief er betroffen.

Das Mädchen hatte sich aufgerichtet und stand am ganzen Leibe zitternd wie eine ertappte Verbrecherin vor ihm.

Ach, Herr Doctor, stammelte sie endlich, seien Sie mir nicht böse. Ich habe nicht schlafen können, es schüttelte mich beständig, immer sah ich ihn, ich mochte die Augen zumachen, so viel ich wollte, und da – da zog es mich ordentlich – ich dachte, wenn ich ihn hier oben gesehen hätte – würde es besser werden – es würde mich in Ruhe lassen – und so bin ich heraufgeschlichen, durch das Schlüsselloch konnte ich gerade in sein Gesicht sehen – aber da ließ es mich nicht wieder weg. Wenn Sie nicht gekommen wären, ich glaube, ich hätte die ganze Nacht hier knieen und ihn ansehen müssen, bis ich umgefallen wäre.

Wollen Sie nicht hereinkommen, Kind? sagte er, 252 indem er ihre Hand faßte. Kommen Sie ohne Furcht näher. Ich will Ihnen eine Locke abschneiden von seinem Haar. Wollen Sie?

Nein, nein! wehrte sie heftig ab. Nicht hinein, nicht einen Schritt näher! Ich fürchte mich so vor ihm, ich fürchte, er schlägt die Augen auf und fragt – o Herr Edwin, Sie wissen nicht – lassen Sie mich gehen, – wenn ich etwas von seinem Haar anrührte, ließe es mich nie wieder los – und ich kann ja nichts dafür, daß ich ein armes dummes Ding war und ihn nicht verstanden habe! O mein Gott, mein Gott! es bricht mir das Herz!

Ein heftiges Schluchzen erstickte ihre Stimme. Als aber Edwin seinen Arm um ihre Schulter legte und ihr gütig zuredete, riß sie sich plötzlich von ihm los und glitt wie ein Pfeil die Treppe hinunter, daß er im Dunkel stehenbleibend noch lange dem wunderlichen Räthsel nachträumte, ehe er sich wieder auf sein kaltes Bett warf. 253



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